Verliert der Holocaust durch Zuwanderung nach Deutschland an geschichtspolitischer Bedeutung?

KZ Auschwitz Foto: Deutsches Bundesarchiv Lizenz: CC BY-SA 3.0 de


Der Versuch, Migranten zu instrumentalisieren, um die Bedeutung des Holocausts abzuwerten, scheitert an der Geschichte.

In einem Spiegel-Interview, das der Berliner Historiker Michael Wildt gemeinsam mit der Philosophin Susan Neiman aus Anlass der Veröffentlichung ihres Buches „Historiker streiten“ gab, greift Wildt ein Argument auf, das in den vergangenen Jahren häufig zu hören war: „Die einen sorgen sich, dass die Grundfesten des bundesdeutschen Geschichtsbilds ins Wanken geraten, wenn man an der Zentralität des Holocausts rüttelt. Die anderen finden, dass sich Deutschland für andere Vergangenheitsbezüge öffnen sollte – immerhin gehören mittlerweile viele Menschen migrantischer Herkunft zur deutschen Gesellschaft, deren Vorfahren zur NS-Zeit noch in anderen Regionen gelebt haben.“

In einem Essay, einer überarbeiteten und ergänzten Fassung seiner im Februar gehaltenen Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität, wurde Wildt deutlicher: „Heute prägen viel mehr Menschen mit migrantischem Familienhintergrund die deutsche Gesellschaft und erheben zu Recht Anspruch darauf, mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen zu werden.“ Sollte allein schon wegen des historischen Hintergrunds von Migranten die Beschäftigung mit dem Holocaust heruntergefahren oder in neue Kontexte, zum Beispiel den des Kolonialismus, gesetzt werden?

Im Kern dieser Debatte geht es nicht in erster Linie um einen geweiteten Blick auf die Geschichte, gegen den es kein vernünftiges Argument gibt. Ihre Aufgabe ist es, die Sicht auf den Holocaust als ein Menschheitsverbrechen von vielen zu etablieren. Neu ist das nicht: Schon während des NS-Zeit stellten Teile der deutschen Bevölkerung den Bombenkrieg der Alliierten als Reaktion auf „das, was wir mit den Juden“ gemacht haben hin. In der Nachkriegszeit wurde in Deutschland den Bombenangriffen dann auch häufig zu Unrecht jeder militärische Nutzen abgesprochen. Vor allem wenn es um den Angriff britischer und amerikanischer Flugzeuge auf Dresden im Februar 1945 ging, war oft von einem „Bomben-Holocaust“ die Rede. Ein klassisches Beispiel für Entlastungsantisemitismus.

Wildt und Neiman folgen indes einer postkolonialistischen Linie: Bei ihr geht es letztendlich darum, die Untaten der Nazis auf eine Stufe mit denen der westeuropäischen Kolonialstaaten zu stellen. Ziel ist es nicht, in erster Linie an die Verbrechen in den Kolonien zu erinnern, sondern die Denunziation der westlichen Staaten, die ohne jeden Zweifel grauenhafte Taten begingen. Deutlich wird das daran, dass postkolonialistische Geschichtsschreibung die Rolle der osmanischen, arabischen, und subsaharischen Mächte zum Beispiel beim Sklavenhandel in der Regel geflissentlich ignoriert.

Die Kolonialstaaten Europas sollen so auf eine Ebene mit dem nationalsozialistischen Deutschland gestellt werden, die Idee des Westens und die der Aufklärung abgewertet werden, denn auch in ihren Namen wurde ja offenbar Verbrechen begangen, die so grauenhaft wie der Holocaust waren.

Es geht als um eine Instrumentalisierung der Geschichte unter dem Banner des Postkolonialismus. Und da passt es in Bild, wenn Wildt im Spiegel sagt, die aus Europa erst ins britische Mandatsgebiet und später nach Israel geflohenen Juden seien „weiße Siedler“ gewesen. Für die Anhänger der postkolonialen Ideologie ist Israel ein Kolonialstaat. Und damit schwingt mehr oder weniger deutlich die Forderung nach „Dekolonialisierung“, also die Vernichtung Israels, mit.

Wildt instrumentalisiert jedoch nicht nur die Geschichte, er instrumentalisiert auch die in Deutschland lebenden Zuwanderer und ihre Nachfahren, in dem er sich scheinbar dafür einsetzt, dass auch ihre Geschichte gehört werden muss – was unterstellt, diese hätte mit der NS-Zeit nichts zu tun. Dass das Unsinn ist, erkennt man schnell, wenn man einen Blick auf die Länder wirft, aus denen vorrangig Menschen nach Deutschland zuwanderten:

Fast 80 Prozent der Migranten stammen aus Staaten, die entweder Opfer des Angriffskriegs Deutschlands waren oder zu seinen Verbündeten zählten:

Land Gesamt ca. in % der Bevölkerung des Landes Soldaten Zivilisten Gesamt Bevölkerung 
Polen 17,2 % der Bevölkerung 300.000 5.700.000 6.000.000 34.849.000 Einwohner (1938)
Sowjetunion 14,2 % der Bevölkerung 13.000.000 14.000.000 27.000.000 190.678.000 Einwohner (1939)
Jugoslawien 10,6 % der Bevölkerung 740.000 950.000 1.690.000 15.973.000 Einwohner (1941)
Ungarn 10,3 % der Bevölkerung 360.000 590.000 950.000 9.217.000 Einwohner (1939)
Deutschland 9,2 % der Bevölkerung 5.185.000 1.170.000 6.360.000 69.314.000 Einwohner (1939)
Niederlande 2,5 % der Bevölkerung 22.000 198.000 220.000 8.834.000 Einwohner (1940)
Finnland 2,5 % der Bevölkerung 89.000 2.700 91.700 3.698.000 Einwohner (1940)
Griechenland 2,5 % der Bevölkerung 20.000 160.000 180.000 7.340.000 Einwohner (1940)
Rumänien 1,9 % der Bevölkerung 378.000 378.000 19.934.000 Einwohner (1939)
Frankreich 0,9 % der Bevölkerung 210.000 150.000 360.000 41.510.000 Einwohner (1939)
Belgien 0,8 % der Bevölkerung 10.000 50.000 60.000 8.000.000 Einwohner (1940, geschätzt)
Großbritannien 0,7 % der Bevölkerung 270.825 62.000 332.825 46.038.000 Einwohner (1931)
Italien 0,7 % der Bevölkerung 240.000 60.000 300.000 42.943.602 Einwohner (1940)
Tschechoslowakei 0,6 % der Bevölkerung 20.000 70.000 90.000 14.726.158 Einwohner (1930)
Bulgarien 0,5 % der Bevölkerung 32.000 32.000 6.341.000 Einwohner (1940)
USA 0,3 % der Bevölkerung 407.316 407.316 132.164.569 Einwohner (1940)

In den meisten dieser Länder kam es zur Verfolgung und Ermordung von Juden, starben Menschen im Kampf gegen die Achsenmächte oder als Teil der mit ihnen verbündeten Armeen. Rommels Afrikakorps unterhielt in Tunesien Lager für Juden.

Land Zahl der ermordeten Juden
Belgien 28.500
Deutschland 165.000
Dänemark 116
Estland 1.000
Frankreich 75.000
Griechenland 59.000
Italien 7.000
Jugoslawien (Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien, Slowenien) 65.000
Lettland 67.000
Litauen 160.000
Luxemburg 1.200
Niederlande 102.000
Norwegen 758
Österreich 65.500
Polen 3.000.000
Rumänien 350.000
Sowjetunion (inkl. Weißrussland, Ukraine, Russland) 1.000.000
Tschechoslowakei 263.000
Ungarn 270.000

Hunderttausende Afrikaner kämpften, ebenso wie indische Soldaten in großer Zahl, an den Fronten in Afrika und Europa gegen die Achse und verhinderten damit auch, dass der Holocaust weiter geführt werden konnte: Das französische Verteidigungsministerium würdigt, wenn auch spät, ihren Einsatz im Kampf gegen Nazis und Faschisten. „Die alliierte Landung in Nordafrika im November 1942 führt zu einer umfangreichen Mobilisierung. 134.000 Algerier, 26.000 Tunesier und 73.000 Marokkaner sind folglich im Wehrdienst, während AOF und AEF ca. 80.000 Mann stellen. Sie kämpfen zuerst im Tunesien- (1943) und Italienfeldzug (1943-1944), anschließend landen sie ab dem 15. August 1944 in der Provence, um den Südosten Frankreichs zu befreien, bevor sie in den Vogesen und im Elsass kämpfen und sich schließlich im Frühling 1945 an der Invasion von Deutschland beteiligen. Sie spielen daher eine führende Rolle bei der Befreiung des Mutterlandes.“

Doch auch Länder, die nicht direkt am Krieg beteiligt waren, wurden von ihm beeinflusst:

An Syrien, aus dem 4,5 Prozent der 2019 in Deutschland lebenden Migranten stammen, gingen die Kampfhandlungen des zweiten Weltkriegs ebenso wie am Iran und Irak nur vorbei, weil Großbritannien im November 1942 die Achsenmächte in der 2. Schlacht von El Alamein schlug. Hätte Rommel und nicht Montgomery gewonnen, wären ihre Länder zum Schlachtfeld geworden.

Syrien, damals faktisch noch unter französischer Kontrolle, nahm Zehntausende europäische Flüchtlinge auf. Natürlich ging der zweite Weltkrieg auch an der Türkei nicht vorbei: Das Land sah sich, folgt man Churchills Erinnerungen, militärisch nicht in der Lage an der Seite der Alliierten aktiv am Kampfgeschehen teilzunehmen. Die Türkei unterschrieb einen Freundschaftsvertrag mit Deutschland, der im Kern ein Nichtangriffspakt war. Im August 1944, also nach der erfolgreichen Invasion der Alliierten in Frankreich und der Operation Bagration an der Ostfront, als klar war, dass die Wehrmacht verlieren würde, brach das  Land die diplomatischen Beziehung zu Deutschland ab.

Die Türkei nahm zum Teil Flüchtlinge auf und rettete auch viele Juden vor dem Tod. Auch türkische Juden wurden im Holocaust ermordet. Von den Briten und Franzosen bekam sie im Osten kurdische Gebiete im Gegenzug der Garantie der Neutralität übertragen. Auch im aktuellen Konflikt der Türkei mit den Kurden spielt der zweite Weltkrieg also offensichtlich eine Rolle.

Araber kämpften jedoch nicht nur gegen Deutschland und Italien, sie gingen wie Mohammed Amin al-Husseini, der Mufti von Jerusalem, auch Bündnisse mit Deutschland ein. „Er schaltete“, sagt der Antisemitismusexperte Stephan Grigat „im Mandatsgebiet Palästina die moderaten Araber aus, die mit den Juden zusammenarbeiten wollten.“ Die Politik Amin al-Husseinis sind heute noch im palästinensisch-israelischen Konflikt zu sehen.

Wenn Wildt den Eindruck erweckt, Migranten und ihre Nachkommen hätten eine Geschichte, die mit der NS-Zeit nichts oder nur wenig zu tun habe, ist das falsch. Der Holocaust war kein Ereignis, dass sich vorrangig in Deutschland zutrug, sondern ein von ihm ausgehendes Verbrechen, das in allen Staaten, mit Unterstützung seiner Verbündeten und zum Teil auch mit der der Eroberten, umgesetzt wurde, in denen das 3. Reich das Sagen hatte. Und wo es wie in Nordafrika und im damaligen britischen Mandatsgebiet, dem heutigen Israel, nicht zum massenhaften Mord an Juden kam, lag das an den Erfolgen der alliierten Armeen – in denen zahlreiche Araber und Afrikaner gemeinsam mit jüdischen Soldaten kämpften.

Es gibt also keinen Grund, den Holocaust mit Rücksicht auf Migranten geschichtspolitisch abzuwerten. Er ist in den meisten Fällen, wie auch der zweite Weltkrieg, ein Teil ihrer Geschichte. Der Historiker Steffen Klävers hat in seinem Buch „Decolonizing Auschwitz?“ zudem belegt, was ihn von anderen Genoziden unterschied, womit der Frage der Singularität geklärt ist. Den Holocaust mit dem Ziel der Denunziation des Westens herabzuwürdigen ist niederträchtig.

Aber natürlich hat Wildt Recht, wenn er eine Weitung des historischen Blicks in Deutschland fordert. Dazu würde ohne Zweifel die Beschäftigung mit den Kolonialverbrechen gehören. Doch auch die Vermittlung von Wissen über den osmanischen und arabischen Imperialismus, die Rolle dieser Reiche und ihrer Ableger beim Sklavenhandel wäre wichtig. Und eine nähere Beschäftigung mit Russland, dessen Reich als einziges das 20. Jahrhundert überstanden hat, gebietet schon der aktuelle Krieg in der Ukraine.

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der, der auszog
der, der auszog
2 Jahre zuvor

Auf die Frage
„Verliert der Holocaust durch Zuwanderung nach Deutschland an geschichtspolitischer Bedeutung?
der Versuch einer Antwort durch Beobachtungen aus Gelsenkirchen

Am 12. Mai letzten Jahres stürmten zugewanderte Antisemiten aus der Türkei, Palästina, Marokko und anderen islamisch geprägten Staaten den Straßenbereich der Georgstraße in Gelsenkirchen, an dem sich der Eingang zur jüdischen Synagoge befindet. Der islamische Mob, der „Juden ins Gas forderte“, konnte nur durch eine Polizeikette am Umsetzen seiner Wahnsinnigen Ideen gehindert werden.

https://twitter.com/ZentralratJuden/status/1392622411774840832?s=20

Am 14. Mai fand sich die Gelsenkirchener Stadtgesellschaft zu einer Mahnwache an der Georgstraße ein, um sich, wie die Polizei schon zwei Tage vorher, noch einmal symbolisch vor Ihre jüdischen Mitbürger zu stellen..

https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/gelsenkirchener-stehen-vereint-gegen-hass-und-antisemitismus-id232292835.html

Eine wichtige Person allerdings fehlte:

Oberbürgermeisterin Karin Welge.

Der Tag nach dem antisemitischen Marsch, der 13. Mai, ein Donnerstag, lag auf Christi Himmelfahrt und der Freitag darauf ist in der Stadtverwaltung Gelsenkirchen traditionell ein Brückentag, an dem kaum jemand arbeitet. Viele Mitarbeiter der Stadtverwaltung nutzten diesen freien Tag, um der Mahnwache vor der Synagoge beizuwohnen.

In der Zeit vor Karin Welke wäre es in Gelsenkirchen undenkbar gewesen, dass das Stadtoberhaupt nicht an der Mahnwache teilgenommen hätte. Da hieß der Oberbürgermeister in Gelsenkirchen noch Frank Baranowski.

Baranowski war am 14. Mai als Teil der Gelsenkirchener Stadtgesellschaft bei der Mahnwache anwesend, aber eben nicht mehr als Oberbürgermeister und auch nicht in Vertretung für Welge, denn für die hat eine andere gesprochen….

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Szenenwechsel aus der Gelsenkirchener Innenstadt in den nördlichen Stadtteil Hassel.
Dort befindet sich die Al Aqsa-Moschee, benannt nach der Al Aqsa Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg, welche der Ditib Gemeinde Hassel gehört.

Mitte Juli 2016 scheiterte in der Türkei ein Putschversuch. Für den Präsidenten Erdogan stand relativ schnell fest, dass es sich bei dem Drahtzieher um Fethullah Gülen handelt, seinen einstigen Mitstreiter, der irgendwann in Ungnade fiel und seitdem für jeden Terror verantwortlich gemacht wird.

Wenige Tage nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei stürmen Mitglieder der Ditib Gemeinde Hassel ein Jugend- und Kulturzentrum der Gülen-Bewegung im selben Quartier gelegen, schlagen Scheiben ein, verwüsten Räume und verletzen Menschen.

https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/erdogan-anhaenger-belagern-jugendtreff-in-gelsenkirchen-id12013510.html

Der Imam von Ditib Gelsenkirchen-Hassel freut sich über den Angriff aus seiner Gemeinde mit den Worten „Allah möge Euch lohnen!“

https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen-buer/imam-in-hassel-freut-sich-ueber-angriff-auf-guelen-zentrum-id12043660.html

Seit einigen Jahren fordert genau diese ditib Gemeinde den Muezzin zum Gebet rufen zu lassen. Zu Zeiten von Oberbürgermeister Baranowski ist diesem Anliegen nicht statt gegeben worden. Der wünschte sich erst einmal eine breite Debatte innerhalb der Stadtgesellschaft.

https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/nein-gelsenkirchen-sollte-den-muezzin-ruf-nicht-erlauben-id231438353.html

Jetzt heißt die Oberbürgermeister Karin Welge und jetzt ruft der Muezzin jeden Tag – ohne eine breite Debatte innerhalb der Stadtgesellschaft. Begründet wird dies von Seiten der Stadt lapidar mit: weil er das darf…

https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/gelsenkirchen-warum-der-muezzin-ruf-jeden-tag-ertoenen-darf-id235125701.html

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