Über die Bürde der Literatur

"Die Bergwerkarbeit im Stollen der Geschichte brauchen wir, nicht Belletristik", findet Autor Enno Stahl. Foto: Kirsten Adamek

Wer über die Zeit des Nationalsozialismus spricht, dem hört man zu? Im Anschluss an die Lesung und Diskussion mit Enno Stahl und Carsten Marc Pfeffer kam es zu Irritationen. Unter dem Titel „Heimat & Weltall“ trafen sich die beiden Autoren auf Einladung der Literarischen Gesellschaft Bochum im Rottstr5-Theater. Ein Besucher der Lesung und der Autor Enno Stahl empfanden die von Stahl geäußerten Sachverhalte als unzutreffend und missverständlich im Artikel zur Lesung wiedergegeben. Daher erhielt Enno Stahl die Möglichkeit, noch einmal dezidiert zu den strittigen Fragen Stellung zu nehmen.  Herausgekommen ist ein Interview mit durchaus streitbaren Thesen.

Weshalb haben Sie mit dem Schreiben begonnen?

Weil ich musste.

Was ist Ihre größte Motivation auch nach Jahren noch immer als Autor tätig zu sein?

Dass ich muss. Und zwar der guten, alten Aufklärung wegen.

Wie würden Sie Ihre literarische Arbeit beschreiben? Wie gehen Sie vor?

Oft ist da nur ein guter Titel. Und ein übergreifendes Erkenntnisinteresse: Medien, soziale Herkunft, urbanes Leben. Dann schält in Bildern und Sequenzen eine Geschichte heraus. Diese versuche ich, durch Material und Quellenrecherchen zu untermauern, d.h. ich versuche damit, Bereiche zu verstehen und darzustellen, die ich nicht aus eigner Anschauung kenne, um die Sache möglichst realistisch und plausibel zu gestalten. Als Letztes kristallisieren sich über zahlreiche Überarbeitungsprozesse Stil und Form des Buches heraus: die Perspektive, die Erzählweise, der Ton. Jedes meiner Bücher verlangt einen eigenen, einen anderen Ton. Deshalb wirken sie bisweilen recht unterschiedlich.

Geht es Ihnen beim Schreiben auch darum, alte literarische Formen aufzubrechen? Wenn ja, welche und inwiefern?

Das vordergründige Aufbrechen tradierter Formen bestimmte die erste Phase meiner Arbeit, so war ich, denke ich, einer der ersten deutschen Spoken-Word-Autoren, das heißt, versuchte, das Medium Lesung weg zu bringen von dieser Wasserglas-und-Blumenstrauß-Ästhetik, vielmehr Intensitäten zu erzeugen, Bewegung und körperliche Action auf der Bühne, wie wir das in den Achtziger Jahren von den Independent-Bands kannten. Auch speiste ich Kunst- und Performance-Elemente ein, zelebrierte LAUT!gedichte mit verzerrter Gitarre oder Schrott-Drums. In meinen Texten, insbesondere den Erzählungen des Bandes „Trash me!“ provozierte ich den Betrieb, indem ich das Ideal hehrer Dichtung decouvrierte, nurmehr das Alltäglichste zum Material meiner Literatur machte (der Lektor eine der größten deutschen Verlage, heute dessen Leiter, sagte: „Das ist gegen den Betrieb geschrieben!“, wurde also verstanden). Gleichzeitig aber „experimentierte“ ich – in der (Anti-)Tradition der Wiener Gruppe – mit fragmenthaften Formen („Die Affenmaschine“, 1988; „Firenze Geometrica“, 1989; „Entropics 1990“, 1991) oder mit parallelen Handlungsschienen („piratebrut!, 1994; „Stete Geburten, Novelle“, 1994). Später, als auch solche Formen der Aufbrüche allzu beliebig wurden, weil fast jeder so was machte, selbst das Establishment, kam ich zu konzentrierteren Erzählformen. Auch deshalb, weil mir klar wurde, dass auf dem „Avantgarde“-Sektor kein freies Gelände mehr zu finden ist: Hinter dem Nullpunkt der Literatur ist eben tatsächlich – nichts.

Auch die Trash-Literatur konnte ich in der Form nicht mehr weiterführen, da sie soziale Bilder nur wiedergibt, nicht aber interpretiert, daher keine wirklich kritische Kraft besitzt. Heute sind meine Stil- und Formbrüche weniger zu spüren, sie finden sich aber in „2PAC AMRU HECTOR“ (2004) in der Ebenen- und Materialmontage, in „Diese Seelen“ (2008) in der untergründigen Verästelung der Geschichten. Das nächste Buch wird ein innerer Monolog, aber nicht wie bei „Molly Bloom“ in der kurzen Zeit vorm Einschlafen, sondern als Mittel zur Wiedergabe eines Plots. Darauf wird wieder ein stark konstruierter, mit viel Originalmaterial montierter Roman folgen.

Auf Markus Tillmanns Frage, ob Literatur aufrütteln kann, sagten Sie, die Vorstellung, dass Literatur aufrütteln kann, sei Ihnen egal. Was haben Sie damit ausdrücken wollen?

Diese Frage wurde immer wieder an Literatur gestellt. Mittlerweile haben wir aber gemerkt, dass die Zeiten, in denen Literatur Revolutionen auslösen konnte wie bei Rousseau und Voltaire, längst vorbei sind. Heute ist Literatur eine im kapitalistischen Verwertungssystem vollkommen integrierte Kulturtechnik. Wie der Film wird sie von ihrem Publikum nicht mehr als etwas Sublimes wahrgenommen, etwas, das in der Lage wäre, die Welt wirklich aus der Distanz kritisch zu betrachten, sondern als Unterhaltung. Wahr und richtig daran ist, dass man der Literatur zu viel aufbürdet, wenn man von ihr verlangt, aufzurütteln in einer Welt von Snuff-Videos, Beschneidung, Elendsflüchtlingen und Massenmord, Bilder und Fakten, die schon für sich Aufstände erzeugen müssten.

Die Folgenlosigkeit der Literatur ist nun so oft festgestellt worden, dass mir die Frage danach einfach schon egal ist. Sie impliziert die Frage, ob ich das mache, was ich mache, um aufzurütteln. Da das aufgrund der genannten Umstände kaum möglich sein kann, beschäftige ich mich damit nicht, sondern mache das, was ich tun muss, weil ich es als meine soziale und künstlerische Verpflichtung ansehe.

Wie ist Ihre Aussage, es sei „belästigend, dass die nachfolgenden Generationen immer noch nationalsozialistische Geschichten erzählen müssen“ zu verstehen?

Was haben sie damit zu tun? Die Autoren der jüngeren Generation, die über ihre Großeltern, Urgroßmütter, Urgroßonkel und Ururgroßtanten usw. schreiben, haben keine echte Kenntnis mehr von dieser Zeit, außer aus dem Fernsehen. Oft gehorcht die Themenwahl allein einem durchsichtigen Erfolgskalkül: Wer über die Nazizeit spricht, dem hört man zu. Sprechen sollten aber jene, die dazu berufen sind: Zeitzeugen oder Historiker, die über ein intensives Quellenstudium immer mehr und neue Details über das Schreckensregime zu Tage fördern. Ich selber arbeite an einem wissenschaftlichen Projekt, bei dem das literarische Leben der NS-Zeit rekonstruiert wird. Man kann nicht behaupten, dass alle kleinsten Rädchen, Stellschrauben und Funktionsmechanismen der Nazidiktatur bis ins Letzte bekannt wären. Die Bergwerkarbeit im Stollen der Geschichte brauchen wir, nicht Belletristik.

Die Ubiquität der literarischen Nazierzählungen verwässert das Thema. Ebenso wie im deutschen Film werden diese Stoffe zumeist an Einzelschicksalen, besonders ungewöhnlichen Ereignissen, Plots und Protagonisten (Rosenstraße, Aimée & Jaguar etc.) aufgezogen. Die tatsächlichen Nazigräuel lassen sich aber nur als Kollektivhorror erzählen (Schindlers Liste). Fällt diese bio-politische Dimension unter den Tisch, führt das eben nicht zur Aufwertung der Einzelschicksale, sondern zu einer Verharmlosung des Terrors. Hier gibt es natürlich Ausnahmen.

Noch mehr stört mich allerdings, dass die fortgesetzte Behandlung von NS-Themen, der ja politische Verantwortlichkeit automatisch zugemessen wird, den Blick auf die Gegenwart verschließt, die durchaus nicht ohne Grauen ist. Verglichen mit der Nazizeit leben wir aber tatsächlich in der besten aller Welten!

Wenn indes in monatelangen Verhandlungen darum gerungen wird, ob HARTZ-IV-Empfänger 5 Euro mehr im Monat kriegen dürfen oder nicht, wenn trotz vermeintlich steigender Beschäftigungszahlen die Diskrepanz zwischen Arm und Reich in Deutschland permanent steigt, so groß ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, wenn Leute für drei Euro sechzig die Stunde arbeiten, weil die Angst vor Arbeitslosigkeit, also vor sozialem Abstieg, der Würdelosigkeit, dem Ausschluss noch viel bedrängender ist als das Gefühl der Ausbeutung, wenn geistige und seelische Verwahrlosung zunehmend grassiert, eine verfehlte Ausländerpolitik zu unlösbaren Integrationsproblemen geführt hat, alles das, was die Berliner Funktionselite aus Politik, Showgeschäft und Sport mit mitleidiger Teilnahmslosigkeit zur Kenntnis nimmt oder in unzähligen Selbstdarstellungs-Talkshows leidenschaftlich diskutiert – in einer solchen Zeit frage ich mich doch, warum nachwachsende Autoren nicht darüber schreiben, über ihre Gegenwart, das, was sie kennen, was sie umgibt und was zu bekämpfen dringend erforderlich wäre.

Sie haben sich als „bekennender sozialer Realist“ bezeichnet. Was meinten Sie damit?

Sozialer Realismus ist ein Begriff, den ich in einigen Aufsätzen zu definieren versucht habe (Literatur in Zeiten der Umverteilung, 2005 – Sukultur-Leseheft oder Kurzfassung hier: http://ennostahl.de/t_essays.php?id=64, Der sozial-realistische Roman – Sukultur-Leseheft oder hier: http://ennostahl.de/t_essays.php?id=10).

Besser wäre vielleicht noch: Analytischer Realismus.

Wie gestaltet sich Ihrer Ansicht nach das Verhältnis von Literatur zu Politischem?

Das lässt sich so allgemein kaum beantworten. Jede Form von Literatur transportiert eine bestimmte Gesinnung, entweder bewusst oder unbewusst. Trivial- und Unterhaltungsliteratur, aber auch Vieles, was in den Kaderschmieden des deutschen Schrifttums Leipzig und Hildesheim zusammengeschrieben wird, enthält sich vordergründig jeder politischen Aussage, ist gerade darum zutiefst affirmativ, wirkt sich also durchaus politisch aus. Weite Teile der deutschen Gegenwartsliteratur müssen daher – meiner Ansicht nach – einer ideologiekritischen Analyse unterzogen oder anders gesagt: dekonstruiert werden. Doch auch das Gegenteil existiert: Literatur, die sich explizit jeder Politizität enthalten möchte, sich selbst für eher konservativ hält, kann außerordentlich politisch sein. Gutes Beispiel dafür Hans Henny Jahnn.

Ab wann ist für Sie Literatur als Kunstform auch politisch?

Besser wäre die Frage: Ab wann ist sie kritisch? Wenn sie ihre eigenen Voraussetzungen kennt und überprüft, den sozialen Standpunkt des eigenen Sprechens mit einbezieht, wenn sie die unmittelbare Realität mit all ihren sozialen und politischen Aporien in den Blick nimmt, mit den Mitteln der Literatur Missstände namhaft macht – das gilt, wie man leicht erkennt, für sehr viele Werke der Weltliteraturgeschichte von Grimmelshausen über Laurence Sterne, Heine, Stendhal, Flaubert, Zola, Cechov, selbst Joyce.

Ist politisches Engagement auch Aufgabe von Autoren?

Natürlich. Ob dieses Engagement allerdings darin besteht, sich einer Sitzblockade einzureihen oder das zu tun, was der Autor am besten kann: schreiben, muss jeder für sich selbst entscheiden. Das werte ich nicht, sondern halte beides für gut und legitim.

Wie halten Sie es selbst damit in Ihren Büchern? Wie viel Politisches steckt in Ihrer eigenen literarischen Arbeit?

Ich glaube, das habe ich ausreichend beantwortet. Zudem beantwortet es der Literaturbetrieb auf seine Weise: Schauen Sie sich einfach die Rezensionen an, auch bestimmte Nicht-Rezensionen sprechen da eine deutliche Sprache.

Welche Frage hätten Sie bei der Podiumsdiskussion im Anschluss an die Lesung gerne gestellt bekommen?

Da habe ich keine Präferenzen, sondern bin ganz offen für die Bedürfnisse und die kreative Neugier der Rezipienten.

Was war nach der Lesung und der Podiumsdiskussion Ihr persönliches Resümee des Abends?

Es war gut. Auch wenn von einer Podiumsdiskussion – aus Zeitmangel – keine Rede sein konnte. Es war ja nur ein Gespräch zwischen Autoren und Moderator. Tatsächlich hörte ich später, dass manch einer aus dem Publikum sehr gerne noch Fragen gestellt hätte.

Mit welchem Eindruck hätten Sie Ihre Zuhörer am liebsten auf den Weg nach Hause entlassen?

Unterhaltendes und Nützliches erfahren zu haben.

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