Dass etwas „traumatisch“ sei, wird derzeit von jedweder Kränkung behauptet, das Wort wird wie ein Flaggensignal geschwenkt, als könne es den politischen Dialog dirigieren. Anders die Erfahrung, die Antje Vollmer einer demokratischen Politik vermacht: Wo es um tatsächliche Traumata geht, springen sie über auf eine Politik, die den Ausgleich sucht. Politische Verständigung kann heilen und ebenso verletzen. Antje Vollmer, gelernte Theologin, dann Grüne, dann Bundestags-Vize, ist vergangene Woche gestorben, sie wurde 79 Jahre alt.
Wäre bundesdeutsche Politik eine Familie, säße Antje Vollmer wie Helmut Kohl am Tisch: Bevor man selber über die Tischkante gucken konnte, war sie da und war es mit der Zeit beruhigend, sie dort zu wissen gerade dann, wenn man entschieden anderer Meinung war: 2018 hat sie sich „Aufstehen“ angeschlossen, dem Starprojekt rund um die Noch-Linke Sahra Wagenknecht; 2020 unterstützte sie die „Gruppe Neubeginn“, die „linke Vertreter der Eltern- und Großelterngeneration“ mit der „jungen Generation“ verbünden wollte und gleichzeitig „‘Mitte‘ und ‚Unten‘“ gegen eine „‘Zweidrittelgesellschaft‘“; zuletzt hatte Vollmer das von Wagenknecht und der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer initiierte „Manifest für Frieden“ erstunterzeichnet, das davon ausgeht, man könne mit Putin über „Frieden“ verhandeln wie mit jedem anderen vernunftgeleiteten Menschen.
Abwege zu ertasten, ist notwendig in einer Demokratie. Man kann dieses Ertasten als politisch naiv abtun, naiv war Vollmer nicht: 1985, sie saß gerade zwei Jahre im Bundestag (und war eben erst Mitglied der GRÜNEN geworden), platzte sie mit der Idee ins Hohe Haus, ob man die Rote Armee Fraktion (RAF) nicht dialogisch stillstellen könne. Eine heftig umstrittene Initiative, scheinbar rettungslos naiv – allein in 1985 ermordete die RAF drei Menschen: den Manager Ernst Zimmermann, die US-Soldaten Edward Pimental und Frank Scarton sowie die US-Zivilangestellte Becky Jo Bristol – , Vollmer aber hielt ihre dialogische Linie durch, während die RAF weiter mordete, „wir wollten den ‚Mythos RAF‘ brechen“. Und tatsächlich hat sie mit ihrer Initiative den RAF-Terror entmythisiert, die Terrorbande war zunehmend isoliert, 1998 löste sie sich auf. Als es später um die Frage ging, ob die beiden letzten RAF-Terroristen begnadigt werden sollen, kämpfte sie für deren Freilassung und tat dies erneut mit der Begründung, man dürfe deren Terror auch im Nachhinein nicht zum Mythos werden lassen. Ihr Argument ist tagesaktuell geblieben, man denke an die verquaste Terror-Verherrlichung, die Achille Mbembe betreibt, der für seine „Philosophie des Terrors“ noch immer oder schon wieder von einer Kulturelite gefeiert wird.
1995, Vollmer war Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, legte sie es darauf an, auf dem Weihefest jener reaktionären Verbände, die sich seit 1945 als „Vertriebene“ und als „Landsmannschaften“ organisiert hatten, ein Grußwort zu sprechen. Aus ihrer von links wie rechts heftig bekämpften Initiative – „Stellt sie an die Wand! Hängt sie auf!“ – entwickelte sich ein Dialog, der die deutsch-tschechische Aussöhnungserklärung möglich gemacht hat.
Und dann, als Bundestags-Vize gerade ausgeschieden, übernimmt sie 2009 den Vorsitz des „Runden Tisches Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren“ (RTH). Es ist das Gegenteil eines Gefälligkeitspostens, Vollmer wurde gedrängt und nicht getragen, sie wusste, was passieren wird: Die Wut der Heimkinder-Initiativen – eine berechtigte Wut, die sich, jahrzehntelang aufgestaut und ungehört – entlud sich auf ihr. Dennoch ist sie auch in diese Moderation hinein gegangen, obwohl sie wusste, dass es keine werden konnte, weil es den dritten Ort nicht gab, auf dem sich eine Moderation hätte aufbauen lassen. Eine seltsame Erfahrung, sich als Demokratin inmitten der Demokratie als ortlos zu erfahren, ihre politische Karriere zeigt: Wo es um Demokratie geht, sind wir alle Immigranten.
Für ihre dialogische Politik wurde Antje Vollmer 2011 – ich war unmittelbar daran beteiligt – in der Christuskirche Bochum mit dem Hans-Ehrenberg-Preis geehrt. Hans Ehrenberg (1883 – 1958), Professor für Philosophie, Pfarrer in Bochum, war sowohl Mitbegründer der Dialog-Philosophie als auch Initiator des kirchlichen Widerstands gegen die Nazis, er hat dem Dialog eine Grenze gezogen. Ehrenbergs Predigtstätte war die Christuskirche Bochum, hier hat Antje Vollmer den Preis entgegen genommen, der sie dafür ehrt, dass sie “protestantische Positionen in öffentlicher Auseinandersetzung vertritt”. Wobei das Protestantische an ihrer Position sei, “dass sie zwischen den Stühlen steht. Auf dem Thron sitzen kann jeder. Aber dahin gehen, wo es – nicht nur im Fußballsprech – weh tut, das machen – nicht nur im Politbetrieb – wenige.”
In der öffentlichen Diskussion, die wir damals in der Christuskirche ausgerichtet und an der sich Heimkinder-Initiativen beteiligt hatten (hier als pdf-Dokument nachzulesen), stellte Vollmer klar: „Der Runde Tisch, das war der intensivste Verständigungsprozess, den ich je durchgemacht habe.“ Keinerlei rechtliche Grundlage, um Missbrauch und Gewalt zu ahnden, weil alles verjährt, kein Richterstuhl nirgends, tatsächlich nur ein Tisch, an dem behördliche Vertreter der Länder saßen, der Jugendverbände und Kirchen sowie Sprecher der Heimkinder-Initiativen, wobei alle – Länder, Verbände, Kirchen, Initiativen – ihre je eigene Position erst ausbilden mussten.
Dass gerade diese Form von Demokratie geehrt werde, hat Antje Vollmer begrüßt. Dass sie selber es sei, die geehrt werde, dagegen hat sie sich gesträubt. Wir haben in der Zeit einige Male telefoniert, vor allem dieser Verständigungsprozess, der Runde Tisch, sei für sie – das Wort wählte sie zögerlich, sie sprach es eher zu sich selbst – sei für sie „traumatisch“ gewesen. Ein andauerndes Wechselspiel von Vertrauen und Misstrauen, Klage und Anklage, Einverständnis und Zerwürfnis, eine, wie sie sagte, „Re-Traumatisierung“ im dialogischen Verfahren.
Am Ende eine Einigung. Was Antje Vollmer bewusst gemacht hat, und dies halte ich für ihr eigentliches Vermächtnis, ist, dass demokratische Prozesse traumatisch wirken können. Dass jeder einzelne Schritt, jeder emanzipatorische, bitter bezahlt werden muss und jemand am Ende die Rechnung begleicht. Verständigung reißt Wunden, Versöhnung kann verletzen, theologisch betrachtet hat Antje Vollmer eine biblische Denkfigur demokratisiert: dass es wen geben muss, der die Schuld einer Gesellschaft auf sich nimmt, die vermeidbare wie die unvermeidliche, alles, was sich nicht entschulden lässt, die Erbsünden der Demokratie.
Sie selber hätte, auch wenn sie ein jesuanisches Moment an sich hatte, so eine Deutung von sich gewiesen: „Den Begriff der Versöhnung habe ich eigentlich sehr selten benutzt“, erklärte sie schon vor Jahren, „mir ging es immer um eine intelligente politische Lösung.“ Aber es könne, wer den gesellschaftlichen Ausgleich suche, geschehen, „dass man öffentliche Aggressionen auf sich zieht“, sagte sie 2011 in Bochum: „In solchen Prozessen ist viel Gewalt, viele gewalttätige Emotion im Spiel, und manchmal ist es richtig, dass sie sich an jemand, der sich in den Strom der Zeit stellt, bricht, damit man überhaupt neu nachdenken kann und eine neue Richtung des Denkens entwickeln kann.“