Unterwegs in der Hoffnungsstraße, Essen

Das Elend in Essen fängt in einer Sackgasse an. Direkt neben der Innenstadt. Ein kleiner Wendehammer, darin Parkplätze für ein halbes duzend Autos, einer für Behinderte. Mehr nicht. Die Straße heißt Hoffungsstraße. Hier in der Gegend liegt die Arbeitslosenquote bei rund 50 Prozent. Von 1300 Leuten, die hier leben, haben 305 einen Job. 303 sind arbeitslos gemeldet. Der Rest fällt durch das Raster, irgendwie. Es ist kalt an diesem Tag. Die Temperatur liegt knapp über Null Grad. Der Wind kommt aus Osten. Der Deutsche Wetterdienst hat eine Sturmwarnung herausgegeben.

Vor einem grauen Bau aus den Sechziger Jahren, stehen drei Jugendliche. Einer von ihnen, er heißt Pascal, springt hoch. Er boxt seine Arme in den Himmel. Ein Sprung, als wäre er einer dieser Tänzer auf MTV. Pascal fällt auf den Boden. Seine Freunde lachen. Sonst sieht keiner zu.

Pascal hat einen Hauptschulabschluss, sagt er. Eine Lehre hat er abgebrochen. Jetzt wohnt er im Heim des Christlichen Vereines Junger Menschen (CVJM). Hier soll er zur Ruhe kommen und einen Weg in die Gesellschaft finden, sagen seine Betreuer.

Natürlich sucht er eine Wohnung, sagt Pascal, dann kann er eine neue Lehre anfangen. Und später Arbeit finden. Richtige Arbeit, nicht so was wie „Arbeit statt Sozialhilfe“. Vielleicht eine Familie, ja das wäre schön, er selbst kommt ja aus dem Heim.

Das ist die Zukunft von Pascal, so wie er die sich erträumt. Ein 18 Jähriger Junge mit weichen Gesichtszügen und einer viel zu weiten Hose auf den schmalen Hüften.

Jetzt muss Pascal allerdings erst mal den Tisch decken in der Kantine des CVJM. Teller, Tassen, Messer ordentlich auf die Plastiktischdecken der alten Holztische. Es sieht aus wie in einer Jugendherberge. Auf den Fensterbänken diese Pflanzen, die keine Arbeit machen, Stechpalme und Ficus.

Pascal muss den Tisch decken, weil er mit ein paar Kumpels kleine rote Keramikkügelchen vor das Fenster der Anmeldung im ersten Stock geschmissen hat. Die Jungs saßen im Treppenhaus. Hinter ihnen in einem Topf die Kügelchen. Pascal und seine Kumpels haben mit den Keramiktränen gespielt. Irgendwann ist die erste gegen die Scheibe geflogen. Tock. Die zweite. Tock. Immer mehr, bis die Kügelchen verstreut lagen, wie nach einem roten Hagelschauer. „Wenn man Langeweile hat, kommt man auf dumme Gedanken“, sagt Pascal.

40 Männer unter 27 können im CVJM-Haus schlafen. Für die Älteren stehen 30 Betten bereit. Das Heim ist fast immer ausgebucht.

Viel Geld fließt im Ruhrgebiet in den Strukturwandel. Eine Zeche wird zu einem vorzeigbaren Weltkulturerbe umgebaut. Ein internationales Theaterfestival wird finanziert. Und eine Kulturhauptstadt. Ein wenig Geld floss auch in eine Studie über die Bildungssituation der Jugendlichen im Ruhrgebiet. In dem Papier kommen Professoren zu dem Schluss, dass vor allem Jugendliche aus sozial schwachen Milieus unter einer minderwertigen Bildung leiden. Es gibt viele Schulabbrecher. Sie haben kaum Chancen auf eine Ausbildung. Aus Kostengründen wurden Programm eingefroren, die sich speziell auf diese Jugendliche konzentriert, um ihnen zu einer Ausbildung zu verhelfen. Geld wurde gestrichen. „Und was passiert mit den Jugendlichen?“ Vor ein paar Jahren antwortete der damalige Chef der da noch bestehenden Projekt Ruhr GmbH, Hanns Ludwig Brauser, auf die Frage so: „Das ist eine verlorene Generation.“ Mit den Mittel, die noch übrig seien, müsse man nun dafür sorgen, dass nicht noch die nächste Generation verloren ginge. Er sprach von Frühförderung und Sprachtraining. Von Familienhilfe und dem intelligenten Umgang mit den Sozialtöpfen. „Es ist nicht mehr viel Geld da“, sagte Brauser. Seine Firma war für die Verteilung der EU-Strukturmittel bis 2006 verantwortlich. Danach wurde das Landeseigene Unternehmen aufgelöst.

Hinter dem CVJM-Wohnheim führt die Hoffungsstraße über einen sachten Anstieg hinauf zu einem Kreisverkehr. Am Rand ein alter, verwüsteter, jüdischer Friedhof, an den nur noch ein einzelner Stein erinnert. Ein Mann steht auf der Straße. Er hat eine graue Lederjacke an und ein blasses Wintergesicht. Der Mann geht gut dreißig Schritte die Straße hoch und dreht dann wieder um. Schließlich bleibt er stehen. Er stellt sich als Manfred vor. „Ich bin seit sieben Monaten arbeitslos“, sagt er. Zuerst sei es schwer gewesen. Darüber zu reden. Keine Arbeit. Manfred ist Sechsundvierzig. Gelernter Elektriker. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist so, als sei ich über, wie nicht abgeholt. Warum gibt es mich? Was mache ich? Wie kaufe ich eine Playstation?“ Für den Jungen, er ist jetzt vierzehn. Die Gedanken kreisen im Kopf. Immer wieder. Sie treiben Manfred auf die Straße. Lassen ihn ziellos umherstreifen und zu Boden starren. Manfred hat Angst. „Meine Zukunft? Ich will wieder einen Job, irgendwas. Ich habe noch fünf Monate, dann krieg ich wohl das Arbeitslosengeld Zwei. Das ist doch Sozialhilfe, oder?“ Mit der Frau kann er reden. Manchmal. Ob sie ihn versteht? Er weiß es nicht. Manfred sagt, er komme sich vor wie in einem Tunnel. Ohne Licht. Und es werde immer dunkler.

Die Hoffungsstraße macht eine kleine Biegung. Dahinter erhebt sich ein vierstöckiges Ziegelsteingebäude aus einem kleinen Parkplatz. Das Haus ist frisch renoviert. Im ersten Stock gibt es ein kleines Cafe. Parterre eine Notschlafstelle mit zwölf Betten. Im Hof, hinter einem Stacheldrahtzaun, liegt der Druckraum der „Suchthilfe Direkt“. Junkies können sich hier ohne Angst vor der Polizei ihren Schuß setzen. Andreas hat seine Jacke ausgezogen und über einen Stuhl gehängt. Der Raum ist gekachelt wie ein Bahnhofklo. Helles Neonlicht. An den Wänden durchgehende Blechspiegel. In der Ecke ein Kotzbecken. Es riecht nach Schweiß. Das Spritzbesteck steht vor den Junkies in weißen Plastikbechern. Darin eine braune Papierserviette, ein halber Zigarettenfilter, ein steril verpackter Alkoholtupfer, eine Kanüle, eine Einwegspritze, ein Metalllöffel und ein wenig Ascorbinsäure. Alles was ein Drücker braucht.

Andreas klopft auf seinen Arm. Dann setzt er die Spritze an. Aus dem Radio plätschert WDR Zwei.

Wenn Andreas wenige Minuten nach dem Schuss spricht, fangen seine Gedanken klar an. Dann sinkt sein Kopf auf die Brust, seine Pupillen verschwinden unter den Lidern, nur noch weiße Augäpfel sind zu sehen.

Gegenüber des Druckraums reißt ein Bagger eine alte Werkstatt ein. Rote Ziegelsteine bersten, rieseln auf die Hoffungsstraße, ausgerissene Stahlträger stechen in die Luft.

Andreas wünscht sich für die Zukunft eine Wohnung. Damit er nicht mehr auf der Straße schlafen muss, so wie gestern. Dann kriegt er auch eine Arbeit, ist er sich sicher. „Ich mag schwere körperliche Arbeit“. Seit 18 Jahren hängt Andreas an der Spritze. Er ist jetzt 33. In dem Alter planen andere ihre Zukunft, gründen Familien und sorgen für die Rente. Andreas hört zu. Dabei faltet er ein Papierpäckchen, um zu zeigen, wie man Heroin handelt. Er vermittelt jetzt den Stoff, sagt er. Dabei fällt auch was für ihn ab. Aufhören? Noch nicht. Eine Freundin? Hat er gehabt. Damals. „Aber ehrlich, mit den Frauen hier ist doch nichts anzufangen. Die gehen doch fast alle auf den Strich.“ Andreas schüttelt den Kopf. „Eine Wohnung, das wär’s, dann hab ich’s geschafft.“

Nach offiziellen Schätzungen gibt es 3500 Drogensüchtige in Essen. Und einen Druckraum.

Einen Steinwurf hinter der Drogenhilfe geht es rechts zur „Wärmestube“. Hier gibt es Kaffe und Suppe. Montags bis Donnerstags von 8.15 Uhr bis 16 Uhr. Freitags bis 15 Uhr. Wohnungslose dürfen hier sitzen. Sie können auch eine Adresse bekommen. Damit sie Post kriegen und Sozialhilfe. 293 Euro im Monat. 500 Menschen sind hier zur Zeit gemeldet. Rund 20 Prozent davon sind Frauen.

Die Stube ist mit hellen Tischen eingerichtet. Überall stehen Aschenbecher. Ein Mann löst ein Kreuzworträtsel. Ein anderer steht an der Essensausgabe und kauft sich einen Becher Eistee für 10 Cent. Es riecht nach Erbsen. In den Nebenzimmern sitzen Sozialarbeiter. Die Türen stehen offen. Wer will, kann um Hilfe bitten.

Metin Yildirim hatte mal eine Kneipe in Essen. Jetzt nicht mehr. „Meine Zukunft? Ich weiß nicht, wo die ist.“ Yildirim hat einen graudurchwachsenen Rauschebart. Lachende Augen und gelbe Finger, vom rauchen. Er hat an die Propheten geglaubt. „Aber die Erde hat kein Interesse mehr an den Propheten.“ Jetzt sitzt Metin Yildirim eigentlich immer in der Wärmestube. Morgens wenn sie aufmacht, ist er da. Bis sie zumacht. Dann steht er auf und geht langsam die Hoffungstrasse hinunter. An der Straßenecke biegt er ein in die Lichtstraße. Dort im ersten Haus auf der linken Seite, da kann er schlafen. Die Zimmer in der Übernachtungsstelle sind frisch renoviert. In jedem Raum stehen vier Betten. Die Wände sind sauber, der Boden gewischt. Jeder bekommt einen abschließbaren Schrank, für sich allein. Der Holzkasten ist einen Schritt breit und drei Schritt hoch. „Meine Zukunft ist morgen wieder aufstehen“, sagt Metin Yildirim.

Manche bleiben liegen.

Foto. Andre Zelck

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Ganzesaetze
15 Jahre zuvor

Ich kann mich noch dran erinnern, wie ich vor etwa 15 Jahren zur Schule ging, im tiefsten in Rheinland-Pfalz. Damals sah ich dort bärtige Männer, wie sie Plakate „Kontra Großkapital“ klebten. Auf den Plakaten war ein großer lachender roter Stern zu sehen, der die Faust zum Gruße ballte, und darunter Stand: DKP, Hoffnungsstr. 18, Essen.

Mitten in der rheinland-pfälzischen Provinz habe ich mir da gedacht: Die Hoffnungsstraße in Essen, das ist also die Zentrale von diesen bärtigen Männern, die in der 16.000-Einwohnerstadt zwischen Mosel und Eifel so wirkten, als stammten sie von einem anderen Stern. Und ich malte mir aus, dass es in der Hoffnungsstraße wohl ungefähr so aussehen muss, wie auf den alten Liedermacher-Plattencovern meiner Eltern. Wenn nicht schon hier zwischen Weinbergen und Dorfkneipen, dann gibt es wenigstens da ein Stückchen von einer besseren Welt.

Inzwischen wohne ich schon seit vielen Jahren selbst im Ruhrgebiet. In der Hoffnungsstraße in Essen bin ich nie gewesen, und die kindliche Faszination für die bärtigen DKP-Kommunisten ist einer differenzierten Kritik an deren Politikansätzen gewichen. Aber die Vorstellung, dass es in der Hoffnungsstraße in Essen irgendwie spannend, politisch und schön sein muss, die hat sich gehalten – bis gerade eben, als ich diese Reportage von David Schraven gelesen habe. Vielleicht hätte ich selbst mal vorbei fahren sollen. Manchmal ist das Leben noch trister, als man sich es vorstellt. Trotzdem herzlichen Dank für die gute Reportage!

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Kai
Kai
15 Jahre zuvor

Etwas weniger Tränendrüse täte dem Text gut. Aber nett.

Uwe Knüpfer
Uwe Knüpfer
15 Jahre zuvor

@Kai: Weit mehr als „nett“. Manchmal sind ein paar Tränen durchaus angebracht, und Fühlen kann beim Denken helfen. Eine tolle Reportage! Respekt.

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