In der Hochphase der postdramatischen Textflächen verschwammen Text und Regieanweisungen zu einem unentwirrbaren Ganzen. Was gespielt werden sollte, wurde gesprochen und dazu etwas ganz anderes dargestellt. Das britische Experimentaltheaterkollektiv um Tim Etchells dreht die Schraube noch etwas weiter und schafft ein imaginäres Theater aus reinem Text. Gerade sind sie als zweiter Vertreter NRWs neben dem Schauspiel Dortmund mit der „Borderline Prozession“ mit ihrer letzten PACT-Produktion „Real Magic“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Am 28.4. brachten Forced Entertainment ebenfalls auf PACT Zollverein ihre neue Produktion „Dirty Work (The Late Shift)“ zur Uraufführung.
Das Setting verweist zurück in die Zeit des Shakespeare-Theaters. Eine schlichte Bretterbühne mit gerafftem blasspurpurnem Vorhang und einer Reihe Lampen am vorderen Bühnenrand, die die Szenerie von unten beleuchten. Fünf Akte (ebenfalls ganz klassisches Drama) präsentieren Cathy Naden und Robin Arthur auf dieser Bühne. Im Hintergrund sitzt reglos Terry O’Connor an einem Tischchen, vor sich einen ramponierten Kofferplattenspieler, von dem die Bühnenmusik kommt. Lautlos klappt sie ihn hin und wieder auf und spielt die immer gleiche knisternde Platte mit einem melancholischen Barpiano-Stück ab. Nur einmal im letzten Drittel des Abends gibt es eine sphärische elektronische Musik zu hören. Lange Zeit über tut O’Connor aber gar nichts und scheint mit offenen Augen eingeschlafen zu sein.
Derweil ereignen sich auf der Bühne unglaubliche Dramen. Das Stück beginnt gleich mit fünf explodierenden Atombomben, etliche Katastrophen weiter betreten die Stripper die Bühne und liefern eine schockierende Livesexperformance, bei der die Kinder viel zu spät aus dem Zuschauerraum geschafft werden. Etliche Menschen werden ermordet oder bringen sich selbst um, ein paar Kriege passieren. Irgendwann werden Abertausende von Schmetterlingen in den Zuschauerraum fliegen gelassen, dann auch Vögel. Es gibt Zaubertricks und eine ganze Reihe von angekündigten Attraktionen, die aber leider ausfallen müssen, weil die Beteiligten im Stau stecken geblieben oder erkrankt sind. Überbrückt wird die Zeit dann von den Bühnenarbeitern und Verwaltungsangestellten des Theaters, die einfach mal zeigen, was sie auf so einer Bühne auch machen könnten.
Nichts von all dem ist auf der Bühne zu sehen. Naden und Arthur erzählen es nur. Manchmal einfach als Aufzählung von verschiedenen Todesarten und Unfällen, gelegentlich aber auch ausführlich und detailliert. Oftmals endet die Erzählung einer Todesart oder einer Katastrophe mit dem lakonischen Satz „with the tragic but predictable conequences“. „Dirty Work“ ist eine Art Megashakespeare, in dem die mordlüsterne Phantasie des Schriftstellers potenziert wird, so wie sie für ein von Medienbildern der Grausamkeit übersättigtes Publikum heute aussehen müsste. Ein schön schauriges Horrortheater, das sich nur im Text und der Imagination der Zuschauer abspielt. Dabei sind die stärksten Augenblicke die, in denen es um ganz kleine Dinge geht. Wenn Naden plötzlich sagt, dass man auf der Straßen außerhalb des Theaters die Autos höre und ein Krankenwagen mit Sirene vorbei fahre. Und plötzlich ertappt sich der Zuschauer dabei, dass er ganz genau lauscht, ob da nicht wirklich etwas zu hören ist. Oder wenn erwähnt wird, dass in der Mitte der Bühne ein Spot angehe. Da gaukelt das sich ganz unmerklich ständig minimal verändernde Bühnenlicht einem wirklich etwas vor. Doch auch das ist nur Einbildung, die aus dem Text kommt. Naden und Arthur sitzen 90 Minuten auf zwei einfachen Holzstühlen und sprechen. Nur ein einziges Mal steht Naden auf, geht zwei Schritte an die Rampe und bleibt dort stehen. Ein monströses theatralisch Zeichen in diesem Erzählstück, das aber auch nur ins Leere läuft. Ein klug gesetztes Spiel mit der Erwartung der Zuschauer, denen vielleicht die Erzählung der Grausamkeiten nicht ausreicht und die endlich Action sehen wollen. Und tatsächlich wirkt diese minimale Aktion in der völligen Ereignislosigkeit wie der Gipfel des Dramatischen.
Es ist der beiläufige Charme des Abends, der dieses gewitzte Spiel mit der Erwartungshaltung der Zuschauer, mit der Imagination, genauso wie die immanente Kritik daran, trägt. Nie kehrt sich ein Konzept oder eine Idee nach außen und wird dem Publikum aufgedrängt. Naden und Arthur sitzen nur da und erzählen – alles andere machen die Zuschauer in ihren Köpfen selbst.
Weitere Vorstellung: 29.4., 20 Uhr, PACT Zollverein