Am 24. Februar vergangenen Jahres trat Russlands Krieg gegen die Ukraine in eine neue Phase. Von Norden, Süden und Osten aus wurde das Land von der russischen Armee angegriffen. Putins erklärtes Ziel war die Vernichtung des Staates, seine Wiedereingliederung in das russische Kolonialreich, das als einziges Imperium das 20. Jahrhundert in großen Teilen überlebt hat.
In wenigen Tagen wollte Putin mit seinen Truppen das Land erobern und seine demokratisch gewählte Regierung zerschlagen. Entnazifizierung nennt er die Umsetzung dieses Ziels bis heute und stellt die Ukraine damit in eine Reihe mit dem von Nationalsozialisten regierten Deutschland. Das soll Erinnerungen wecken an den „Großen Vaterländischen Krieg“, als sich die Sowjetunion gegen den Überfall ihres einstigen Verbündeten, mit dem sie sich 1939 Polen geteilt hat und der ihre Besetzung des Baltikums unterstützte, erfolgreich wehrte. Die Parole von der Entnazifizierung ist nicht nur eine Verleumdung der Ukraine. Putin speit damit auch auf das Andenken der Millionen Männer und Frauen aus allen Teilen der Sowjetunion, viele von ihnen waren Ukrainer, die im Kampf gegen Deutschland und seine Verbündeten ihr Leben ließen. Er banalisiert ihren Tod.
Aus dem schnellen Sieg wurde nichts. Die russische Armee scheiterte an dem Mut und dem Kampfeswillen der Ukrainer und ihres Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die ihre Offensive schon am ersten Tag teilweise erfolgreich stoppte. Das alles hätte wenig genutzt, wenn der Westen sich nicht, wenn auch bis heute immer wieder viel zu zögerlich, entschlossen hätte, das Land militärisch zu unterstützen. Es sind die Waffenlieferungen vor allem der USA, aber auch Großbritanniens und vieler andere Staaten, darunter Deutschlands, welche die Ukrainer in die Lage versetzten, sich zu verteidigen und sogar Teile ihres Landes zu befreien.
Der Westen, von vielen schon abgeschrieben, die in Diktaturen wie Russland und China die Modelle für die Zukunft sahen, fand innerhalb kürzester Zeit zu sich und begann, für seine Werte einzustehen. Die Politik in Washington, Berlin, London und Paris erkannte, dass der Angriff auf die Ukraine auch ihren Demokratien galt. In Warschau, Prag und Vilnius gab es diese Einsicht schon lange zuvor. Dort warnte man jahrelang vergeblich vor dem russischen Imperialismus.
Die Welt teilte sich mit jedem Tag, den der Krieg dauert, klarer auf: Da sind die Staaten, die sich gegen Russland stellen und zu Alliierten der Ukraine wurden. Und da waren diejenigen, die mit Putin weiter Geschäfte machten, ihn politisch unterstützen und seinem Regime den Rücken freihielten. Jeder erkennt heute im Westen deutlich, wer die Freunde sind und wer die Feinde sind. Der Ukraine-Krieg wurde zu einem Lackmustest. Man kann nicht gleichzeitig für Freiheit und Menschenrechte eintreten und neutral bleiben, wenn russische Truppen Massaker begehen, Kinder entführen, Frauen vergewaltigen und ein demokratisches Land unterwerfen wollen. Iran, China und Nordkorea: Oft ist die Unterstützung Russlands deutlich und nicht überraschend. Bei Indien, Brasilien oder Südafrika hat sie viele überrascht. Doch diejenigen, die seit einem Jahr zu den Alliierten in diesem Krieg wurden, stehen bis heute zusammen für die Ukraine ein. Die Hilfe könnte größer sein, die Tatkraft entschlossener, die Verzagtheit geringer, aber alles in allem hält das Bündnis, ohne dessen Hilfe die Ukraine heute nicht mehr existieren würde. An seiner Spitze stehen die USA und ihr Präsidenten Joe Biden, der sich als Führer der freien Welt erwiesen hat, als es darauf ankam. Die Bilder seines Besuchs in Kiew sind ikonisch und zeugen von der Überlegenheit des Westens. Wie Selenskyj wuchs Biden im Krieg über sich selbst hinaus.
Aber auch innerhalb der Demokratien des Westens ist der Krieg ein Lackmustest. Der Unterschied zwischen den vier demokratischen Parteien und ihren Herausforderern zeigt sich in Deutschland deutlich. Während CDU, SPD, Grüne und FDP bei allen Streitigkeiten über Weg und Maß hinter der Ukraine stehen, haben sich große Teile der Linkspartei und der AfD auf die Seite Putins geschlagen. Am Samstag finden in Berlin und Köln Kundgebungen für einen Frieden in der Ukraine statt, der nichts anderes als eine Unterwerfung wäre. Hier reden prominente Politikerinnen der Linkspartei wie Sahra Wagenknecht und Sevim Dagdelen. Der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla unterstützt ihren Protest. In Dresden wird einen Tag zuvor Chrupallas Volks- und Parteigenosse Björn Höcke gemeinsam mit dem Pediga-Gründer Lutz Bachmann und dem ehemaligen österreichischen Vizekanzler Heinz-Christian Strache an einem Friedenspaziergang teilnehmen, dessen Hauptforderung ein Waffenstillstand ist.
Auch wenn eine deutliche Mehrheit sich für eine weitere Unterstützung der Ukraine ausspricht, stehen viele in Deutschland auf der Seite Putins. Ihnen allen bedeutet Freiheit nichts. Sie wollen einen Frieden, der für die Menschen in der Ukraine die Sklaverei bedeuten würde. Ihre angebliche Friedenssehnsucht ist Heuchelei. Wer auf der Seite der Despotie steht, träumt davon, selbst Tyrann zu sein.
Wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauern wird, kann niemand sagen. Das Schicksal der demokratischen Gesellschaften ist mit dem der Ukraine verbunden. Verliert sie, verliert der Westen, verlieren alle, die an die Freiheit glauben. Dieser Krieg wird zeigen, ob den Demokratien die Zukunft gehört oder den autokratischen Regimen. Es geht um die Ukraine. Es geht um alles.