Über das Verschwinden von Kultur nicht nur im Geld- und Warenkrieg

Das Phänomen der „Gleichschaltung“ hat viele Gesichter. Was man aus Jan-Pieter Barbians Analysen zur „Literaturpolitik im NS-Staat“ heute lernen könnte.

Inter arma silent musae. Im Waffenlärm schweigen die Musen, verstummen die Künste. Und was schon Römer und Griechen wussten, scheint sich gegenwärtig unter den Bedingungen eines aggressiven Casino-Kapitalismus und seiner Geld- und Warenkriege immer neu zu bestätigen – global, national, regional, lokal.
Was zur Zeit im Ruhrgebiet auf kommunaler/regionaler Ebene an Kürzungen im Kultur- und Kunstbereich en gros und en détail bereits durchgeführt wurde oder in Vorbereitung/Planung ist, das ergäbe wohl eine eigene kleine Broschüre unter dem Titel „Kultur? Alles muss raus!“ und spottet doch jeder Beschreibung. Oft nur lokal diskutiert und regional unbemerkt wird sie scheibchenweise abgetragen, die kulturelle Infrastruktur längs der Ruhr.
Und zweifellos steht dies in einem engen globalen Zusammenhang mit asozialen Spekulations-Geschäften, Finanz-„Blasen“, Rekordgewinnen und „Bankenschirm“, deren groteske Kehrseite unübersehbar eine Aushöhlung staatlicher Haushalte auf allen Ebenen ist

Leere Kassen – hohle Köpfe?
Kulturpolitik ist angesichts der allgegenwärtigen Denkverbote rund um die „leeren Kassen“ an ihrem Ende angekommen und hat ganz versagt, wenn sie sich nicht selbst endlich neu alphabetisiert/politisiert und ihre neoliberalen Rahmenbedingungen reflektiert. Kulturabbau, Mängelverwaltung, Krisenmanagement bei gleichzeitiger Förderung der Event-Kultur, des internationalen Kunst-und-Kultur-Highlight-Wanderzirkus’ sind jedenfalls nichts weiter als ideenlos. Kulturpolitik muss begreifen, dass globalen ökonomischen Prozessen endlich globale Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, Freiheit und kulturelle Selbstbehauptung entsprechen müssen. Diese Bewegungen können auch über Kulturpolitik (nicht nur die der öffentlichen Hand) initiiert werden und man kann damit regional beginnen.

Geräuschlos kürzen – Kultur abwickeln
Dass solche Zusammenhänge auch im Ruhrgebiet lange bekannt sind, dass auch Kulturpolitiker hierzulande genau wissen, dass sie längst nicht mehr Kultur ermöglichen, sondern abwickeln sollen, bewiesen einst schon Äußerungen von Bochums Ex-Kulturdezernentin, Ute Canaris, die sie allerdings erst machte als ihre Kündigung feststand:
Ute Canaris, Theater heute, 8/9, 98:
„Ich bin mir immer vorgekommen wie der Belag auf einem Sandwich. Von beiden Seiten patschen sie auf einen ein. Die eine Sandwich-Seite ist die Politik, die sagt, du mußt für uns geräuschlos, weich die Kürzungen und andere unangenehme Dinge durchsetzen.“
Canaris damals weiter: „Wir sind an einem Punkt, wo ich mir vorstellen kann, daß es zu Entscheidungen in der Politik kommt, sich von Kultureinrichtungen zu trennen. (…) ich glaube nicht, daß sich an den knappen Kassen in den nächsten 10/15 Jahren fundamental etwas ändert.“

Primat der Ökonomie oder Ökonomie der Primaten?
Die Alternative wäre, heute wie damals, mit den Analysen Pierre Bourdieus zu antworten und das Primat der Ökonomie vor der Politik immer wieder zu befragen. Aber so viel Sachverstand und kritische Reflexion über die Zusammenhänge von Wirtschaft und (Kultur-)Politik ist unter den Kulturpolitikern des Ruhrgebietes nicht mehr zu finden. Bourdieu dagegen schrieb in „Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion“ wider die Lobby-Ökonomen auch als Kulturpharisäer: „Dieser Staatsadel, der den Rückzug des Staates und die ungeteilte Herrschaft des Marktes und des Konsumenten – dieses kommerziellen Bürger-Substituts – predigt, hat den Staat an sich gerissen, er hat aus dem öffentlichen Gut ein privates Gut gemacht und aus der öffentlichen Angelegenheit, der Republik, seine eigene Angelegenheit. Das, um was es heute geht, ist die Rückeroberung der Demokratie und ihr Sieg über die Technokratie. (Gegenfeuer, S. 35)

Abschalten, umschalten, ausschalten – „gleichschalten“?
Doch „gleichschalten“ als ausschalten, abschalten, umschalten – das gelingt nicht nur gegenwärtig und nicht allein dem großen Geld. Jede Gesellschaft, jede Zeit kennt andere Variationen, Formen und Intensitäten des Gleichschaltens. An vielen historischen Phänomenen wäre zu demonstrieren, wie vielfältig und unterschiedlich versucht wird, Denken und Sprache, Markt und Gesellschaft, Lebenspraxis und Träume zu kontrollieren.
Nicht zuletzt allerdings an der Kulturpolitik des NS-Staates.

Die Kunst aber ist zur Zeit weder absolut noch relativ erforderlich“
„Zu einer Zeit, als sich über dem kulturellen Leben in Deutschland der Vorhang senkte, gingen allein in der staatlichen Schrifttumsbürokratie noch mehr als 100 Angestellte ihren behördlichen Pflichten nach, führten die Dienststelle Rosenberg und die Prüfungskommission Bouhlers über die Partei-Kanzlei der NSDAP einen zähen Kampf um Kompetenzen und Mitarbeiterzahlen. Den ‚Kulturschaffenden’ hingegen wurde vom Leiter der Abteilung ‚Organisation’ in der Hauptgeschäftsführung der Reichskulturkammer im Oktober 1944 lapidar mitgeteilt: ‚ Die Kunst aber ist zur Zeit weder absolut noch relativ erforderlich. Im augenblicklichen Stand des Krieges gibt es deshalb für den deutschen Künstler keine andere Verpflichtung, als unmittelbar mitzuwirken an der Erreichung des Endsieges, und zwar als Soldat oder aber als Helfer für die Wehrhaftmachung, für die Wehrhafthaltung unseres Reiches’.“
Diese Sätze zitierte gestern Dr. Jan-Pieter Barbian, der Leiter der Duisburger Stadtbibliothek, in seinem Vortrag „Gleichschaltung  – ein gescheitertes Experiment. Zur Bedeutung des Buches für die NS-Mediendiktatur“ an der Katholischen Akademie ‚Die Wolfsburg’ in Mülheim.
Neben den vielen Aspekten der von Barbian erläuterten Gleichschaltungsversuche durch die Nationalsozialisten diskutierte er mit dem Publikum des Abends auch Fragen wie diese:
Wie konnten die Nazis nach der „Machtergreifung“ (eine Vokabel der Sprache des Dritten Reiches wie auch „Überfremdung“), wie konnten die Nazis so rigoros und in vieler Hinsicht erfolgreich die Etablierung ihrer Organisationsstrukturen, ihrer kulturpolitischen Leitvorstellungen, ihre Zensur sowie die Steuerung aller Felder des Literaturbetriebs durchsetzen?

Wohl auch deshalb, weil der etwa von Joachim Fest vorgetragene Mythos, das (Bildungs-)Bürgertum sei weitgehend resistent gewesen gegen die Ideologie des NS-Staates, kaum der historischen Wahrheit entsprechen dürfte

„Selbstnazifizierung“
Das Bürgertum hat den Nazis in vielerlei Hinsicht zugearbeitet, Barbian sprach in diesem Zusammenhang auch von einer „Selbstnazifizierung der Gebildeten“ und der „Emotionalisierung der Gebildeten beim ‚Aufbruch’“, die auch aus einer tief verwurzelten Abneigung gegen die (literarische) Moderne herrührten.
Die Bücherverbrennungen 1933 z.B. wurden eben nicht – wie oft unterstellt – von Goebbels initiiert, sondern von der Deutschen Studentenschaft, durchaus auch in einer Allianz aus jungen und älteren Akademikern.
Der Nationalsozialismus war in die Sphäre der Bildungsbürger „nicht als fremde Macht“ eingebrochen, vielmehr arbeitete ihm „das Gros des Bildungsbürgertums (…) mit seinen Wünschen nach Reinigung der deutschen Kunst und nach einer autoritären politischen Ordnung entgegen“.
Dass sich dies auch organisatorisch vollzog, dass sich Schriftstellerverbände, Bibliothekare, Verleger manchmal in vorauseilendem Gehorsam, manchmal eingeschüchtert, den Nazi-Doktrin, vor allem auch jener der geplanten totalen „Entjudung“, unterwarfen, konnte Barbian über viele Einzelbeispiele, Dokumente und Biografien erhellen.
Etwa am „Reichsverband deutscher Schriftsteller“ (RDS): Den Nazis, die sich selbst als „Regierung der nationalen Erhebung“ verstanden, gelang es, in relativ kurzer Zeit, den RDS zu einer „Zwangsorganisation auszubauen, deren Mitgliedschaft in Zukunft entscheidend dafür sein wird, ob ein Schriftwerk in Deutschland verlegt werden kann oder nicht“. Eine der Funktionen, die später und vor allem dann die Reichsschrifttumskammer übernahm.

„Ein System kennt keine Ferien“ (Jean Paul)
Natürlich darf man keine kürzschlüssigen Vergleiche ziehen zwischen den Gleichschaltungsstrategien der NSDAP und ihres NS-Staates und der deutschen Gegenwartsgesellschaft. Aber zumindest lernen könnte man aus der Analyse des NS-Staates und ihrer Herrschaftstechniken. Und dann aufmerksam auf die Sprach und Denkmuster, die manipulierte veröffentlichte Meinung von heute schauen.
Man könnte lernen, wie das funktionierte und auch heute noch funktioniert: das Wachsen von Kunst- und Kulturverachtung, von Intellektuellenfeindlichkeit, die Manipulation von Menschen über Sprache und Bilder, die Selbstzensur als ganz eigene „Schere im Kopf“.
Der NS-Staat jedenfalls überließ all dies nicht dem Zufall. Goebbels hat früh davon geträumt, „die Masse (zu) meistern“.

„Das Geheimnis der Propaganda“: „Die Masse meistern“ über „geistige Vereinheitlichung“
Dazu etwas O-Ton des gescheiterten Schriftstellers und promovierten Germanisten Goebbels, geboren in Rheydt (heute Mönchengladbach):
„Das ist das Geheimnis der Propaganda: den, den die Propaganda fassen will, ganz mit den Ideen der Propaganda zu durchtränken, ohne daß er überhaupt merkt, daß er durchtränkt wird. … Wenn die anderen Armeen organisieren und Heere aufstellen, dann wollen wir das Heer der öffentlichen Meinung mobilisieren, das Heer der geistigen Vereinheitlichung, dann sind wir wirklich die Weichensteller der Zeit.“
Die „Kunst der Propaganda“ sei es, so Goebbels weiter, „sich jeweilig auf den neuen Zustand einzustellen und keine Volksführung vom grünen Tisch aus zu betreiben. Die Propaganda ist kein Dogma, sondern eine Kunst der Elastizität.“

Und warum ist das wichtig?
Weil, so Goebbels, „ … der Nationalsozialismus als Träger der Revolution (…) planmäßig alle Kreise des Geistes, der Wissenschaft und Kunst an sich heranzuziehen bestrebt sei, um sie in ein unmittelbares, nicht mehr zu lösendes Verhältnis zum Staat zu bringen“.

Warum nur, wenn man bestimmte Vokabeln austauschte, kommt einem das so verdammt bekannt vor? Aber auch das ist ja schon gesagt: “Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.”

Pierre Bourdieu: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH, Konstanz 1998
Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 2010

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gunwalt
13 Jahre zuvor

Vielen Dank für den Artikel. Auch wenn ich mich mit den Blicken und Vergleichen in die Vergangenheit immer etwas schwer tue, systemisch ist es natürlich richtig und folgt gleichen Gesetzmäßigkeiten.

Heisst für für mich als Kulturmensch, das ich Dinge in Eigenregie mache oder das ich es zumindestens versuche, vgl. mein Buch über die Ruhr 2010 „Hömma Kunst“ (www.gunwalt.de/blog/2010/12/hoemma-kunst/). Gerade habe ich ein weiteres Projekt mit dem Titel „Stadtlandschaft 903“ (www.Stadtlandschaft903.de) gestartet. Vielleicht ist der Ansatz Crowdfunding angesichts des „Primat der Ökonomie“ ein zeitgemässer Ansatz, der noch zu wenig beachtet wird. Man wird sehen.

Problematisch wird es natürlich wenn ich über mich als Künstler hinweggschaue und auf große Kultuinstituationen schaue. Da ist wahrscheinlich dieser Ansatz zum Scheitern verurteilt, denn hier heisst das Zauberwort auch Planungssicherheit, womit wir wieder beim „Primat der Ökonomie“ sind. Aber war nicht auch klar, das nach der Grelle der Kulturhauptstadt es wieder dunkel wird … und damit bin ich im Artikel und Buch.

allemachtdendrähten
allemachtdendrähten
13 Jahre zuvor

Kultur gerade im Ruhrgebiet, heißt bei den etablierten Parteien in Gelsenkirchen, zuallererst die Erhaltung und Subventionierung der Kulturtempel in jeweils der eigenen Stadt. Das gilt es zuallererst aufzubrechen und auch heilige Kühe zu schlachten. Allerdings als wir in Gelsenkirchen beim diesjährigen Haushalt den Antrag stellten, zumindest eine Kuh zu schlachten und von den 16 Millionen Zuschuss für das MIR, 8% abzuknapsen und damit die freie Kultur in Gelsenkirchen zu unterstützen, gab es von SPD, CDU,Grünen,AUF(MLPD)und FDP nur Hohn und Spott. Mit den aberwitzigsten Begründungen wurde der Antrag abgeschmettert und somit festgeschrieben, das der Fraktionsvorsitzende der Gelsenkirchener SPD oder CDU oder , wenn er denn mal ins Theater geht, seine Karte, die er sicherlich selbst bezahlen könnte, nun auch in diesem Jahr mit ca. 200 Euro subventioniert bekommt. Freie Initiativen, Kulturvereine und Einzelpersonen bekommen auf Antrag einen Zuschuss zu ihrem jährlichen Etat in Höhe von 530 Euro. Damit lässt sich sicherlich viel Kultur in Gelsenkirchen machen.

Mir
Mir
13 Jahre zuvor

Zum Blick in die Vergangenheit: Es ist die deutsche Nachkriegsgesellschaft mit einschließlich ihrer kulturellen Institutionen zu verdanken das heute Fakt ist: Bis 2015 müssen Nutzungsrechte und das Urheberrecht von Goebels beachtet werden. Das heißt wer etwas von diesem Mensch veröffentlichen will (Gedichte, Aufzeichnungen) muß Geld an die Rechteinhaber bezahlen. Und was ist mit der Autorin Anne Frank? Was für eine verrückte Kulturgesellschaft.

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

@Gerd Herholz,

Nicht nur die Nazis, auch andere Diktaturen haben das Wissen reglementiert.
zum Beispiel China: „Bis auf zehn, von Jiang Qing persönlich ausgelesenen Opern, wurde die Aufführung von Opern im ganzen Land verboten“ (Wikipedia)
Denk mal an das Mittelalter! Da war fast alles vom Denkverbot betroffen.
Aber:
Jede Einschränkung hat ihre eigene Bedingungen!
Wenn hier der Markt entscheidet, was sich gut verkaufen läßt, dann macht diese Regel mit der Kultur keine Ausnahme. Ich sehe da keinen gezielten Willen, wie er bei den Nazis als treibende Kraft deutlich sichtbar war.
Hier, bei uns, in unserer Zeit, wird selbst bei staatlich finanzierten Medien gefragt, ob ein Bericht, eine Sendung, auch von möglichst vielen Leuten gesehen wird.
Das ist der Punkt.
Dadurch verblöden alle, die sich nicht diesem Einheitsbrei verweigern.
Wer sich erst einmal an 2-Sekunden Bildschnitte gewöhnt hat, dem sind längere Szenen dann zu schwierig. Loriot hat aufgehört, als von ihm verlangt wurde, seine Sketche kürzer zu fassen. Sein Witz kommt aber in kurzen Szenen nicht zur Geltung.
Weil keine große Wählerschichten betroffen reagieren, glauben Politiker, natürlich ungestraft, an der Kultur sparen zu können. Das sollten sie aber nicht denken dürfen.
Sich dagegen zur Wehr zu setzen, ist absolut notwendig, weil dieser Trend zur Monokultur, der schon bei der Landwirtschaft gefährlich ist, bei der Kultur noch verheerendere Auswirkungen hat. Das muß man laut und heftig diskutieren.
Aber doch nicht mit einem Vergleich mit den Nazis.
Das marktwirtschaftliche Denken darf nicht in die Kultur hineinspielen!
Da muß man gezielt drauf reagieren.
Und noch eins:
Wenn es viele andere historische Bezugsmöglichkeiten gibt, ist ein Bezug nur auf die Nazis selbst eine Form von kultureller Verarmung.

Arnold Voß
Arnold Voß
13 Jahre zuvor

Das schwierige an dieser Diskussion ist doch, dass z.B. die Nazis ihre rigorose Kultur bzw. Antikulturpolitik nur über die Eroberung des Staatsapparates durchsetzen konnten. Diktatur und Staat haben so eine Einheit gebildet, die in der Lage war viel größeren Druck auf die Kulturschaffenden auszuüben als es die Privatwirtschaft bzw. der Markt je könnte.

Das gleich kann jedoch, wenn auch nicht in der Rigorosität und Gewalttätigkeit einer Diktatur, auch passieren wenn eine Partei über lange Zeite per demokratischer Wahl die absolute Mehrheit erhält, wie z.B. in bestimmten Regionen und Ländern des Nachkriegsdeutschland. Siehe Bayern oder das Ruhrgebiet. Auch dann haben in diesen politischen Machtbereichen bestimmte Kulturschaffende strukturell keine Chance auf Förderung.

Staatliche Kulturpolitik ist also einerseit Unabhängigkeitsgarant, in dem sie Kulturschaffende nicht den Gesetzten des Marktes ausssetzt, andererseits kann sie aber auch das Gegenteil sein, wenn die Politik sich rigoros ihrer bemächtigt und nur ihr eigenes Klientel bzw. die Kulturschaffenden fördert, die in ihr Werte-Programm passen.

Konkret heißt das, dass sowohl private als auch öffentliche Förderung jeweils Abhängigkeit oder auch Unabhängigkeit bedeuten können. Mir scheint die Art der Förderung also entscheidender als die Frage ob sie öffentlicher oder privater Natur ist. Wobei natürlich bestimmte kulturelle Institutionen mit regelmäßigen und hohem Geldbedarf ihre unabdingbare Planungssicherheit eher durch den Staat als durch private gewährleistet bekommen.

Andreas Lichte
13 Jahre zuvor

@ Gerd Herholz

mir ist nicht klar, was für dich „Kultur“ ist. Könntest du das bitte knapp erläutern?

Ich habe den Eindruck, dass „Kultur“ für dich gleichbedeutend mit „Hochkultur“ ist. Für mich nicht:

Für mich ist die Welt, in der ich lebe, „Kultur“: ich kann mich auch an einer Verpackung aus dem Supermarkt freuen … zum Glück bin ich damit nicht allein:

https://www.oberlin.edu/amam/Warhol_BrilloBoxes.htm

Andy Warhol, Brillo Boxes, 1970

„(…) Warhol’s work of the early 1960s consciously destabilized the distinct domains of high culture and commercial art. (…)“

Andreas Lichte
13 Jahre zuvor

@ Gerd Herholz

Wenn es darum geht, die aktuelle „Kultur“ zu beschreiben, leuchtet mir deine Bezugnahme auf den Nationalsozialismus nicht ein.

„Kultur“ im Nationalsozialismus, das ist für mich:

– rigide Verbote, z.B.: mein Lieblingsbuch „Das Kunstseidene Mädchen“, verboten als „Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz“; Verbot von „Negermusik“; usw.

– eine klare Vorgabe der Herrschenden, was „gute Kultur“ ist, z.B. durch entsprechenden Ausstellungen; die planmässige Gestaltung des öffentlichen Raumes; Schule; usw.– ein staatlicher Eingriff in ALLE Bereiche des („Kultur“-) Lebens

– mehr Ideologie als Ökonomie

Unsere heutige „Kultur“ scheint mir im Gegensatz zur Nazidiktatur dadurch geprägt:

– alles ist erlaubt: es ist kaum noch möglich, Tabus zu brechen, zu provozieren (es sei denn, durch die Verherrlichung eben des Faschismus, siehe von Trier in Cannes)

– die Protest- und Jugendkultur wird vollständig in die bürgerliche („Kultur“-) Welt integriert: z.B. Flower-Power, oder Punk …:

– alles wird „zu Geld gemacht“: Ökonomie statt Ideologie

Theo Jörgensmann
13 Jahre zuvor

Lieber Gerd, eine brilliante Analyse. Die Dinge kehren in abgewandelter Form immer wieder zurück. Das ist der Rhythmus des Lebens. Vielleicht ist der Vergleich mit der Nazizeit etwas unglücklich gewählt. Mich erinnert die heutige Situation der Kulturzene eher an die 1950er Jahre. Gleichförmige, belanglose Kulturfreuden dominierten damals die Gesellschaft. Ein für heutige Zeit harmloser Film wie „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef löste schon einen Skandal aus, und es gab den von der CDU postulierten Slogan „Keine Experimente“, der mit Eifer ins Land getragen wurde.. Was dazu geführt hat, dass sich eine Gegenbewegung konstituierte, die dann in den experimentellen 1970er Jahren zum Ausdruck kam. So wird es wieder kommen. Ich bin da ganz optimistisch. Also freuen wir uns darauf.

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

@Gerd Herholz (7),
das ist ein langes, schwieriges Thema.
Vorab eine Kurzantwort, später mehr.
Heute müssen wir Antworten finden, die zu unseren heutigen Problemen passen.
Weder Zitate von früheren Koryphäen noch Bezüge auf Verbrecher früherer Zeiten helfen uns da weiter.
Wir haben Probleme zu lösen, die früher nicht mal zu Albträumen geführt haben.
Die Welt reagiert dialektisch. Und das einzige Axiom der Dialektik, an das ich glaube, sagt in etwa aus, daß die Antworten von früher, obwohl sie früher richtig waren, heute falsch sein könnten. Da muß man vorsichtig sein, denn die Welt, unsere Umgebung, hat sich durch unser Handeln verändert. Wenn die Bedingungen, die uns umgeben, sich aber verändert haben, wie können da die alten Antworten passen?
Das Thema ist zu groß für einen Abend. Aber ich will Dir und allen Interessierten zeigen, wie ich denke, daß Fragen geklärt werden sollten.
Die Antworten aus der Vergangenheit sind fast immer falsch. Wir müssen selber unsere Fragen lösen.
In allen Bibliotheken ist die Zahl der Bücher über die 12 Jahre der NS-Zeit bis zu 100 -mal höher, als über den lächerlichen Rest von 1 Million Jahre Geschichte und Vorgeschichte! Aber da kommt noch mehr dazu.
Denn eigentlich ist zwar schon alles dazu gesagt, aber noch lange nicht von von allen. (Zitat frei nach Karl Valentin)
Kurz und gut, ich suche keine Analogien, sondern ich versuche erstmal Zusammenhänge zu verstehen. dafür ist aber die auseinandesetzung mit einer einzigen, sogar kurzen, verbrecherischen Zeit voller verblenderischem Haß, keine ausreichende Basis.
Arnold Voß ist ja auch darauf eingegangen daß heute die Vermarktung die große Rolle spielt, daß es heute eben nicht diese staatliche Willkür gegenüber der Kultur gibt, wie sie zur Zeit der Nazis deshalb möglich war, weil die die Macht dazu hatten diese Willkür umzusetzen und auch dazu mißbrauchten.
Das ist meine Aussage: Es ist die Konsequenz der Vermarktung, daß die Kultur den Bach herunter geht. Diese Vermarktung hat lange Zeit gewirkt. Heute haben wir nicht mehr die große Zahl der gebildeten Mittelschichtler, die in der Lage wäre,
als „Kulturlobby“ Einfluß im gewünschten Maße zu nehmen. Das hat sich geändert.
Darum haben Politiker auch keine Angst, an der Kultur den Rotstift anzusetzen, und darum tun sie es auch genau dort, obwohl dort eigentlich kaum noch was zu holen ist.
Gegen diesen Rotstift in diesem Bereich müssen wir uns wehren.
Wehren kann man sich aber nur, wenn man die Akzente richtig benennt.
Man muß Mehrheiten schaffen.
Lieber Gerd, wir liegen, was die Sorge um die Erhaltung der Kultur betrifft, auf der gleichen Linie. Und da Du zu meinen Lieblingsautoren, hier im Bloq, gehörst, habe ich auch immer Sorge, zu hart zu diskutieren. Aber Du argumentierst, aus meiner Sicht, politisch falsch.
Wenn wir aber das richtige politische Konzept finden, nach der die Politiker gezwungen werden, der Kultur den Stellenwert zu geben, den sie verdient,
könnten wir einen außerordentlich wichtigen Kampf gewinnen.
Dazu müßten aber Menschen vieler unterschiedlicher Positionen, an einem gemeinsamen Punkt den Hebel ansetzen.

Andreas Lichte
13 Jahre zuvor

@ Gerd Herholz

du schreibst: „Schauen Sie doch einmal in Ihren Bücherschrank. Stehen da zufällig Bücher, Gedicht-Anthologien von Benno von Wiese? Z.B. Echtermeyer/von Wieses “Deutsche Gedichte”? Sehen Sie.“

Ich sehe gar nichts. Da steht nämlich nichts. Und bei „Deutsche Gedichte“ fällt mir das ein – mein persönlicher Exportschlager nach China:

https://www.ruhrbarone.de/„die-menschen-geben-um-jeden-preis-fur-die-liebe-auf“/

„Die Menschen geben um jeden Preis für die Liebe auf“

Ein Chinesisch-Deutsches Literaturquiz von unserer Gastautorin Xinying

trackback

[…] als Titelsong für eine Kapitalismus-Show. Eine musikalische Antwort auf Gerd Herholz’ Artikel „Über das Verschwinden von Kultur nicht nur im Geld- und Warenkrieg“. Von unserem Gastautor Andreas […]

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

#18 Gerd,
wir können das, was zwischen uns in dieser Diskussion strittig ist, nicht „auf die Schnelle“ klären, weil ich, um meine Position zu präzisieren etwas Zeit benötige, die ich aber nicht in dieser Woche finde.
Aber, wenn ich formuliere: “Die Antworten aus der Vergangenheit sind fast immer falsch. Wir müssen selber unsere Fragen lösen”, meine ich nicht, daß das Studium von Geschichte, Philosophie, und meinetwegen auch Literatur, was immer das auch ist, unwichtig, oder sogar sinnlos sein würden.
Das Gegenteil ist der Fall. Ohne Kenntnisse in diesen Bereichen wären wir hilflos, könnten kaum Verdacht schöpfen, oder gar ein Urteil fällen.
Außerdem diskutieren wir doch gerade einvernehmlich, daß „Kultur“ höher bewertet werden muß.
Wenn ich so denken würde, wie Du mich verstanden hast, dann müßte ich mich doch nicht um dieses Thema kümmern.
Wie will ich verstanden werden?
Der strittige Satz selbst bleibt ja so stehen, wie er steht.
Ein letzter Versuch einer „kurzen“ Erklärung.
Wir können unsere Fragen nur lösen, wenn wir die Erfahrungen, die die Menschheit gemacht hat, berücksichtigen. Aber wir können nicht unmittelbar in Büchern die Antworten für unsere heutigen Fragestellungen finden.
Nur mittelbar. Aber nicht unmittelbar, wie es die vorgeben, die gerne sagen, daß es Marx, Konfuzius, Jesus, Aristoteles, Galen, Klausewitz, oder sonstwer gesagt hätte.
Im Fall von Jesus hat bereits Paulus das Problem gelöst, daß das Himmelreich nicht unmittelbar gekommen ist. Seine Problemlösung war: Es ist nahe, es kommt bald. Das gilt etlichen bis heute.
Galen hat nichts von den Krankheiten gewußt, die uns heute plagen. Clausewitz hat nichts von Atombomben gewußt. Thomas A. Edison ist zwar in den Shintohimmel aufgenommen worden, wie ich gelesen habe, aber er sagt uns von dort nichts. Leider!
Ich will die Beispiele jetzt nicht übermäßig auswalzen.
Darum zum Abschluß: Wir müssen unsere Antworten selber finden. Ohne Kenntnis der Vergangenheit geht das nicht, aber wir kriegen von dort keine unmittelbare Antwort. Und wenn einer glaubt, daß er von dort eine Antwort kriegt, werde ich mißtrauisch. Die meisten verstehen unter Geschichte sowieso eine viel zu kurze Zeitspanne. Wenn man nur diese 12 Jahre analysiert, die vielen Jahrtausende geschriebener Geschichte, nicht kennt, ( die ungeschriebene, die Vorgeschichte dann sowieso nicht), dem entgeht außerdem noch einiges.

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

#20 Gerd,
„(So was schüttel ich gelegentlich aus den Ärmeln meines ärmelllosen Hemdes.“

Klasse! Angeboren, oder erlernte Eigenschaft?
Wenn ich das doch auch könnte.
Ach, ach, ach.

Stefan Wehmeier
13 Jahre zuvor

Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.

(Lutherbibel 1984 / Genesis 2,15-17)

Wer nicht weiß, was Gerechtigkeit ist, darf auch nicht wissen, was Ungerechtigkeit ist, um eine Existenz in „dieser Welt“ (zivilisatorisches Mittelalter) ertragen zu können. Zu diesem Zweck gibt es die Religion, die so erfolgreich war, dass sie die systemische Ungerechtigkeit der Erbsünde bis heute aus dem allgemeinen Bewusstsein der halbwegs zivilisierten Menschheit ausblenden konnte, während das Wissen seit langer Zeit zur Verfügung steht, um diese „Mutter aller Zivilisationsprobleme“ endgültig zu eliminieren.

Bis heute ist unsere „moderne Zivilisation“ auf der Religion aufgebaut, und mit einem hatte Karl Marx Recht, auch wenn er als Ökonom keine Leuchte war: Die Religion ist das „Opium des Volkes“. Doch der „Unglaube“ ist gegenüber dieser schlimmsten aller Drogen wirkungslos, weil Gott existiert – als Programm in Ihrem Unterbewusstsein. Die Bewusstwerdung der Programmierung nennt sich „Auferstehung“.

Der Herr sagte: Ihr habt alle Dinge verstanden, die ich euch gesagt habe, und ihr habt sie im Glauben angenommen. Wenn ihr sie erkannt habt, dann sind sie die Eurigen. Wenn nicht, dann sind sie nicht die Eurigen. (nicht in der Bibel zu finden)

Herzlich Willkommen im 21. Jahrhundert:

https://www.deweles.de/willkommen.html

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