In Bücher gepresste Kindheitserinnerung – mich berührt sie kaum noch, wenn sie mal wieder als Verklärung oder verbitterte Spurensuche daherkommt, als weinerliche Familienaufstellung, als Mutterexorzismus gar und Vater-Rufmord. Interessiert mich nicht. Bis wieder einmal ein rares Erzähltalent die literarische Bühne betritt und die Re- und Dekonstruktion eigener früher Jahre so obsessiv vorführt, dass das uralte Thema kühn belebt wird durch abgründigen Humor zum Beispiel oder hellsichtigen Furor.
Es war der New Yorker Autor Frank McCourt, der zu Beginn seines autobiografischen Romans „Die Asche meiner Mutter. Irische Erinnerungen“ schrieb:
„Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, frage ich mich, wie ich überhaupt überlebt habe. Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglücklich irische katholische Kindheit.“
Ersetzen Sie „irisch“ durch „bayrisch“ – und wir sind mitten in Andreas Altmanns langer Erzählung „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“: Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche bayrische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche bayrische katholische Kindheit.
„Einfaches Volk zu allermeist …“
Andreas Altmann, vielgepriesener Reiseschriftsteller, liefert mit seinem jüngsten, sehr persönlichen Buch eine radikale Stellungskrieg-Reportage aus dem ober- und hinterbayrischen Altötting der 50er-, 60er-Jahre. Folgerichtig gliedert er sein Buch in „DER KRIEG/ Teil eins“, „DER KRIEG/Teil zwei“ und ein „Nachwort“.
Altötting, dieser „Gnadenort“ wirbt noch heute auf seiner Webseite mit Infos aus dem „Wallfahrts- und Verkehrsbüro“, macht „Angebote für Pilger“ und brüstet sich mit dem Papstbesuch von 2007. Bevor der Papst kam, reiste Altöttingens Bürgermeister nach Rom um Josef Ratzinger die Ehrenbürgerschaft anzudienen. O-Ton Bürgermeister Hofauer: „’Herz Bayerns’ wird unsere Stadt genannt und unzählig viele Menschen haben seit den ersten Wundern im Jahre 1489, von denen uns der Wallfahrtschronist berichtet, in Glauben, Hoffnung, Not, Vertrauen und tiefer Dankbarkeit ihre Schritte zur ‚Schwarzen Muttergottes’ von Altötting gelenkt, einfaches Volk zu allermeist, aber auch Fürsten, Könige und Kaiser.“
Schwarze Muttergottes, Dunkler Vater
Dass die Kehrseite der Heiligkeit einer ‚Schwarzen Muttergottes’ die Heillosigkeit, das Unheil schwarzer Pädagogik eines seelisch verwahrlosten Vatergottes sein könnten, hat Andreas Altmann erfahren müssen, drittes von vier Kindern, jüngster Sohn des „Rosenkranzkönigs“ Franz Xaver Altmann und seiner Frau Elisabeth, die später endlich die ersehnte Tochter auch noch gebären sollte. Altmann erlebt im Vaterhaus des durchtriebenen Händlers religiösen Folklore-Schrotts die häuslich-kleinstädtische Hölle. Der einst lebenslustige Vater ist nicht nur von Nazi-Ideologie und SS-Sprache durch und durch gebeizt, er ist auch vom Krieg traumatisiert, ohne darüber sprechen zu können. Genau dieser obskure Bastard pathogener Mentalitäten taucht dann im Nachkriegsbayern tief ein in katholische Bigotterie und religiösen Alltagshumbug, auch deshalb, weil das Geschäft mit dem Aberglaubens-Tand seinen Wohlstand und Status sichert.
„Ich kann Opfer nicht ausstehen. Ich war selbst zu lang eins.“ (Altmann)
Zerstörte Menschen zerstören Menschen, zerstören Humanität. Der Junge Andreas erlebt seinen hochtoxischen Vater als selbsternannten Haus-Gott, als Schläger, als Mutter-Bespringer, frömmelnden Kirchgänger, Chorsänger, schneidigen Arbeitsdienst-Herren im „Devotionalen-Business“, Hausarrest-Aufseher, Sparzwang-Paranoiker, Folterer und Lebensverhinderer.
Natürlich schnurren in Altmanns Erzählung 18 Jahre auf einen Text von 255 Seiten zusammen, doch dass dieser Vater mit seiner täglichen Überdosis Selbst- und Fremdhass alles freie Leben um sich herum erstickte, dass es neben den Exzessen einen Alltag der Unterdrückung und Gehirnwäsche gab, wird plausibel, lebendig und milieusicher erzählt. Und belegt durch Altmanns Ausflüge in die 50er, 60er Jahre, in die Geschichte des Altöttinger Klerus, dem Sexualneurosen und sexueller Missbrauch beileibe (bei Leibe!) nicht fremd waren. Auch für diese Exkurse hat Altmann minutiös recherchiert, belegt alles mit Daten, Namen, Fakten, und bis heute hat niemand gewagt, gegen seine Schilderungen zu klagen.
Wie der Vater, so der Sohn: Fast am Krieg gestorben
Der Junge Andreas weiß sich nicht anders zu helfen, als autoaggressiv zu werden, sich zu zerkratzen, die Haare auszuraufen. Neben dem Frondienst im Waren-Lager des Vaters bleibt keine Zeit zum Lernen, der Vater demütigt seinen Sohn mit dem Etikett „Versager“. Der Junge beginnt zu stehlen, aus Protest, Überlebenswille oder einfach nur, um die kargen Essensrationen im armselig reichen Altmann-Haus aufzubessern.
Das alles klingt nach dem Stoff für ein Weihnachtsmärchen, das ganz zum Schluss dann doch noch gut ausgeht. Doch kitschig, pathetisch klagend oder milieuverliebt wird Altmann nie. Zu genau und bestürzend sind seine Schilderungen väterlicher Überfälle auf die Seinen. Zu brutal sind die recherchierten Fakten der Familiengeschichte, die manches Familiengeheimnis sukzessive enthüllen. Zu luzide und herrlich streitbar ist Altmanns Religionskritik aus tiefer Erfahrung, die ihn klug gemacht hat. Und Altmann trägt sein Ex-Leiden als Kind nie wie eine Monstranz vor sich her: Wenn er etwas erzählt, das nun wirklich zum Heulen ist, wird er als Erzähler selbst nie weinerlich. Altmann schreibt: „Natürlich bin ich bereit, alles Schlechte über meinen Vater zu bezeugen“. Eine Art Aussöhnung gelingt erst mit dem toten Vater. Zeitlebens zeigt dieser sich unbelehrbar, kann nachgetragene Liebe weder erkennen noch annehmen.
Im Nachwort reflektiert Altmann: „ (…) ich begriff, begriff es ganz tief, dass er auf fatale Weise ‚unschuldig’ war. Dass er werden musste, was er wurde. Und dass die Dinge sind, wie sie sind.“ Über eine andere Figur im Buch heißt es einmal, sie sei „am Krieg gestorben“, für Altmanns Vater gilt das ebenso: Als Mensch starb er am Weltkrieg, am selbst inszenierten Krieg im eigene Hause, am religiös infizierten Krieg gegen freies Denken. Und seinen Sohn Andreas hätte er beinahe mitgerissen. Auch weil der erwachsen werdende Sohn Verhaltensmuster des Vaters zu übernehmen beginnt. Genau wie der Vater sperrt er die (mittlerweile getrennt lebende) Mutter mehrmals in einem Zimmer ein. Dass Andreas dies tut, um sie mit ihrer eigenen Geschichte zu konfrontieren, macht nichts besser. Er tut, was der Vater tat: Er bricht ihren Willen unter Zwang.
Von Flucht, Scheitern und Rettungsringen
Das Verstehen der eigenen Gewordenheit und einen Hauch von Selbstfreundschaft muss sich Altmann mühsam erkämpfen: durch den Überlebenskampf in Kindheit und Jugend, durch einen Showdown-Ringkampf mit dem Vater, bei dem er, der 18jährige, ihn, den über 60-jährigen, beinahe tötet. Andreas verlässt das Haus, eine Familiengruft untoter Altöttinger Zombies – endlich. Und zwei Jahrzehnte der Suche beginnen, Jahre des Ausprobierens, der Entgiftung, der Therapie-Tourneen und Frauengeschichten: „Mit keinem Talent wachte ich morgens auf, ich war immer nur wieder ich. So talentlos wie am Vorabend.“
Doch Altmann findet seine ‚Berufung’: Er entkommt endlich auch sich selbst durch Reisen, kann Menschen im Offenen begegnen, wird nicht länger eingeengt durch borniertes Denken oder halbherzige Versuche, etwa als Schauspieler-Darsteller überleben zu müssen.
Reisen und Reisen im Kopf, „losrennen und andere Leute ausfragen“, das Schreiben, die Sprache als „Rettungsring“. Auch der Leser wird Andreas Altmanns gekonnte Streit-Schrift nicht vergessen, die in ihren Figurenporträts, Geschichten in der Geschichte, mit ihrem immer wieder aufflackernden Sprachwitz mehr ist als zeitgeistige Bekenntnisliteratur und doch noch nicht eine auf Dauer haltbare literarische Erzählung. Was sie aber für viele Jahre aktuell halten dürfte? Altmanns Text kontert mit pointierten Attacken, durch genaue Beobachtung und Nachdenken die grassierende Renaissance des Religiösen im öffentlichen Raum. Wo der überangepasste Hape Kerkeling als Wander-Prediger mit seinem „Ich bin dann mal weg“ schwiemelig von der „ganz eigenen Nähe zu Gott“ schwadroniert, liest sich Altmanns Buch wie ein selbstbewusst-aufgeklärtes „Ich bin dann mal da“. Menschengemachte Väter wie Götter werden radikal befragt und Religionen als das gekennzeichnet was sie sind: kollektiver Aberglaube – und „den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt“ (Freud).
Andreas Altmann: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend. Piper Verlag, München 2011
Andreas Altmann liest in der Reihe „textrevolte“ aus „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“
Mittwoch, 7.3.2012, 19.30 Uhr
Ringlokschuppen, Am Schloss Broich 38, 45479 Mülheim an der Ruhr
www.ringlokschuppen.de/spielplan
Wunderbares ‚Interview‘ unter: http://hpd.de/node/11989
Einladend zum Lesen oder gar zum Zuhören ist der Titel des Buches nicht gerade.
Ach, liebe/r Mir, seien Sie nicht so streng mit dem Buchtitel und der ganzen Scheiße.
Es gibt dazu ein schönes Gedicht von Enzensberger, etwa hier zu finden:
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13514870.html
„Hans Magnus Enzensberger
Die Scheiße
Immerzu höre ich von ihr reden als wär sie an allem schuld.
Seht nur, wie sanft und bescheiden sie unter uns Platz nimmt! Warum besudeln wir denn ihren guten Namen und leihen ihn dem Präsidenten der USA, den Bullen, dem Krieg und dem Kapitalismus?
Wie vergänglich sie ist, und was wir nach ihr nennen wie dauerhaft!
Sie, die Nachgiebige, führen wir auf der Zunge und meinen die Ausbeuter. Sie, die wir ausgedrückt haben, soll nun auch noch ausdrücken unsere Wut? Hat sie uns nicht erleichtert? Von weicher Beschaffenheit und eigentümlich gewaltlos ist sie von allen Werken des Menschen vermutlich das friedlichste. Was hat sie uns nur getan?
Enzensbergers „Die Scheiße“ (aus: „Gedichte 1955-1970″, Suhrkamp) gehört zu einer Lyriksammlung auf Postkarten, die der Verlag Hans D. Schickert in München (Dachauer Straße 2) zum Stückpreis von 1,50 Mark vertreibt.“
Eine ganz wunderbare Buchbesprechung, Gerd. Danke!