Unter der Gürtellinie

Frank Jaspermöller legt mit „Boxerherz“ einen Roman vor, dessen Protagonist sich seiner traumatischen Familienvergangenheit stellen muss, um eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln. Ein Debüt voller klarer, schnörkelloser, bisweilen schonungsloser bis zärtlicher Sprachlichkeit.

Der Protagonist des Romans ist Stoffel. Im ersten Teil des chronologisch erzählten Romans erfahren wir die Geschichte seiner Eltern und Großeltern zur Zeit des 2. Weltkriegs bis zu seiner Geburt und den ersten Lebensjahren. Die erste brutale Zäsur ist der Suizid seiner Mutter, nach dem er zunächst bei seinen Großeltern aufwächst. Seine Großmutter nennt er Mama und niemand in der Familie redet offen mit ihm über den Grund des Selbstmords, das Thema wird kontinuierlich tabuisiert. Als Jugendlicher entdeckt Stoffel seine Zuneigung zu Jungs, aus Verliebtheit zu einem Kameraden zieht er zu seinem Vater, der inzwischen wieder verheiratet ist, ein schlichter Arbeiter, der nach der Devise lebt „Es geht nicht warum was wir wollen, sondern es geht im Leben darum, was wir müssen.“ Gerade er schweigt sich über die Gründe des mütterlichen Freitods vehement aus. Der zarte Stoffel ist so ganz anders gestrickt, als das väterliche Rauhbein, als Erwachsener zieht er nach Hamburg, besucht die Schauspielschule und lebt dort das erste Mal sein Coming Out, taucht in die schwule Künstlerszene ein. Doch es macht ihn nicht glücklich, weitersuchend heuert er in einem Clubhotel auf einer griechischen Insel als Animateur an, kommt dort einen Sommer lang tatsächlich auch wirklich an, erlebt die erfüllte Liebe zu einem Mann, die jedoch nur einen heißen Tag lang bleibt, bevor sich der Geliebte für seine Frau entscheidet und sich wie eine Fata Morgana im Flirren der griechischen Hitze auflöst.

Griechenland ist damit libidinös kontaminiert und Stoffel flieht weiter, diesmal nach Berlin, wo er Redakteur eines Magazins wird. Er schlägt heftig in der Szene der Hauptstadt auf. Zwischen Drogenexzessen und schwuler Promiskuität schwimmt er zunehmend bewusstloser im Techno-Rhythmus der Subkultur des blindwütigen Stechens, Nehmens, Abspritzens zur unseligen Insel der totalen Besinnungslosigkeit auf der Suche nach einer inneren Befriedigung, die er nicht mehr finden kann, weil er sich selbst schon lange nicht mehr spürt. Als er am absoluten Nullpunkt angekommen ist, landet er im Haus am See, so der heimelige Name der psychiatrischen Klinik, die es ihm ermöglicht sich seinen Problemen zu stellen, die in seinem Kindheitstrauma begründet liegen. Vieles wird zum Ende für ihn klarer, das Ende bleibt offen, es kann die Möglichkeit eines Neuanfangs für Stoffel sein.

Familie, Trauma und Tabu
„Boxerherz“ ist in erster Linie eine faszinierende und zugleich brutale Familiengeschichte und erst in zweiter Linie eine Seelenodyssee und Gay-Story, denn für Stoffels Suchbewegungen zwischen Hamburg, Ägäis und Berlin ist seine Orientierung weniger maßgeblich, als sein Nichtwissen um den Ursprung seiner Existenz, seine Mutter, die zeitlebens von ihrem zweiten Stern träumte und die daraus für ihn resultierenden Befürchtungen, Ängste und Zwangsvorstellungen.

Familientraumata können sich über mehrere Generationen vererben. Wer unwissentlich von Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern ungelöste Traumata übernommen hat, kämpft meist mit vorerst unerklärlichen seelischen und körperlichen Leiden. Der amerikanische Therapeut Mark Wolynn beschreibt in seinem Buch „Dieser Schmerz ist nicht meiner. Wie wir uns mit dem seelischen Erbe unserer Familie aussöhnen.“ (München 2017) wie es den Betroffenen gelingen kann, sich von der Last vererbter Traumata zu befreien. Das ist das eigentliche Thema von Stoffel. Das zweite Thema ist das des Tabus, nämlich der in seinem Fall stillschweigend praktizierten familiären Übereinkunft, die ein Reden über die Gründe des mütterlichen Suizids konsequent verbieten. Das Goethe’sche

Was du ererbt von deinen Vätern,
erwirb es, um es zu besitzen.

bleibt Stoffel solange verwehrt, bis er das Erbe seiner Mutter erwerben kann, bis dahin bleibt er in seiner Suche nach sich selbst ein moderner Odysseus.

Sprachlichkeit

Die Sprachlichkeit in „Boxerherz“ folgt einer konsequenten Dramaturgie; von der betont sachlichen Beschreibung der Vorfamiliengeschichte steigert sie sich über den Suizid der Mutter, die jugendlichen Phantasien Stoffels und die Entdeckung seiner homoerotischen Neigung, die Theaterphase bis hin zum totalen Glücksmoment in Griechenland. Gerade mit der Beschreibung des Sommers auf der Insel gelingt Jaspermöller ein hellenistisches Sozialmosaik, das in seinem Kenntnisreichtum, der Detailverliebtheit, den Landschafts- und Sozialbeschreibungen mit der eingebetteten Liebesgeschichte der eigentliche stilistische Höhepunkt des Romans ist. Der anschließende Berlin-Teil folgt in der Sprachlichkeit der Fallhöhe des Protagonisten: Wüst klatscht der Autor einem die wie beliebig scheinenden Szenen zwischen Drogen, Ständer, Swinger und Arschfick um die Ohren, bis von Stoffel fast nichts mehr übrig bleibt. Doch diese harte Sprachlichkeit haben wir schon woanders gelesen, die Zärtlichkeit des Hellas-Teils ist dagegen groß. Nachdenklich dann der Schlussteil im Haus am See, in der die präzisen und besonders psychologisch skizzierten Beschreibungen der Patienten wie Ärzten den Leser nachvollziehen lassen, warum Stoffel dort trotz seiner Krise mit der Zeit gut ankommt. Da er nicht reden mag, fordert die Ärztin ihn auf, seine Gedanken aufzuschreiben. „Boxerherz“ ist das Ergebnis.

Fazit
Ein großartiger Roman über Familientraumata und Selbstfindung in einer Sprachlichkeit, die den Leser nicht mehr loslässt.
Uneingeschränkte Empfehlung für Leser mit starken Nerven. Nix für Weicheier.

Frank Jaspermöller
Boxerherz. Eine unerzählte Geschichte.
Kindle, 214 Seiten, 1673 KB Amazon Media EU S.à r.l
ASIN B086RR1Q1V
7,25 €

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