Versemmelt: Abgesang auf die Utopie einer blühenden Ruhrstadt

„Versemmelt“ in der Mayerschen Buchhandlung in Bochum


Stefan Laurin serviert mit „Versemmelt: Das Ruhrgebiet ist am Ende“ eine schonungslose Bestandsaufnahme von Fehlern, Filz und Fisimatenten der Ruhrgebietspolitik, die den Pott über Jahrzehnte konsequent an den Rand des Abgrunds gebracht haben.

Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets, ich stehe dazu, manchmal bin ich sogar ein wenig stolz darauf, nur gerade bin ich es mal nicht, sondern schäme mich ganz gewaltig. Schuld  daran ist Stefan Laurin, denn dieses Buch tut mir weh. Weil es dem Ruhrgebiet ein politisch niederschmetterndes Armseligkeitszeugnis ausstellt. Und das leider völlig zu Recht.

Laurin geht von der Idee des Ruhrgebiets aus, das zu einer einzigen großen Stadt zusammenwachsen könnte. Dabei geht er auf das Engagement von Frank Levermann zurück, dem einstigen Pressesprecher des Kommunalverband Ruhr (KVR), wir schreiben das Jahr 1996 und Laurin lässt sich von der Idee einer echten Metropole mit fünf Millionen Einwohnern und den daraus resultierenden Potentialen anstecken.

„Wir schrieben uns in den kommenden Jahren die Finger wund, wir verfassten Artikel um Artikel, wir belegten, dass es klüger wäre, wenn die Städte mehr zusammenarbeiten würden, ja dass eine einzige große Stadt, zumindest aber ein eigener Regierungsbezirk für das Ruhrgebiet die beste Lösung wäre,“

Immerhin gesteht Laurin auch die Fortschritte ein, die es tatsächlich gegeben hat, so etwa, dass der Regionalverband Ruhr (RVR), Nachfolger des KVR nicht zerschlagen wurde. Oder dass die Verbandsversammlung des RVR das Ruhrparlament 2020 zum ersten Mal von den Bürgern direkt gewählt werden wird. Doch zu viele Projekte sind schief gelaufen.

Siedlungsgeschichte und Selbstverständnis

Nachdem Laurin die Entstehung der Idee Ruhrstadt erläutert hat, skizziert er die Siedlungsgeschichte des Ruhrgebiets. Das, was wir darunter verstehen, entstand erst mit der industrialisierung; Kohleabbau, Stahlindustrie, Eisenbahntransortsystem. Die Städte explodierten vor Menschen, die hierhin zogen und in den entstehenden Industrien Arbeit fanden. Das führte dazu, dass das Ruhrgebiet ein hygienisches Notstandsgebiet wurde, denn das Wasser der Emscher als dem zentralen Fluss der Region entwickelte sich zu einer Giftmischung aus Bakterien, Viren und Industrieabfällen. Dieses führte im Jahr 1899 zur Gründung der Emschergenossenschaft, deren Kompetenz durch ein kaiserliches Dekret vom 14. Juli 1904 besiegelt wurde.

„Eine Ruhrstadt, ein starkes Ruhrgebiet gibt es nicht, weil die Kommunalpolitiker es nicht wollen. Aber das ist nicht alles. Die Menschen wollen es auch nicht wirklich haben und drängen die Politiker nicht dazu, enger zu kooperieren.“

Laurin verweist auf den Bochumer Historiker Klaus Tenfelde, der in dem von ihm mit herausgegebenen Buch „Das Ruhrgebiet. Ein historisches Lesebuch“ beschreibt, dass die Arbeiter als die seit der Entstehung des Ruhrgebiets die bestimmende Schicht kein Interesse an einem regionalen zusammenwachsen der Ruhrgebietsstädte gehabt hätten und auch kein regionales Bewusstsein dafür entwickelt hätten, weil ihre Lebensumstände sich bis Anfang der 1960er Jahre um den Betrieb, die Zeche, die Zechensiedlung als ihr Wohnquartier, ihre Stammkneipe, Vereine, Gewerkschaftsgruppen, Parteien und Kleingartenbewirtschaftung konzentrierten. Es gab einfach keinen Grund, in andere Städte zu fahren, es sei denn, man hatte dort Familie oder Freunde. Ein regionales Bewusstsein hätte sich nur durch die Kenntnis und Liebe zur Region „Ruhrgebiet“ bilden können. Wer nach einer Schicht auf Zeche noch Energie hatte, bestellte höchstens noch seine Kleingartenscholle.

Laurin skizziert präzise die Entstehung und Wechsel der verschiedenen zuständigen Verbände und Verbünde, die das Ruhrgebiet stark machen sollten; vom Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) im Jahre 1920 über den Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR) bis zum Regionalverand Ruhrgebiet (RVR) und Ruhrparlament. Außerdem würdigt er die jeweiligen Führungspersonen in seiner ihm so eloquenten und zynischen Schreibe, was diesen eigentlich langweiligen Behördenstammbaum zu einem großartigen Lesevergnügen macht. Die durchaus reichweitenstarken und gelungenen Werbekampagnen, die SVR in den 70ern und KVR ab 1985 (Das Ruhrgebiet: Ein starkes Stück Deutschland) bis hin zu „Der Pott kocht“ im Jahr 1999 zum Ende der IBA wurden gegen Ende des 20. Jahrhunderts eingestellt und durch spektakuläre Events ersetzt, die als sogenannte Leuchtturmprojekte Geschichte geschrieben haben, leider wie im Falle der Loveparade 2010 in Duisburg auch sehr schmerzliche.

Der Öffentliche Personen Nicht Verkehr

Jeder ÖPNV-Benutzer kennt die Leiden des Pendelns, doch Laurin weist nach, dass die Diagnose bereits vor über einem  Jahrzehn gestellt wurde: Die Pendlerstudie 2018 bescherte dem Ruhrgebiet eine dringenden Handlungsbedarf in Richtung eines attraktiveren Nahverkehrs ganz offiziell. An den fehlenden städteübergreifenden Verbindungen hat sich seitdem nicht verändert; weder RRX noch Radschnellwegenetz sind ansatzweise fertig, die Straßenbahnsysteme der einzelnen Städte wurden weiterhin nicht aufeinander abgestimmt und größtenteils nicht kompatibel, das geht hin bis zu verschiedenen Straßenbahnspurweiten von 1435 und 1000. Unterschiedliche Fahrzeugbreiten und Zugsicherungssysteme erschweren die ruhrgebietsweite Kooperation. Da staunt der Fachmann und der Pendler ärgert sich. Der Vergleich mit funktionierenden Nahverkehrssystemen großer Metropolen lädt den Ruhrgebietsleser zum Fremdschämen ein.

„Es hätte anders kommen können, wenn es eine verbindliche Planung für das gesamte Ruhrgebiet gegeben hätte. Aber die gab und gibt es nicht. Und unter den Folgen dieses Versagens leiden Millionen Menschen und werden es in Zukunft noch stärker tun“

Filzdecke Ruhr

Bekanntes, Allzubekanntes serviert uns Laurin hier wieder einmal herrlich pointiert, die Versorgung von Parteifreunden durch lukrative Posten in den stadteigenen Privatunternehmen des Ruhrgebiets von A wie Abfallwirtschaft über Strom- bis Wasserwirtschaft.

„Ein wenig so wie damals in der DDR.“

Gravierende Fehlinvestitionen in veraltete Energien mit den daraus resultierenden Millionenverlusten führen zu langfristiger Kapitalbindung und der finanziellen Fesselung durch die erforderliche Kreditbedienung. Die Trennung von den defizitären Beteiligungen scheuen die Politiker wie der Teufel das Weihwasser, frei fallende Kurse, wie etwa die RWE-Aktie (2007:100 €, 2019: 23 €) belasten die Haushalte enorm. Die Filzdecke Ruhr zieht sich inzwischen durch alle Parteien und sie ist für die Beteiligten lukrativ, wie der Autor anhand der üppigen Jahresgehälter von Oberbürgermeistern, Stadtwerke-Geschäftsführern und Sparkassen-Vorständen vorrechnet.

Mediale Brache

Als nächstes nimmt sich der Stefan Laurin die nicht existierende Medienlandschaft des Ruhrgebiets vor und vergleicht sie mit Berlin, Frankfurt und München. Sein Fazit; es gibt kein einziges Medium, das über das gesamte Ruhrgebiet berichtet. Das kontinuierliche Redaktionssterben hat zu einer Zombiisierung einzelner Blätter geführt, die Mantel und Lokalteile von anderen Mitbewerbern kaufen und keine eigenen Redaktionen mehr besitzen.

„Es wäre falsch der Funke Mediengruppe oder den anderen Verlagen einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie nie eine Zeitung für das gesamte Ruhrgebiet herausgebracht haben. Dass sie das nicht konnten, hat ganz einfache Gründe: Das Ruhrgebiet ist kein Markt. Es ist eine Ansammlung einzelner Märkte.“

Gelungene Einzelprojekte

Der Entwicklung der 1989 gestarteten Internationale Bauausstellung Emscher Park IBA widmet Laurin ebenso ein eigenes Kapitel wie anschließend der Kulturhauptstadt Ruhr2010, denen der immerhin die guten Ansätze zugesteht. So bewertet er die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 als gelungen, auch wenn diese nicht das gewünschte internationale Medienecho hervorrief, die sich die Initiatoren und Macher erhofft hatten.

Laurins Resümée im Schlusskapitel ist entsprechend niederschmetternd: „Das Ruhrgebiet ist die ärmste Region Deutschlands.“

Er weist nach, warum das Ruhrgebiet nach dem Ende von Kohle und Stahl keine guten Zukunftschancen hat und fasst die Killerfaktoren für eine systematische Prosperität noch einmal zusammen. Eine grüne Dystopie des Ruhrgebiets der Zukunft jenseits aller Urbanität beendet die schonungslose Analyse.

Kritik

Der Autor und Journalist  Stefan Laurin lebt seit über 20 Jahren in Bochum, kennt das politische Ruhrgebiet wie nur wenige Autorenkollegen. Man merkt beim Lesen auf jeder Seite, dass hier jemand schreibt, der sich seit Jahrzehnten mit dem Thema der Ruhrstadt von Innen her auseinandersetzt und die politischen Vorgänge tagtäglich als Journalist begleitet.
Ich bin selbst Kind des Ruhrgebiets, aufgewachsen in Mülheim und habe Theaterwissenschaft an der RUB studiert. Ich hatte bis neulich einen relativ kulturzentrierten Blick auf das Ruhrgebiet und erlebe das Ruhrgebiet als kulturell sehr attraktiven Ballungsraum. Doch Kulturmacher denken anders als Politiker, Theatermenschen, Schauspieler, bildende Künstler und Autoren haben immer schon grenzenlos gedacht. Stefan Laurin hat mir mit „Versemmelt. Das Ruhrgebiet ist am Ende“ meine Kulturbrille von der Nase gerissen und mir einen präzisen und analytisch brillanten Blick durch seine Politbrille erlaubt. Das macht für mich „Versemmelt“ so lesenswert. Und ich empfehle daher das Buch – das sich liest, wie ein Krimi –  allen Bürgerinnen und Bürgern des Ruhrgebiets, damit sie erkennen, wo sie leben und warum das mit der Metropole auch in der Zukunft wohl nichts werden wird. Es sei denn, sie kommen endlich aus dem Quark, besetzen die Zentralen der ÖPNV-Unternehmen, der Ruhrgebietsverbände  und die Rathäuser, um ihren Interessen und Zielen Nachdruck zu verleihen und sie vielleicht auch mal durchzusetzen. Denn die Städte haben selbst kein Interesse an einer Ruhrstadt: „Städte haben kein Interesse an Regionen, sie haben ein Interesse daran, selbst möglichst stark zu sein.“

Ich empfehle das Buch außerdem als Pflichtlektüre allen Machern des RVR und Politikern der RVR Mitglieder, (Liste auf Seite 27). Auch wenn sie es nicht lesen möchten, wer einen von den Genannten kennt, darf das Büchlein gerne auch zu Weihnachten verschenken. Damit diese Hornochsen endlich mal einsehen, was für einen Stadtentwicklungstechnischen Kollateralschaden sie mit ihrem verfilzten Kirchturmdenken anrichten. Denn Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Und einen besseren Umgang mit der Idee der Ruhrstadt wünsche ich mir noch immer. Stefan Laurin zeigt uns mit „Versemmelt“ auf, warum dieser Wunsch heute wichtiger ist, denn je.
In diesem Sinne: Uneingeschränkte Leseempfehlung!

Veranstaltungshinweis:
Buchvorstellung und Autorenlesung:

Stefan Laurin: Versemmelt. Das Ruhrgebiet ist am Ende
Freitag, 06. September, 20.00 Uhr   Sold Out Gallery Bochum, Königsallee 26, Bochum, Eintritt frei

 

Stefan Laurin (Autor) und Oli Hilbring (Cover Design): Versemmelt: Das Ruhrgebiet ist am Ende.
Bottrop 2019
96 Seiten, gebunden, Henselowsky u. Boschmann
ISBN: 978-3942094986
Taschenbuch € 9,90

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Jupp Schmitz
Jupp Schmitz
5 Jahre zuvor

Wird jekooft,
Danke Stefan!

thomas weigle
thomas weigle
5 Jahre zuvor

Amüsant schreibt er ja meistens, der Herr Laurin, also werde ich den knapp 10 Euro nicht hinterher weinen müssen. Hoffe ich.

Ruhr Reisen
Ruhr Reisen
5 Jahre zuvor

Was der Kritiker nicht schrieb:
Laurin sagte in seiner Lesung: Nur die so genannten Oberzentren wie Essen, Bochum und Dortmund hätten eine Zukunft. Städte wie u. a. Gelsenkirchen, Duisburg seien hoffnungslos dem Untergang geweiht und aus seiner Sicht verloren. Was aus diesen dann würde, ließ er offen und hätte vielleicht auch den Rahmen der Lesung gesprengt.
Die Intention das Buch zu schreiben, wäre sein persönlicher Abschluss mit dem Thema und dessen Veröffentlichung, bevor es niemanden mehr interessiere.

Jesse
Jesse
3 Jahre zuvor

Mir gefällt die Idee von Dr. Volker Steude, wie man die einzelnen Städte langsam in Richtung Ruhrstadt entwickeln könnte. Dargelegt in folgendem Artikel:

https://www.lokalkompass.de/bochum/c-politik/wie-kann-das-ruhrgebiet-zur-ruhrstadt-werden-ein-neuer-loesungsvorschlag_a1240245

Inhalt in etwa: der Weg zur Ruhrstadt über den RVR ist so gut wie gescheitert, eine Verordnung über die Landesregierung realistisch betrachtet ebenfalls ausgeschlossen, also muss eine dritte Idee her. Steudes Vorschlag: Ruhrstadt-willige Städte müssen einen Zusammenschluss selbst in die Hand nehmen.
Er schreibt: "Im ersten Schritt könnten wenige aber wichtige Städte des Ruhrgebietes eine enge Kooperation mit dem Fernziel "Ruhrstadt" vereinbaren, z.B. Bochum, Dortmund und Essen.

Diese Städte sollten dann eine Grundsatzvereinbarung vereinbaren, dass sie sich auf Dauer zu einer Ruhrstadt zusammen schließen wollen. Diese Vereinbarung wird den Bürgern in einem Bürgerentscheid zur Abstimmung vorgelegt." usw…

Steude skizziert, dass so die Bildung einer Ruhrstadt ähnlich funktionieren würde, wie schon bei der Europäischen Union geschehen. Nicht von oben verordnet oder dergleichen, sondern ein organisches Zusammenwachsen über die Jahre. Die Vorteile würden so langsam zutage treten und es bestände Anreiz für die restlichen Städte sich anzuschließen etc. Lesenswerter Artikel!

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