Die Entscheidung der SPD, das Ausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin zu beenden, beschäftigt die Partei länger als gedacht. Eine ganze Woche vorn in den bundesweiten Medien zu bleiben, wer oder was schafft das denn heutzutage?!
Gut, explodierte Atomkraftwerke oder ein eskalierender Krieg bringen es – großzügig geschätzt – auf einen Monat. Da ist gut eine Woche für das Verhältnis zwischen einem einzigen Mann und einer einzigen Partei so schlecht nicht. Schon insofern hat sich das Abblasen des Parteiausschlussverfahrens gelohnt. Für Sarrazin – und auch für die SPD. Also alles „Taktik“, wie Stefan Laurin schon vor drei Tagen vermutete, bzw. die Angst, „auch diese Wählerklientel, den klassischen, kleinen Mann`, zu verlieren.“ Oder einfach nur der Plan, gut eine Woche lang in die Zeitung zu kommen.
Möglicherweise ist die ganze Sache aber auch noch wesentlich komplizierter. Wäre es nicht denkbar, dass die Taktik der Parteizentrale darin besteht, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit darauf zu lenken, dass die SPD in einer zentralen gesellschaftspolitischen Frage zerstritten
ist? Sicher, innerparteilicher Zwist kommt bei den Wählern nicht so besonders gut an. So schlau sind die Genossen im Willy-Brandt-Haus auch. Deshalb dürften nach dieser Sarrazin-Nummer die Umfragewerte auch noch einmal um ein oder zwei Prozentpünktchen nach unten gehen. Doch darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Es ist wie beim Schach. Hier mal ein Bauernopfer, da mal eine ganz gerissene Finte. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Springer am Rand – Schrecken und Schand. Und doch setzt manchmal der Großmeister das Pferd an den Rand des Brettes und gewinnt die Weltmeisterschaft. Bezogen auf die deutsche Sozialdemokratie: bekanntlich will und will es mit den Umfragewerten nicht so richtig, und bei den Landtagswahlen war nach Hamburg auch schon wieder Essig. Aus dem Versuch, trotzdem einfach zu behaupten, man habe gewonnen, konnte nichts werden. Also: was jetzt?
Das Beste ist: eine nüchterne Analyse, warum die SPD bei den Wählern nicht mehr so richtig ankommt. Ein Grund, der halbwegs plausibel erscheinen muss, jedenfalls so plausibel, dass er von den Journalisten und Politologen „gefressen“ wird, damit sie ihn munter unters Volk streuen können. Für die SPD selbst wäre es freilich recht günstig, wenn es sich dabei um einen Grund handelte, der zumindest prinzipiell irgendwie abgestellt werden könnte. Und siehe da – wie erfreulich für die Partei, die Medien und die Parteienforscher! – es gibt ihn, diesen halbwegs plausiblen Grund. Diese einigermaßen einleuchtende, und deshalb von allen Seiten für tragfähig befundene Erklärung dafür, warum es mit der SPD nicht mehr so richtig will.
Sie lautet, hier einmal in schlichter Sprache formuliert: „Man weiß doch gar nicht mehr, wofür die SPD eigentlich steht!“ Dieses Grundmotiv lässt sich freilich in etliche Versionen variieren. Es wird unterstellt, die SPD sei auf den zentralen Politikfeldern innerlich gespalten. Vermutlich zwischen rechtem und linkem Parteiflügel, doch in die Details pflegen die Analytiker in aller Regel nicht zu gehen. Müssen sie auch nicht. Da die Begründung schon auf den ersten Blick als plausibel erscheint, ist es gar nicht erforderlich, das vorgetragene Argument im einzelnen zu belegen. Es ist nicht ganz klar, welche Positionen die SPD vertritt. Also wird sie nicht gewählt. Logisch. Fertig.
Diese Argumentation ist schon deswegen so eingängig, weil sie über die meiste Zeit des letzten Jahrzehnts durchaus getragen hatte. Erinnert sei hier nur an die Kontroverse um die „Agenda 2010“. Außerdem dürfte es niemals ein allzu großes Problem darstellen, in der (immer noch) relativ großen SPD irgendwelche Meinungsverschiedenheiten ausmachen zu können, so dass sich selbst, wenn nach einem Beleg für die „Zerstrittenheitsthese“ gefragt werden sollte, schon irgendetwas finden lassen dürfte. Damit kein Missverständnis entsteht: mir geht es hier nicht darum, schwärmerisch die Einheit meiner Partei zu preisen, wie es an und für sich einem Parteimanager gut zu Gesicht stünde.
Doch die Zeiten sind nicht so, in Ausnahmefällen muss selbst der Springer mal an den Rand. Ein flüchtiger Blick auf die politische Konkurrenz aller Parteifarben, ein kurzer Vergleich zu diversen früheren Zeiten dieser gern als „diskussionsfreudig“ bezeichneten Partei, und schon wird klar: worunter die SPD auch immer leiden mag, unüberbrückbare interne politische Gegensätze sind es nicht. Man mag die verschiedenen Politikfelder durchgehen. Man mag sich die komplizierten Richtungsfragen in der Union, bei den Grünen oder den Linken vor Augen halten: eine „Zerstrittenheitsthese“ in Bezug auf die SPD aufzustellen erscheint fast schon absurd.
Gegenwärtig gibt es für solch eine Lagebeurteilung jedoch keine Willy-Brandt-Ehrennadel. Denn wenn die Wahlergebnisse und Umfragewerte für die SPD nicht etwa deshalb so bescheiden sind, weil die Leute nicht wüssten, wofür die SPD steht, warum denn dann? Obwohl man weiß, wofür die SPD steht. Oder gar: weil man weiß, wofür die SPD steht. Man möchte gar nicht drüber nachdenken. Die Sozialdemokraten werden jedoch nicht drum herumkommen. Sie werden sich von der Illusion, der Vorsitzende brauche nur auf den Tisch zu hauen und anzuordnen, dass jetzt Einigkeit zu herrschen habe, und wenn dann alle brav folgten, werde die 30-Prozenz-Marke ruckzuck nach oben durchbrochen Richtung 40 Prozent, verabschieden müssen.
Dies wird ans Eingemachte gehen. Es wird den Genossen wehtun. Und man kann so etwas auch nicht gebrauchen – schon gar nicht in einem Wahljahr. Dann schon lieber – ausnahmsweise – einen Springer an den Rand. Einen Sarrazin, der mal so richtig rechtsaußen zur Sache geht. Das ist der Beweis: SPD innerlich zerstritten. Schließlich gibt es in fast jedem Ortsverein den einen oder die andere, die so etwas auch einmal gesagt haben wollten. Und oben noch ein paar feine Herren, die schon lange nicht mehr mitspielen, sondern seit Jahren das ganze Treiben vom rechten Rand aus beobachten. Das also ist der Beweis: die SPD kommt nicht mehr so richtig an, weil man nicht weiß, wofür sie steht.
Solch eine Diagnose erleichtert. Und sie stimmt ja auch. Der Patient ist erkältet. Leider kann man auch mit Erkältung Krebs haben. Oder konnte „vor Sarrazin“ das Volk seine Begeisterung für die SPD einfach nur nicht so richtig zeigen?
[…] Sarrazin II: Über die Probleme der SPD … ruhrbarone […]
Ich wünsche der SPD ganz ehrlich, dass sie die dringend notwendige Diskussion um die Ausrichtung der Partei endlich führen und auch durchhalten kann. Auch auf die Gefahr hin, dass es in den Medien wieder als „SPD zerstritten“ ausgeschlachtet wird. Und richtig, die Frage wofür die SPD steht, steht bei Wählern schon sehr viel länger im Raum. Sarrazins Verbleib ist da eine von vielen SPD-Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit, die Verärgerung hervorruft. Ja, es geht immer noch um die Agenda 2010, um die Rente mit 67 und Armutslöhne. Leider sieht sich die Parteiführung (mein Eindruck) nach wie vor nicht in der Lage aus dem Unmut ehemaliger SPD-Wähler und -mitglieder die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Bzw. will die vielleicht auch gar nicht ziehen. Gleichzeitig wird aber dann doch im Wahlkampf wieder auf „sozialdemokratisch gemacht“. Warum sollte der SPD das irgendjemand abnehmen ? Ohne eine (zwar angekündigte, aber bisher nicht erfolgte) glaubwürdige Aufarbeitung der Schröder-Ära wird die SPD auch weiterhin von den Wählern abgestraft werden.
Die SPD weiß nicht mehr, für WEN sie steht, ist in meinen Augen wohl treffender. Seitdem es den klassischen Arbeiter nicht mehr so richtig gibt, hat die Partei ein Problem und sucht die Mitte, die es so als adressierbare Gruppe nicht gibt, da 60% der Bevölkerung so heterogen nicht sind, wie es der Industriearbeiter einst schon eher war.
Dabei verlieren sie Generation für Generation all diejenigen, die in der neuen Dienstleistungsgesellschaft klarkommen müssen und sich aus Verwunderung über die Kapriolen der SPD anderen Parteien wie z.B. den Grünen zuwenden, weil das 19. Jahrhundert nun definitiv vorbei ist. Und das 20igste auch.