Unmittelbare Emotion: Moers-Festival 2015

DSC06453rbDen Preis, den das Moers-Festival vom European Jazz-Network bekommen hat, wolle Reiner Michalke auf jeden Fall mit seinem Vorgänger Burkhard Hennen teilen, betonte der Festival-Leiter, da dieses Ereignis doch ohne das Lebenswerk seines Vorgängers nicht vorzustellen ist. Für „advanced programming“, also abenteuerliches Programmieren sei dieser Preis vergeben und da habe dieses Festival einfache eine weltweit herausragende Stellung, hatte auch die Kulturstaatsministerin Monika Grütters betont.

Und es lief rund in Moers, der zweiten Festival-Ausgabe in der neuen Halle und im zehnten Jahr von Michalkes künstlerischer Leitung. Der wollte ja hier zur 44. Festivalausgabe den Bezug zwischen Gesellschaftlichen Zuständen und dem aktuellen Reagieren in der freien Musikwelt darauf ins Rampenlicht holen.

Symbolträchtig wirkte hier eine Performance der Französin Eve Risser: Hatte diese mit ihren fabelhaften Ensemble, dem auch die Bassistin Fanny Lafargue angehört, gerade noch ihr Publikum in ein feingewebtes Kaleidoskop aus instrumentalen Traumwelten entführt, erhoben sich plötzlich Menschen aus dem Publikum, standen auf, um sich gemeinsam – wie in einer Art Flashmob-Aktion – auf Unerwartetes einzuschwören. Um sich einzumischen. Viele Stimmen und Tonhöhen vereinigten sich im Gesang, füllten den Raum unmittelbarer als sonst, schließlich in einem 80köpfigen Chor. Gleichzeitig hatte dieses Festivalausgabe dann auch mal eben die größte Anzahl von Musikerinnen und Musikern aus NRW auf die Bühne geholt, denn die Akteure für diesen Spontanchor gingen aus heimischen Gefilden hervor.

Unmittelbare, direkte Emotionen waren die Antwort der vielen Bands, Künstler und Projekte auf Reiner Michalkes Postulat, dass die improvisierte Musik doch ganz besonders auf aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeiten antworten kann, weil sie doch am flexibelsten, am freiesten reagieren könnte.

Auf maximalen Biss ist auf jeden Fall die gebürtige Serbin Jelena Kuljic abonniert – zusammen mit Kalle Kalima, Frank Gratkowski, ….. lässt man seit Dezember letzten Jahres in der Band Z-Country Paradise Worte, Fantasie(n) und musikalische Ideen rockig und aufrührerisch explodieren. Geballte Lebensenergie und noch mehr Wut artikuliert sich in den harschen Wortsalven von Jelena Kuljic, einer aus Serbien stammenden, heute in Berlin lebenden Sängerin, die einiges im Balkan-Krieg hautnah erlebt hat. Ihre Worte widerspiegeln extreme, oft auch düstere Empfindungswelten, und das trifft auch auf die hier herangezogenen Gedichte von Arthur Rimbaud zu, in denen sich Kuljic so zuhause fühlt.

Das Moers-Festival macht sich auch zehn Jahre, nachdem Reiner Michalke die künstlerische Leitung übernommen hat, darum verdient, die Entwicklung bestimmter Musiker kontinuierlich abzubilden und damit auch zu fördern. Der britische Soundabenteurer Colin Stetson war schon oft Gast in Moers – nun erzeugte seine querdenkerische Klangästhetik auf teilweise extrem tiefen Saxofonen neue, spektakuläre und auch nicht selten emotional aufwühlende Zustände auf der Bühne und im Publikum. Bei einer schier unfassbaren Zirkularatmungs-Technik, steht Stetsons Ästhetik völlig quer zu jeder Jazzidiomatik, vor allem zu jeder Form von Linearität. Arpeggien und Texturen werden zu Flächen verdichtet. Überhaupt geht es ums Verdichten, ums Evozieren von Zuständen, weniger von Abläufen. Das Publikum geriet zuweilen in Trance: Kammermusikalisch beschwörend war Stetsons Duo mit seiner Violinen-Partnerin Sarah Neufeld. Extrem brachial wurden später in einem Trio die monochromen Klangzustände fast schon physisch schmerzhaft auf die Spitze getrieben. Und alle ließen sich betören und spirituell mitreißen, als Stetsons arpeggienhaftes Spiel zum Epizentrum eines sinfonischen Gefüges wird in Henrys Goercki dritter Sinfonie. Ein Stück Sinfonik aus der klassischen Moderne nach Moers zu transferieren verlangt nach Wiederholung – denn dort sind noch so viel musikalische Abenteuer zu entdecken!

Sich neu erfinden tat auch ein anderer, der ebenfalls zu den sorgsam gehegten „Pflänzchen“ auf dem Moers-Festival oder besser gesagt zu den persönlichen Referenzpunkten in Reiner Michalkes nunmehr zehnjähriger künstlerischer Leitung gehört: Peter Evans war vor Jahren eine Entdeckung aus der New Yorker Szene – und aktuell zeigte er sich einmal mehr als einer der schwindelerregendsten, mit präziser Klarheit artikulierender Trompeter am zeitgenössischen Jazzhimmel. Evans gleißende Trompetenphrasen loderten und glühten über einem extremen Trommelfeuer von Bass und Schlagzeugspiel, das jeder Metalband zur Ehre gerecht hätte – aber in jedem Moment auch den Diskurs nicht außer acht ließ!

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Werbung