Die Unstatistik des Monats April sind die zahlreichen Meldungen in regionalen Medien zur Entwicklung der Verkehrstoten im Jahr 2014. So meldete die BZ Berlin am 29. April unter Hinweis auf den Verkehrssicherheitsreport der DEKRA: „Die Berliner werden im Straßenverkehr immer aggressiver. Die Folge: 40 Prozent mehr Verkehrstote in Berlin.“ Ein paar Tage zuvor meldete der Tagesspiegelunter Verweis auf das Statistische Bundesamt „In Berlin sind in den ersten beiden Monaten des Jahres 2015 insgesamt 2 020 Menschen im Straßenverkehr verunglückt, vier davon tödlich. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es noch acht Menschen gewesen.“ Das wiederum wäre ein Rückgang der Verkehrstoten in Berlin um 50%. Die Frankfurter Rundschau meldete einen Rückgang der Verkehrstoten in Frankfurt um rund 50%. Aus einer Informationsgraphik lässt sich dann entnehmen, dass im Vergleich zum Jahr 2013 mit 22 Verkehrstoten im Jahr 2014 11 Tote auf den Frankfurter Straßen zu beklagen waren. In Pforzheim stieg dagegen die Zahl der Verkehrstoten um 250% – von 4 auf 14.
Jeder Verkehrstote ist einer zu viel. Nichtsdestotrotz müssen die genannten Meldungen aus mehreren Gründen mit Vorsicht interpretiert werden. Zum einen erhält man bei einer sehr kleinen Basis sehr schnell große Wachstumsraten. Bei den Verkehrstoten in Pforzheim im Jahr 2013 bedeuten 10 zusätzliche Verkehrstote eine gigantische Wachstumsrate von 250%. In Frankfurt, mit 22 Verkehrstoten im Jahr 2013, würden 10 zusätzliche Verkehrstote nur eine Wachstumsrate von 45% ergeben. Auffällig ist, dass viele Medien gerne auf horrende Wachstumsraten hinweisen, um mit entsprechenden Schlagzeilen die Aufmerksamkeit der Leser zu gewinnen. Dabei wird nicht in allen Fällen auf die absolute Zahl der Verkehrstoten hingewiesen.
Darüber hinaus werden von den Medien häufig unterschiedliche Bezugsräume zugrunde gelegt und damit – wie in Berlin – sehr unterschiedliche Zahlen ausgewiesen: Einmal wird das gesamte Jahr 2014 mit dem Jahr 2013 verglichen, eine andere Zeitung vergleicht die ersten beiden Monate des Jahres 2015 mit den Vergleichsmonaten des Jahres 2014. Schließlich geben weder die Anzahl der Verkehrstoten in einem Jahr noch deren Veränderungen zwischen zwei Jahren auch nur die geringsten Hinweise darauf, ob die Verkehrsteilnahme gefährlicher oder sicherer geworden ist. Hierzu müsste man die Verkehrsunfälle bzw. die Verkehrstoten zum Verkehrsaufkommen in einer Region in Bezug setzen. Steigt das Verkehrsaufkommen, ohne dass die Straßen entsprechend ausgebaut werden, führt dies üblicherweise zu mehr Unfällen. Aber auch bei unverändertem Verkehrsaufkommen kann sich die Anzahl der Verunglückten im Straßenverkehr verändern, wenn beispielsweise ein wichtiger Zubringer gesperrt wird und die Umleitung vieler Kraftfahrzeuge über Wohngebiete zu mehr Unfällen mit Personenschaden führt.
Die Verkehrsstatistik ist sicherlich von hoher Bedeutung. Man sollte jedoch nicht durch den Ausweis zweifelhafter Wachstumsraten und der Verwendung von unterschiedlichen Zeiträumen Ängste bei der Bevölkerung schüren oder dieser eine Verbesserung der Verkehrssicherheit vorgaukeln. Insbesondere sollte man aber aus diesen Zahlen keinerlei Rückschlüsse über die Veränderung der Verkehrssicherheit ziehen.
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de.
Danke für den Artikel. Mich nerven die vielen statistischen Pseudobegründungen.
In der Arbeitswelt ist es nervend, wenn Panik ausbricht, nur weil im Management-Dashboard irgendeine Zahl von gelb auf rot geht. Oft hilft es, hier einfach mal die Datenbasis mit ein paar Plausibilitätschecks zu hinterfragen.
In der Medizin wird es gefährlich. Dies gilt insbesondere dann, wenn auch hier die Datenbasis bspw. für den Sinn und Unsinn von Vorsorgeuntersuchungen extrem zweifelhaft ist.
Die Angst vor der Ansteckung mit dem HIV-Virus bei Bluttransfusionen ist wohl sehr gering, aber jeder Einzelfall wird gepusht, während die vielen 1000 MRSA Toten kaum interessieren.
Wir haben Probleme mit der Risikoeinschätzung, und es ist gut, dass solche Publikationen gibt.
"Ängste bei der Bevölkerung schüren?" Bestimmt nicht, die Bevölkerung hat sich auch bei mehr als 20.00 Verkehrstoten zu Beginn der 70er recht wenig von irgendwelchen "Ängsten" beeinflussen lassen, sondern ist fröhlich und bester Dinge dem nächsten Unfall entgegen gefahren.
Solange die EU das so totalitäre wie irreale Ziel "Vision Zero" verfolgt, ist jedes Mittel recht, um den Individualverkehr zu gängeln. Die Presse spielt bei dem Schwachsinn gerne mit, weil er Aufmerksamkeit garantiert.
So lange Leute sich mit Fahrzeugen bewegen, wird es (tödliche) Unfälle geben. Aber da niemand die Nerven hat, das öffentlich zu sagen, werden wir weiter mit debilen Statistiken und in der Folge bescheuerten Regelungen leben müssen.