Über Berlins Safer Space: „Opferkunst“ von Jonathan Guggenberger

Jonathan Guggenberger, Foto: Cedric Blomberg

Optimalerweise liest man „Opferkunst“ mitten im Prenzelberg in einem Atemzug. Ehrlicherweise schreibe ich diese Rezension unweit der Paris Bar in einem Schwung. Nirgends woanders spielt sich die Nabel- und Pimmelschau der selbstgerechten Kulturszene Berlins authentischer als auf einer M8-Rundfahrt Richtung Soho Club House ungefragt ab. Der Umgang der Künstlerkaste im Vor und Danach zum 7. Oktober wird in der Novelle  in ihrer Widersprüchlichkeit und auch Widerlichkeit von Jonathan Guggenberger der Lächerlichkeit preisgegeben. Auf hohem Fördergipfel wird das Weltleid als Unterdrückte von privilegierten Hauptstädtern bejammert. Guggenbergers Debüt ist eine karikierende Grundsatzanalyse systemischer Selbstgefälligkeiten, ein Statut zur moralischen Selbst- und Fremdschau und ein kleiner Spaß für Eingeweihte.

„Deutsche Polizei knüppelt Journalisten. Über Düsseldorf hagelt es israelische Bomben – ein Erfahrungsbericht von Enzo Bamberger.“

Der Autor komponiert eine straffe Verdichtung mit autobiografischen Zügen über das en gros senatskanzleifinanzierte Kaschperle-Theater der Hauptstadt. Schnipp schnapp, das Krokodil hat Zähne. Julius von Bismarck gibt es wirklich. Einige andere Namen erscheinen in Guggenbergers erster Novelle, erschienen am 7. Oktober 2024 im Tiamat-Verlag, als Semiotisierung deklarativen Wissens über monomorphe Meinungsführer der Berliner Kulturszene. Dass sich dieser Dunstkreis selbstbewusst auch geopolitische Strategiekompetenzen jeglicher Art nur zu gern zuschreibt, bringt so manche Nervensägen unter dem Freifahrtschein des Deutschen Grundgesetzes hervor.

In Satz 1 fällt Palästina, auf Seite 2 folgen Kufiya und Holocaust, schon ist das Leitmotiv der Novelle gestrickt. Was für die einen recht kurzweilig daher kommt, wird für manch andere Leser eher an der Oberfläche einer Simpsons-Folge verweilen, weil die Tiefgründigkeit im Erstlingswerk des Berliner Autoren durch ein gewisses Maß an Insiderwissen im Wiedererkennungswert erst gewinnt.

„Kultur ist das Denklabor der Demokratie!“

Worum geht es in „Opferkunst“, einem Buch, das mit einem starken Kompositum zum Ullrich‘schen Oppositum arbeitet? Zusammen mit der hervorragenden Bildauswahl auf dem Cover von Ferdinand Dölberg, vertreten von Anton Janizewski, öffnet sich die erste Tür ins Handlungsgeschehen. Gleich zu Beginn wird der Tod von Aaron durch den Erzähler betrauert. Wie also „das Unaussprechliche in Worte fassen“, wird zur Kernfrage für den Autor, der verzweifelt nach Antworten sucht, an diesem einen Tod zugleich die Geschehnisse am und rund um den 7. Oktober zu fassen. Für die einen ein gefühlter Widerstand, für die anderen faktisch das schlimmste Pogrom an Juden seit der Shoah, all das wird in komplexen Zeitsprüngen von Jonathan Guggenberger übereinander geblendet.

„Berlin war wie ein Barockkönig, eine zu groß geratene narzisstische Putte, die wahlweise den eigenen Nabel oder den eigenen Pimmel bestaunte.“

Was davon stammt aus dem Hier und Jetzt? Wie viel ist fiktionales Sprachspiel? Wie bei jedem guten Buch gehört eine Liebesgeschichte dazu, erst mit Kat, die der Ich-Erzähler aus dem Studium an der Universität der Künste Berlin kennt, später in homoerotischer Co-Abhängigkeit zu Aaron. Der wiederum ist der Bruder von Kat. Guggenberger studierte in der Tat an der UdK, auch an der Hebrew University in Jerusalem.

Aaron stirbt nicht irgendwie, noch irgendwo. Aaron wählt im Clickbait-Zeitalter hoch ikonisch inszeniert als Hl. Sebastian den Freitod in Venedig. Dort, wo sich die zeitgenössische Kunst alle zwei Jahre auf der Biennale als älteste internationale Ausstellung den Pöppes pudert. Für den Erzähler, den kleinen deutschen Journalisten Lorenz und im Verlauf des Buches nur noch Enzo Bamberger genannt, geht es darum, das „Rätsel zu lösen, warum Aaron sterben musste – warum sein Opfertod Kunst war.“ Der Tod wird ein Manifest, was sonst.

In Kürze, nicht in Einfachheit spannt der Autor den Bogen zwischen Rahmen- und Binnenhandlung. Dafür greift Guggenberger mutmaßlich auf Szenen seiner eigenen Kindheit zurück, warum er als Sohn einer Lehrerin und eines zu früh verstorbenen Vaters die Dinge so sieht, wie er sie sieht, und warum es ihn genau jetzt antreibt, darüber schreiben und auch entdeckt werden zu wollen. Guggenberger, der selbst eine TikTok-Kolumne in der Freitag hat und als Freier für taz und Tagesspiegel tätig ist, fährt gewaltig den Kanon guter Bilder der Kunstgeschichte auf. Warum zur besseren Anschaulichkeit für Kats Aura auf den Erzähler aka Autor nicht auch noch Ingres Odaliske angeführt wird, bleibt ihm bei Liebermanns Leonbergern verziehen.

„To every conflict, there is a context.“

Als passable Kennerin, ob das Kunst ist oder weg kann, gleitet meine Leserichtung aus gesunder Distanz zu so manchem Galadinner-Geschehen im Verōnika hinüber. Sogar ich bleibe stellenweise im Ungefähren, ob ich Guggenbergers zufällige oder gezielte Verweise wirklich erahne. Überladen und verklausuliert, aber fresh und zugegeben treffsicher navigiert der Autor zwischen Chaos und Chronik der Ereignisse seit dem 7. Oktober.

Die Hauptfigur in der Novelle, Aaron, erinnert mich beispielsweise an das IMG Model Miles Greenberg, dessen durationale Performance von Klaus Biesenbach und Lisa Botti im Palazzo Malipiero ko-kuratiert wurde. Obwohl Aarons Teint wie von einer Elfenbeinstatue in der Novelle beschrieben wird – hey there, decolonize – scheint auch der White Fox Kult-Kurator aka Thomas Erlenbusch neben seiner – Bussi-Bussi – documenta 15-Skandal Kulturstaatsministerin eine Widmung oder, in Guggenbergers Handlungsstrang betrachtet, ihr Fett weg zu kriegen.

Es ließe sich ein hübsches Moodboard à la Warburg durch Guggenbergers Brille anordnen, um der Pathosformel des appropriierten Märtyrertums auf die Spur zu gehen, sobald eine Antidiskriminierungsklausel die staatliche Alimentierung für Berufsaktivisten streichen will. Sogar Ulf Poschardt aka Pierre wird verdient ein Denkmal in der Sache gesetzt, sofern ich Guggenbergers Erzählung richtig dechiffriere.

„Kultur kennt keine Grenzen!“

Handlung, Charakterentwicklung und thematische Darstellung zur Berliner Kulturszene scheinen auch in der Nebenfigur Emily Schwartz schwer von der Judith Butler der Bildenden inspiriert worden zu sein. Bekanntlich wird jeder und alles als „genozidale Rhetorik“ [man denke hier bitte die beidhändige Fingergeste als Anführungsstriche mit] abgekanzelt bzw. gecancelt, weil man mit glasklarem Wertekompass gegenüber dem Existenz- und Verteidigungsrechts Israels trotzdem nur white-white Tätervolk sei. Ob hiernach gleich eine Unterlassungsklage in den Briefkasten flattert? Sicherheitshalber deklariere ich diese Rezension unter eine Kunstperformance, damit ich angesichts deutscher Staatsräson meinungsfrei kundtun darf, was ich ganz objektiv betrachtet dann auch darf [man denke hier bitte meinen schamanischen Blick aufs MacBook fixiert wegen Mensch-Maschine auf einem einfachen Holzstuhl sitzend mit, mir gegenüber der Platz ist leer].

„Die Israelis sind am siebten Oktober selbst schuld.“

Ich mag freiwillig nicht wie eine CDU-Wählerin klingen, aber klar nervt mich als kosmopolitische Rheinländerin die sich selbst überschätzende Kunstmetropole Berlin. Wer Guggenbergers Novelle als überzeichnet wahrnimmt, ist abgestumpft, ignorant, naiv oder gleich alles drei. Spanisch sabbelnde Touristenschwärme in Kit Kat-Lederharnischen entlang der Torstraße, die vom Masturbations-Pop-up Store beglückt sind, von Erlösungsantizionismus ideologisierte „Palestine will set us free“-Demos im heilen Charlottenburg auf Kosten der Steuerzahler und Balenciaga Sock Sneaker in Kombi mit Balenciaga Puffer Jacket Influencer am Eck Woolforth Kurfürstenstraße, die niemals fünf Tage die Woche für einen Babyboomer arbeiten würden, lieber mehr so Start-up vibe, ne, ja all dit is Berlin wa.

Ausgerechnet in Düsseldorf stolpert der Erzähler am Ende über seine moralischen Ambitionen. Den Höhepunkt vom postkolonialen Stuss erlebt Enzo in Oberkassel bei der Überquerung des Rheins, als er endlich auf seinen intellektuellen Augapfel Susan Sontag trifft, aber immer noch keine Antwort auf Aarons Tod erhält. Wem die Frau nichts sagt, für den wird es dann echt schwierig mit dem Reality Check durch die Novelle. Eine eigentümlich libidinös-inzestuöse Fixierung innerhalb der Kunstszene wird in „Opferkunst“ deutlich, alles andere als bessere Menschen durch Kunst. Am Ende bleibt dem Autor zu wünschen, dass auch über die Berliner Stadtgrenzen hinaus interessierte Leser auf seine Novelle aufmerksam werden. Aber wer schon zusammen mit Hasnain Kazim in der Frankfurter St. Katharinenkirche lesen durfte, der braucht meine Empfehlung wirklich nicht.

 

Paperback

256 Seiten

20.- Euro

ISBN 978-3-89320-322-2

Erschienen: 07.10.2024

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