Unruhen in Frankreich: „Die Antwort sollte weder rechte noch linke Identitätspolitik sein“

Szenen urbaner Gewalt nach dem Mord an Nahel Merzouk, hier in der Nacht vom 29. auf den 30. Juni 2023 im Stadtteil Planoise in Besançon. Foto: Toufik-de-Planoise Lizenz: CC BY-SA 4.0

Wie hängen Islamismus und die Ausschreitungen in Frankreich nach dem Tod von Nahel Merzouk zusammen? Von unserem Gastautor Emrah Erken.

Nach 9/11 in den Vereinigten Staaten hatte kein anderes westliches Land wegen islamistischer Anschläge mehr Tote und Verletzte zu beklagen als Frankreich. Man erinnere sich nur an Nizza, Bataclan oder an Samuel Paty. Auch der nicht-militante beziehungsweise nicht-gewalttätige Islamismus hat in Frankreich viele Anhänger. Der Islamist Erdogan holte dort bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 66,7% der Stimmen, was ungefähr der Zahl in Deutschland (67,22%) entspricht. Interessant wird es, wenn man die Zahlen aus Frankreich etwas näher anschaut:

Lyon: 87,94%
Marseille: 43,84%
Paris: 52,2%
Strassbourg: 70,31%
Bordeaux: 60.6%
Nantes: 68,36%
Orléans: 87,43%
Mulhouse: 67,39%
Clermont-Ferrand: 91,92%

Es fällt dabei auf, dass in Städten wie Paris und Marseille, die erhebliche Probleme bei den jüngsten Ausschreitungen hatten, der türkische Islamismus am schwächsten ist, während andere Orte wie Lyon, Orléans und Clermont-Ferrand Islamisten Rekordergebnisse erzielten, welche die größten Islamistenhochburgen in der Türkei selbst in den Schatten stellten. In Marseille, wo Chaoten versuchten, eine Bibliothek abzufackeln, ist die Unterstützung für Erdogan mit 43,84% eher gering. In Istanbul waren 48,22% für Erdogan, in Ankara 48,77%.

Die jugendlichen Chaoten, die neulich in Frankreich brandschatzten, plünderten, Gebäude in Brand steckten, völlig unbeteiligte tätlich angriffen und das Leben von Polizisten gefährdeten, sind keine Islamisten. Es sind keine gläubigen Muslime. Diese Jugendlichen trinken beispielsweise Alkohol, begehen Diebstähle, belästigen Frauen sexuell oder vergewaltigen sie, nehmen Drogen und führen auch sonst ein gänzlich unislamisches Leben. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Islam mit den Ereignissen in Frankreich überhaupt keine Berührungspunkte hätte.

Der Islam ist für diese Jugendlichen ein Merkmal des Andersseins, mit dem sie sich von der Mehrheitsgesellschaft, die sie verachten, abgrenzen können. Mit anderen Worten geht es hier um eine identitäre Eigenschaft und nicht um die Religion, die kaum oder sogar überhaupt nicht praktiziert wird. Für in Europa lebenden Islamisten, die ich zuvor ansprach, ist der Islam ebenfalls ein Merkmal, um sich von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen und um ihr Anderssein zu definieren. Das ist eine sehr wichtige und erhebliche Gemeinsamkeit zwischen den jugendlichen Chaoten von Frankreich, die ein gänzlich unislamisches Leben führen, mit den Islamisten, die sehr gläubig sind und ihr Leben nach den Regeln der Scharia richten. Diese Gemeinsamkeit ist brandgefährlich, wie man in der Vergangenheit sehen konnte, weil Islamisten islamistische Attentäter und Dschihadisten, die in den «heiligen Krieg» ziehen, bei den unislamisch lebenden Jugendlichen rekrutieren.

Sie bestätigen ihnen die «Richtigkeit» ihrer muslimischen Identität, geben den jungen Menschen eine Struktur bei der Lebensführung und einen Lebenssinn, indem sie beispielsweise zu Selbstmordattentaten animieren. Bekannte Beispiele solcher Attentäter: Marwan al-Shehhi (einer der 9/11 Piloten), Anis Amri (Breitscheidplatz-Attentäter), Denis Cuspert aka Deso Dogg (ehemaliger Rapper und IS-Dschihadist mit deutscher Mutter und ghanaischem Vater, der abgeschoben wurde, bevor er geboren wurde). Ghana ist übrigens ein überwiegend christlich geprägtes afrikanisches Land. Wenn rechte Parteien wie die AfD, die Rassemblement National in Frankreich oder die Schweizerische Volkspartei die muslimische Identität der jugendlichen Chaoten überbetonen und den Islam als Hauptursache für die Probleme bezeichnen, bestätigen sie damit das Anderssein der Jugendlichen, das von diesen selbst hervorgehoben wird. Mit anderen Worten wird mit rechter Identitätspolitik das Problem noch virulenter, weil den identitär-muslimischen Jugendlichen bestätigt wird, dass sie nie Teil der französischen Gesellschaft werden können. Das macht den Zugriff von Islamisten auf diese Jugendliche wesentlich einfacher. Das ist brandgefährlich!

Die Antwort auf diese Probleme sollte daher weder rechte noch linke Identitätspolitik sein, bei der man das muslimische Anderssein bestätigt und als Staat Scharia- und Islamismusförderung betreibt, wie Deutschland dies beispielsweise macht und sich zu diesem Zweck mit islamistischen Verbänden in Deutschland zusammentut, um #Integrationsarbeit zu leisten. Auch das führt zu erheblichen Problemen, was man am Beispiel der früher als Lehrerin im Ruhrgebiet tätigen heutigen Bundestagsabgeordneten  Lamya Kaddor bestens erkennen kann: Fünf ihrer ehemaligen Schüler haben sich dem Islamischen Staat angeschlossen. Um mit diesen Problemen umzugehen, sollte der Weg der Identitätspolitik, sowohl die rechte als auch die woke-linke verlassen werden, weil diese zu noch größeren Problemen führt. Es braucht dabei vor allem Ehrlichkeit und eine offene Debattenkultur, in der die entsprechenden Probleme offen und ehrlich ausgesprochen werden. Man muss es tunlichst vermeiden, Menschen aus muslimisch geprägten Ländern zu stigmatisieren, die mit diesen Problemen überhaupt nichts zu tun haben und diese in den gleichen Topf zu werfen mit den Islamisten und den jugendlichen Chaoten, die ein unislamisches Leben führen. Gleichzeitig ist es völlig unzulässig, die Schuld westlichen Ländern und der Mehrheitsgesellschaft zu geben, indem erklärt wird, dass diese «rassistisch» seien. Damit wird Tätern jede persönliche Verantwortung entzogen und die Taten werden komplett externalisiert.

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
3 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
LibertyLoveIt
1 Jahr zuvor

Einer meiner Lieblings Intellektuellen Ist Professor Glenn Loury in den USA. Zusammen mit John McWhorter sind sie ein Power Paar. Sie kritisieren beide Identitätspolitik und den Culture War in den USA. In Europa geht es uns nicht anders.

“ 🇬🇧 Professor Glenn Loury’s opening remarks from the Towards the Common Good: Rethinking Race in the 21st Century conference, hosted by The Equiano Project (https://www.theequianoproject.com/ttc… ). This clip is a section from the panel discussion: What do we know about progress in racial equality and the disparities that exist?

Professor Glenn Loury
Merton P. Stoltz Professor of the Social Sciences, Brown University
@GlennLoury

Glenn C. Loury is Merton P. Stoltz Professor of Economics at Brown University. He holds the B.A. in Mathematics (Northwestern) and the Ph.D. in Economics (M.I.T). As an economic theorist, he has published widely and lectured throughout the world on his research. He is also among America’s leading critics writing on racial inequality. He has been elected as a Distinguished Fellow of the American Economics Association, as a Member of the American Philosophical Society and of the U.S. Council on Foreign Relations. He is a Fellow of the Econometric Society and of the American Academy of Arts and Sciences.

Books: 
The Anatomy of Racial Inequality (2002, Harvard University Press)

Ethnicity, Social Mobility and Public Policy: Comparing the US and the UK (Co-edited with Tariq Modood and Steven Teles; 2005, Cambridge University Press)

What do we know about progress in racial equality and the disparities that exist?
The evidence about racial inequality is varied and complex. It is often hard to draw singular conclusions about how and why certain groups fare differently. Added to this are the myriad definitions of inequality and racism; terms which are used in different ways and often have political connotations. Can we use evidence to reconcile disagreements, engage the ‘moderate middle’, and reach a shared understanding? What kind of inequality should we all be concerned about? What do we understand or not about the driving factors? 

Speakers:

Professor Glenn Loury
Merton P. Stoltz Professor of the Social Sciences, Brown University“

xilef
xilef
1 Jahr zuvor

Wir werden in 10 bis 20 Jahren die selben Bilder in Deutschland sehen.
Wenn man die illegale Einwanderung stoppen würde, kann man es vielleicht noch verhindern.

Was meine ich mit illegaler Einwanderung?
Wenn jemand im Land bleibt, obwohl der Asylantrag abgelehnt wurde.

Wie viele Asylanträge werden abgelehnt?
~50%

Da man nicht bereit ist abzuschieben und dies auch sehr teuer ist, muss man also dafür sorgen, dass weniger Menschen kommen und nur die herkommen, welche wirklich verfolgt sind, oder diejenigen welche vor Krieg flüchten.

Wie macht man das, oder was wäre ein erster Schritt?
Man stellt die Geldleistungen für Asylbewerber auf Sachleistungen um und ermöglicht die Einbürgerung erst nach 10 Jahren, wenn seit mindestens 5 Jahren ein Arbeitsvertrag vorliegt.

Im übrigen würde ich dem Autor zustimmen, dass man nicht die Herkunft der Jugendlichen für die Ausschreitungen in Frankreich verantwortlich machen sollte.
Grund für die Ausschreitungen ist die hohe Anzahl arbeitsloser Menschen aus einer bestimmten Bevölkerungsgruppe.
Wenn ich mir nun die grüne Wirtschaftspolitik mit den hohen Energiepreisen in Deutschland anschaue, komme ich zum Schluss, dass dies die Abwanderung gut bezahlter sicherer Industriejobs in Ausland zur Folge haben wird. Gerade diese Jobs braucht man aber, wenn man auch geringer qualifizierte Eingewanderte, die über Asyl gekommen sind, zu beschäftigen und eine Perspektive zu bieten.

LibertyLoveIt
1 Jahr zuvor

Alle EU Länder werden an diesem Thema polarisiert. Dies wird Mittelfristig dazu führen, das neben den illiberalen linken, illiberale rechte mehr Wahlen gewinnen. Wer meint man kann mit grünen neo Marxisten, rechten Rassisten und antisemitischen Moslems eine Europa aufbauen wird Schiffbruch erleiden.

Clowns to the left of me, Jokers to the right……

Last edited 1 Jahr zuvor by LibertyLoveIt
Werbung