Das Saallicht im Wuppertaler Opernhaus ist noch an, als ein Arm einen schwarzen Stuhl durch die Seitentür hereinreicht und abstellt. Dann tritt von einem nicht sichtbaren Stuhl aus der erste Tänzer auf die Sitzfläche, ein weiterer Stuhl wird hereingereicht, abgestellt, eine Tänzerin folgt. Nach und nach wächst eine Brücke aus schwarzen Stühlen an der Rampe entlang, die Mitglieder staksen hintereinander über die Sitzflächen und langsam geht auch das Saallicht aus. Immer wieder gibt es einen unsicheren Blick in das Publikum: Sind alle da? Der Bühnenboden scheint nicht geheuer zu sein, eine Terra Incognita, da bleibt man zunächst lieber bei dem, was man kennt, den Stühlen aus dem Café Müller.
Als im vergangenen Jahr Adolphe Binder die Leitung des Wuppertaler Tanztheaters übernahm und das einzig mögliche tat, nämlich neue Choreographien für das Ensemble ankündigte, stieß sie nicht nur auf Wohlwollen. Wie ein Tabubruch wirkte es für die eisernen Bausch-Jünger, dass diese Compagnie nun etwas anderes tanzen sollte als die heiligen und ewig gültigen 45 Arbeiten der Gründerin. Dabei ist es nicht immer nur edle Patina, die die oft jahrzehntealten Schöpfungen mittlerweile überzieht, an manchen Stellen frisst sich längst der Rost rein. Zuletzt war das gut zu beobachten bei der Wiederaufnahme von „Sieben Todsünden“ von 1976. Heute ist dieser Abend nur noch als historisches Dokument goutierbar, das vorführt, wie Pina Bausch ihre eigene Sprache zu finden suchte. Dass in nächster Zeit immer mehr der Repertoirestücke dieses Schicksal erleiden werden, ist längst absehbar. Selbst Pina Bausch wusste ja um diese Alterungsprozesse ihres Werkes und versuchte sie bei jeder Wiederaufnahme durch massive Überarbeitung aufzuhalten. Seit ihrem Tod 2009 jedoch ist niemand mehr da, der es wagen würde Hand anzulegen und der Staub der Zeit legt sich unaufhaltsam auf die sorgsam musealisierten Stücke.
Dass Dimitris Papaioannou es nun wagt, als erster eine neue abendfüllende Arbeit mit dieser fast mythischen Compagnie auf die Bühne zu bringen, verdient zunächst höchsten Respekt. Ob es klug ist, sich dabei so weit vor der Gründerin zu verneigen, dass auch bei ihm der Titel des Stückes erst am Abend selbst feststeht oder zumindest bekanntgegeben wird, sei dahingestellt. „Seit Sie“ heißt der Abend nun also, nur sehr wenig verästelt. „Sie“ das ist Pina Bausch und „nicht mehr da ist“ ist wohl die verschwiegene Ergänzung des unvollständigen Satzes.
Doch eigentlich ist „Sie“ immer noch da. Hoch oben auf dem Schaumstoffgebirge, das die gesamte Bühnenrückwand einnimmt scheint sie noch zu wachen im fahlweißen Abendkleid und unter einem Baum, der aus der Schlussszene von „Palermo Palermo“ stammt und dort wieder eingepflanzt wird. Später wird ein Mann ihn fällen. Zur Strafe muss er sich dann mit einem Zweig selbst kasteien und flugs wird ein neues Bäumchen auf die Bühne gezerrt und auf den Berggipfel gepflanzt.
Papaioannou ist durchaus ein Bildermagier. Der Maler und Comiczeichner kam erst spät zum Theater, avancierte aber in Griechenland schnell zum Undergroundstar und durfte dann auch die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Athen gestalten. Sieht man seine Arbeiten, so versteht man sofort, warum: Papaioannou spielt bravourös auf der Klaviatur der Bühnentricks. In Wuppertal sind das oft solche, die aus dem Repertoire des schwarzen Theaters kommen. Oftmals werden Menschen da aus Körperteile vieler Akteure zusammengesetzt. Das ist überraschend und wird vom Ensemble auch perfekt umgesetzt. Doch allzuoft riecht es sehr nach Zaubertrick, nach Show und Varieté. Da kann Papaioannou noch so sehr Mythologisches und Religiöses zitieren: Die Midassage und das Gorgonenhaupt, den heiligen Sebastian und die Jungfrau Maria und Adam und Eva sowieso. Vieles davon ist wohlfeil und ein bisschen beliebig auf die Bühne gestellt. Unangenehm albern wird es, wenn in einer Szene die vielarmige brave Hausfrau die ganze Koch- und Backarbeit gleichzeitig erledigt, dann den Fleischwurstschwanz des Mannes noch schnell zum Abspritzen bringt, gleich darauf zerhackt und zum Spiegelei in die Pfanne gibt, während sie das Sperma aufschlägt, um dann dem entmannten Mann das Abendessen zu servieren.
Manches, was Papaioannou erfindet, ist aber auch schlicht wunderschön: Wenn in einer rasenden Walzerszene vier Männer einen Tisch umgekehrt hereinwirbeln und die Frau, die darauf steht, nahezu unbeweglich zu sein scheint. Auch die Idee, Teile des Soundtracks durch Verstärkung der Bühnengeräusche entstehen zu lassen, hat ihren Reiz. Und wenn am Schluss ein Pärchen die zwischen ihre Oberkörper geklemmten Spaghetti (noch einmal „Palermo Palermo!“) zerbrechen und wie Pfeile durch die Luft fliegen lässt, nur weil sie sich näher kommen, dann ist das wunderschön. Doch es bleiben an diesem sehr disparaten Abend einzelne Highlights.
Zuletzt sind wieder die Stühle da. Ein einzelner Tänzer läuft wie am Beginn über die Sitzflächen und sammelt sie dabei alle alleine ein, bis er nahezu ganz unter einem merkwürdigen Panzer aus Stuhlbeinen verschwindet und dann zusammen bricht. Da mag sich Papaioannou selbst gemeint haben, der vor Ehrfurcht erstarrt vor diesem Ensemble steht, das Erbe von Pina Bausch irgendwie in die Zukunft führen soll, aber keine Idee hat, wie das gehen könnte und letztlich zu Boden geht. Seine Selbstzweifel sind an diesem Abend überall zu sehen und zu spüren. Am deutlichsten vielleicht darin, dass er Charles Ives‘ „Unanswered Question“, jene Inkunabel der Moderne, im Soundtrack anspielt, doch nur mit der schwebenden Streichfläche, das eigentliche Fragemotiv spart er aus. Er wagt es nicht einmal die ohnehin unbeantwortbare Frage zu stellen. Stattdessen liefert er nur eine allzu verklemmte Hommage an Pina Bausch, die zu allem Überfluss noch der Geehrten ungewollt Schaden zufügt. Indem nämlich Papaioannou bei seinem Frauenbild ganz bei dem Pina Bauschs bleibt. Indem er die ganzen offenen, langen Haare schwingen lässt, die Frauen immer wieder als von den Männern erotisch bedrängte zeigt, deren einziger Ausweg es ist, das erotische Spiel der Männer mitzuspielen und vielleicht kokett an sich zu reißen, zeigt Papaioannou auch, an welcher Stelle Bauschs Werk den rasantesten Alterungsprozessen ausgesetzt ist: Da, wo sie einst mit den Geschlechterrollen brach, aber heute eben hoffnungslos altbacken in diesen Brechungen wirkt.
Termine und Tickets: Wuppertaler Tanztheater
[…] obwohl sie dafür nur wenig verantwortlich war. Sowohl der in Ehrfurcht schlicht erstarrte Papaioannou als auch Øyen klebten in ihren Arbeiten an einem Frau-Mann-Verhältnis, an Rollenbildern und […]