Die schlimmste Frage im Umgang mit Fremden. Von unserer Gastautorin Anne Winterhager.
Ich treffe Sancho im ICE zwischen Frankfurt und Düsseldorf.
Ein normaler Typ, Anfang 40, in dunkelblauem Hemd. Sein Gesicht südländisch, leicht vernarbt und freundlich. Wie immer bei Fremden im Zug rätsel ich vor mich hin, wo er aussteigen wird (irgendwo im Grünen?) und was er macht (vielleicht Versicherungen?). Ich setze mich zu ihm in den Vierer.
Bald kommen wir ins Gespräch. Wie immer ist es durch den kleinen grauen Hund bedingt, der auf dem Boden neben mir liegt, gestreckt wie ein Türvorleger, vor sich hinpennt und dabei mit dem Schwanz wedelt.
„Niedlicher Hund. Wie heißt der?“ fragt Sancho,
„Karl“ sage ich.
„Karl-Gustav“ lacht Sancho.
„Ich bin Sancho. Und du“?
„Hallo Sancho, ich bin Anne“
Ich klinge wie die erste Lektion einer Fremdsprachen-CD.
Wir unterhalten uns über alles: Das Wetter, Tagespolitik, große und kleine Hunde – und die Tatsache dass ALLE Hunde in Sanchos Heimat Südamerika freier leben dürfen als hier in Deutschland, wo es nur eingezäunte Pissecken in Parks gibt – und auch sonst nicht viel Grund zum Freisein und Glücklichsein, für Hund und Mensch, und überhaupt. Es ist eitel Sonnenschein. Perfect political correctness: Mit einem Mann aus Venezuela im Vierer Pfeile auf die deutsche Bürokratie schießen – und schon wächst man vom kleinen Systemkuscher zum großen Weltenbürger.
Der ganze Smalltalk-Zauber, in dem wir uns wohlfühlen, dauert etwa fünf Minuten. Soviel ist anscheinend das restliche Leben wert. Dann entsteht eine Lücke und ich frage ihn:„Und was machst du so? Beruflich?“
Sobald ich es ausgesprochen habe, merke ich, wie dieser fremde Typ leise und innerlich einen Berg runterfällt. Und ich sitze davor und warte hilflos auf den Aufprall. Er scheint kein harmloser Mann zu sein, der wie selbstverständlich sagt: „Ich mach Versicherungen“ oder „Ich bin Kinderkrankenschwester.“
Er sagt nichts, eine lange Zeit.
Eine alte Frau im Sitz neben uns glotzt, schiebt ihre Vorurteile von rechts nach links und wieder zurück, verhakt sie anschließend in der Mitte und seufzt zufrieden und gehässig vor sich hin. Genüsslich schließt sie die Augen und beobachtet uns nur noch aus zwei Spalten. Dazu mein mitleidiger, reumütiger Blick. Das ist zu viel für Sancho. Sein Blick erinnert an den eines rot gefärbten feuerspeienden Drachen, der in einem Computerspiel vom Spieler nur Schläge einkassiert hat, und nun noch einmal seine ganze Kraft zusammennimmt.
Und ehe ich mich versehe, habe ich eine Faust im Gesicht. Geführt von dem freundlichen Typen den ich eben noch für einen netten Versicherungsvertreter aus einem Vorort hielt, der anscheinend aber Probleme mit der Jobfindung hat und darauf nicht gerne angesprochen wird. Nur wenig später sammelt die Großmutter neben mir winselnd ihre Brille vom Boden auf. Der Zug hält irgendwie.
Ich reibe verdutzt über mein Auge, aber Sancho ist schon verschwunden. Ich sehe, wie er draußen an der Zugfensterscheibe vorbei läuft. Als der Schaffner kommt und fragt, was los sei, ist der Zug schon lange weitergefahren und Sancho in Sicherheit
Wenig später setzt sich eine Frau zu mir. Groß, blond, freundlich, Typ Kunstlehrerin und Innenstadt, Galerienviertel. Ich kann es nicht lassen. Ich denke mir gerade weitere Attribute für sie aus, da bemerke ich, dass sie die ganze Zeit auf mein blaues Auge starrt. Sie möchte wohl etwas darüber herausfinden. Bestimmt vermutet sie, ich wäre eine von ihrem Machofreund verprügelte Frau.
Also spricht sie mich mit einer zuckersüßen Engelsstimme an, redet erstmal über Zugverspätungen, dann wieder über den kleinen Hund (Ob er mich auch gut beschütze?). Dann nimmt sie ihren Mut zusammen, fragt aber nicht etwa nach meinem blauen Auge, sondern, um Vertrauen zu schaffen, erst einmal etwas anderes:
„Was machen Sie denn so? Beruflich!“
„Ich bin Studentin“ sage ich.
Das reicht ihr, um zum nächsten Punkt über zu gehen.
„Ich möchte nicht indiskret sein. Aber woher haben Sie ihr blaues Auge“?
„Das habe ich von einem Mann, den ich eben hier im Zug gefragt habe, was er so beruflich macht“, sage ich wahrheitsgemäß. Die Oma neben mir schaut wie ein verängstigtes kleines Häschen und die Kunstlehrerin setzt sich wortlos weg. Ich grinse vor mich hin, in meinem Vierer für mich allein und danke Sancho für die wortlose Lektion, die er mir erteilt hat. Man fragt fremde Leute nicht nach ihrem Beruf. Es könnte ein dunkles Kapitel sein.
Das kenne ich so gut, wenn man jemanden gegenübersteht, und nicht weiß, was man fragen soll. Da fragt man eben oft nach dem Beruf. Eigentlich ziemlich dumm… Ich werd’s mir fürs nächste mal merken.
Schöner Text, gefällt mir gut 🙂 Der Plot ist sehr überraschend, das mag ich besonders daran: Von der Wonnesituation in den Gewaltakt, von jetzt auf gleich. Dass du die hilflose Oma mit reinnimmst.
Sätze wie: „Ich klinge wie die erste Lektion einer Fremdsprachen-CD.“ sind großartig. Oder: „Mit einem Mann aus Venezuela im Vierer Pfeile auf die deutsche Bürokratie schießen – und schon wächst man vom kleinen Systemkuscher zum großen Weltenbürger.“ Weiter so!
danke für die netten kommentare.
@ Anne Winterhager
ich kann’s immer noch nicht glauben: der hat dir wirklich eine gescheuert?
Als ich beim Einpacken in der Drogerie die Deutsche Soll-Geschwindigkeit unterschritt, hat mal eine Frau über mich gemeint: „Wenn Männer schon mal einkaufen gehen …“ Darauf ich zur Kassiererin: „Können Sie ihr eine verpassen? Ich schlage keine Frauen.“
Und ja, falls du es noch wissen willst: Schöner Text!
@ andreas lichte: dankeschön und ja, ich kann’s auch kaum glauben. das mit der kassiererin kann ich nachvollziehen, die ewigen männer-frauen-klischees sind überall, gehören aber auch überall verboten.
und:
hey hey hey petra theisen,
es ist mir eine ehre. du bist oder kennst petra theisen? das können nicht viele von sich behaupten. ein tipp an alle: sonntags nachts ( heute) um 1 uhr hr fernsehen gucken. sie wird euch verzaubern.
Gute Story. Aber ich vermisse den Schock und vor allem den Schmerz den so ein Schlag aufs Auge verursacht. Im Text natürlich. Sowas steckt nicht mal ein Profiboxer völlig kommentar-und emotionlos weg.
Naja, am Ende bleibt mal wieder das Klischee vom gewalttätigen Südländer.
Find ich nicht ok !
@ Locke #7
Und ich dachte immer, bei Frauen zieht der typische Südländer das Baggern dem Boxen vor. 😉
@locke: aber in der mitte war auch das klischee der perfekten political corectness und daran sieht man, dass ich da nicht so drauf stehe.
der südländer war, du glaubst es vielleicht nicht, überhaupt nicht wichtig für die story, wir sind hier nicht an der uni in der kulturwissenschaftlichen fakultät, wo wir in jedem satz ständig eine frau oder einen menschen mit migrationshintergrund diskriminiert sehen. nenn ihn von mir aus offiziell waldemar. es geht hier um die agression, die arbeitslosigkeit erzeugt und nicht um nationalität als zentrales thema. der südländer ist nur südländer weil der typ, den ich in echt getroffen habe eben auch südländer war. und die wahrheit schert sich eben nicht um political correctness. für die story ist es allerdings so gar nicht wichtig. ich finde es eher schlimm wenn menschen hinter jeder ecke rassismus vermuten. wer sucht wird da immer fündig, auch wenns gar nicht so gemeint war, so wie die leute an der kulturwissenschaftlichen fakultät.
@ arnold: den schlag hatte ich beschrieben und dann rausgenommen weil es so sehr nach selbstmitleid klang.:-)
ausserdem hast du recht, der klischeesüdländer boxt im klischee nur seine eigene freundin, keine fremden frauen mit kleinen hunden.
@ locke; Diskriminierung geht eher so:
Kommt ein Türke ins Arbeitsamt und sagt: „Guten Tag, ich suche Arbeit.“ Daraufhin die Sachbearbeiterin: „Ich habe hier ein Angebot für sie, 5000 € brutto, Dienstwagen für 30 Stunden in der Woche.“ Darauf der Türke: „Wollen Sie mich verarschen?“ Und sie: „Ja wer hat denn damit angefangen?“
Dagegen ist Sancho durchweg ausdifferenziert dargestellt.
@ arnold: das waren meine körperlichen und seelischen schmeeeeeeeerzen:
„ich kann diese schmerzen kaum beschreiben, die der schlag mit dieser geladenen faust bei mir bewirkte. in mein augenhöhle bohrte sich sanchos ganze wut aus den letzten wochen, monaten, jahren. ich wusste es nicht. ich hatte nur allen grund nachzufühlen, ob mein auge überhaupt noch da war oder ob es inwzischen ängstlich in meinen körper hineingekrochen war um sich dort in meinem schädelinneren häuslich einzurichten. ich hatte vermutlich nur noch ein loch mit einem lila-grünen rand, da wo mal ein ansehnliches, blaues auge war. für einen kurzen moment hatte ich ein hundemitleid mit mir selbst.“
Nein Anne, das kannst Du auch nicht nachvollziehen. Das kann nur jemand nachvollziehen, der jahrelang durch die Institutionen gegängelt und gedehmütigt worden ist. Bei dem staut sich die Wut dann auf und durch so einen einzigen Satz bricht das dann gewaltsam raus. Du konntest es nicht ahnen, weil man es sonst nicht ermesse kann und er konnte es nicht mehr steuern, weil es in der Situation eine Ventilfunktion für ihn hatte. Und das steuert man nicht. das verschafft sich einfach so Luft. das hast du erlebt.
@ Anne Winterhager
ich glaube, heute habe ich eine wirklich gute Antwort-Alternative zu Schlägen gefunden – Achtung Anekdote!
–
War ewig nicht beim Zahnarzt …
Nach der – uff, „Ihre Zähne sind gut!“ – Kontrolluntersuchung vor zwei Tagen, heute dann zur „Zahnprophylaxe“, zur professionellen Zahnreinigung.
Als sie fertig ist, sagt die Zahnarzt-Assistentin: „Na dann bis zum nächsten Mal!“
Ich antworte: „In 10 Jahren? Wenn Sie dann noch hier arbeiten …“
„Stimmt, ewig will ich das nicht mehr machen.“
„Was wollen Sie denn machen?“
„Was anderes.“
„»Was anderes« gefällt mir, das kann man gut sagen, wenn man mal keine Lust hat, richtig zu antworten, es kommt natürlich auf den richtigen Tonfall an …“
Und ich mache es ihr vor:
„Was machen Sie beruflich?“
Und gaaanz tief aus dem Bauch hervorgeholt:
„WAS ANDERES.“
„Klingt verboten, wie Zuhälter … da fragt man besser nicht nach!“
–
Und damit es eine wirklich laaange Anekdote wird – sonst ist es keine richtige – hier auch noch mein Poetry-Slam für den Zahnarzt – „na, das ist doch der Werbespruch für Sie“:
Deine Zähne sind wie eine Herde /
frisch geschorener Schafe, /
die aus der Schwemme steigen. Jeder Zahn hat sein Gegenstück, /
keinem fehlt es.
Hohelied Salomos
[…] Und was machen Sie so? Die schlimmste Frage im Umgang mit Fremden. […]