Im dritten Teil ihrer Gesprächsreihe über psychologische Probleme sprechen Sebastian Bartoschek und Stefan Laurin über Depressionen.
Sebastian Bartoschek: Ja Stefan, Depression ist heute unser Thema.
Stefan Laurin: Depression ist eine Volkskrankheit.
Sebastian Bartoschek: Genau.
Stefan Laurin: Je nach Zahlen hört man mal was von 10 bis 20%, die zumindest einmal in ihrem Leben eine depressive Phase haben.
Sebastian Bartoschek: Genau, ich habe jetzt hier Zahlen der Bundestherapeutenkammer, die sagt: 18% Lebenszeitprävalenz. Also die Wahrscheinlichkeit, einmal in seinem Leben an einer Depression zu erkranken, liegt bei 18%.
Stefan Laurin: Das ist gewaltig viel.
Sebastian Bartoschek: Das ist im Vergleich zu Schizophrenie, einer Krankheit, die ja sehr viele so auf dem Schirm haben, sehr, sehr viel: Schizophrenie betrifft 1%. Das ist eine wirkliche Volkskrankheit. Wohl immer schon gewesen. Weil das ja immer so die Frage ist: Ist das neu? Nein, aber jetzt eben sichtbarer, weil andere Krankheiten auch zurücktreten in der Volksgesundheit, um das mal so zu sagen.
Stefan Laurin: Welche?
Sebastian Bartoschek: Naja, alles, was so körperliche Krankheiten angeht. Die Arbeitsbedingungen werden immer besser. Der Arbeitsschutz wird immer weiter ausgebaut. Das heißt, so Sachen wie die Staublunge bei uns hier im Ruhrgebiet, das spielt keine Rolle mehr.
Stefan Laurin: Und es wird auch enttabuisiert.
Sebastian Bartoschek: Ja.
Stefan Laurin: Weil ich weiß, wo ich früher gewohnt habe, Gladbeck, da gab es etliche Leute, von denen es hieß, sie wären schizophren, die haben sich für Jesus gehalten und sonst was, das war sehr präsent in der Stadt, obwohl es sehr wenige waren. Dass ich bewusst jemanden kennengelernt habe, der wirklich depressiv ist, das ist noch nicht lange her.
Sebastian Bartoschek: Spannend ist ja, ich mach ganz viel so 19. Jahrhundert, also Lovecraft Texte und spannend ist, dass man in all diesen Texten – also Lovecraft war natürlich später – aber auch schon bei Edgar Alan Poe, ganz oft Beschreibungen von Leuten findet, die eigentlich depressiv wären nach heutigem Standard, man die aber damals irgendwie anders bezeichnete. Die hatten dann Schwermut oder die Tante war eine, die dann halt auch nicht mehr rausging oder nicht mehr rausgehen konnte. Das gab es immer, aber ja, es ist enttabuisiert. Auch durch die prominenten Fälle wie Robert Enke. Das ist auf jeden Fall so. Und auch durch alle Schichten hindurch. Also da haben wir schon eine deutliche Veränderung in der Wahrnehmung der Menschen.
Stefan Laurin: Was heißt: 18% haben einmal in ihrem Leben eine depressive Phase? Das bedeutet ja mindestens einmal.
Sebastian Bartoschek: Genau. Das ist nochmal sehr stark unterschiedlich nach den verschiedenen demographischen Faktoren. Also man weiß, Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Junge viel häufiger als Alte. Und Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status fast drei mal so häufig wie Menschen mit einem hohen sozioökonomischen Status.
Stefan Laurin: Sozioökonomischer Status heißt Ansehen und Geld.
Sebastian Bartoschek: Genau. Wobei man sich da immer streitet, je nachdem, aus welcher politischen Richtung man kommt, was ist Henne, was ist Ei. Das erleben wir ja gerade bei der Hartz IV Klientel, wo die Frage stark diskutiert wird. Führt die Arbeitslosigkeit zu Depressionen oder führen die Depressionen zur Arbeitslosigkeit? Und aus psychologischer Sicht ist natürlich beides wahr. Politisch wird meist dann dass eine präferiert und das andere eben nicht.
Stefan Laurin: Wie viele von dieser Gruppe haben eine depressive Phase und wie viele haben mehrere?
Sebastian Bartoschek: Das weiß ich gar nicht genau. Da habe ich jetzt keine Zahlen zu präsent. Man weiß aber, dass ungefähr 1/3 der Personen, die Depressionen haben, die ihr Leben lang haben werden. Also wenn wir das jetzt mal hochrechnen auf die 18%, wären es 6% der Deutschen, die ein Leben lang an Depressionen leiden.
Stefan Laurin: Mit Pausen?
Sebastian Bartoschek: Mit Pausen, genau. Depressionen verlaufen phasenweise. Es gibt da auch eine Abstufung nochmal der Stärke der Depression. Aber ja, mit Pausen.
Stefan Laurin: Als diese Twitter-Kampagne losging, ich weiß nicht, war das nach dem Tod von Enke?
Sebastian Bartoschek: #Notjustsad.
Stefan Laurin: Ich muss ehrlich sagen, ich habe bis heute nicht verstanden, wie sich eine Depression für die Betroffenen anfühlt. Je mehr man sich mit dem Thema beschäftigt und es vielleicht auch mal aus der Nähe erlebt, merkt man, also mein Eindruck war, es ist klar, das ist nicht nur traurig, das ist auch nicht vergleichbar mit einer Trauerphase, die man hat. Aber je mehr ich mich auch in Vorbereitung auf das Gespräch damit beschäftigt habe, umso geringer wurde meine Vorstellung davon, was es ist. Das ist so, als ob man sich einem riesigen dunklen Monstrum nähert, das immer gewaltiger wird, je näher man sich damit beschäftigt. Aber was auch komplett jede Form verliert und jede Greifbarkeit.
Sebastian Bartoschek: Ja. Hat aber eher mit der Menge zu tun als mit der Störung als solcher. Also die Störung ist sehr eindeutig beschrieben im ICD-10, das ist das Diagnostikmanual, in dem eben alle Krankheiten, und somit auch die psychischen Störungen, erfasst sind. Und da ist es sehr trennscharf beschrieben. Da gibt es Kriterien, die erfüllt sein müssen. Und dann gibt es Kriterien, von denen eine gewisse Anzahl erfüllt sein muss, um zu sagen, ob eine leichte, mittelgradige oder schwere – die man dann auch Major-Depression nennt – vorhanden ist. Und die diagnostischen Leitkriterien, also die drei, die erfüllt sein müssen, sind: Es muss mindestens zwei Wochen andauern, es darf keine manischen oder hypomanischen Symptome geben, also keine Phasen von überschwänglicher Euphorie oder leicht überschwänglicher Euphorie und es darf nicht auf den Missbrauch psychothroper Substanzen – wie wir das nennen, also im Prinzip alles, was legale oder illegale Betäubungsmittel sind – zurückgehen und es darf auch nicht organisch begründet sein. Wobei das Organische schon wieder mitunter, wenn man es jetzt ganz kleinteilig betrachtet, wieder strittig ist, denn damit ist nicht gemeint, dass beispielsweise Stoffwechselstörungen im Hirn vorliegen, denn das macht eine Depression ja mitunter aus und da setzt man ja auch psychopharmakologisch dran an, sondern damit ist gemeint beispielsweise eine Unterversorgung mit Eisen. Wenn man die beispielsweise hat, gerade bei Frauen zum Beispiel aufgrund von starkem Blutverlust während der Menstruation, dann kann das auch zu solchen Symptomen führen, die man sonst als Depression verstehen würde.
Stefan Laurin: Was ich eher meinte, du hast jetzt nicht beschrieben, was die Symptome sind, sondern nur die Definition der Länge. Auch wenn man das nachliest, hatte ich das Gefühl, man kann das als Außenstehender trotzdem nicht nachvollziehen in der Kombination.
Sebastian Bartoschek: Also diese …
Stefan Laurin: Es erschließt sich nicht der eigenen Erfahrungswelt von Phasen, die man hat, nach dem Tod eines nahen Angehörigen, von Liebeskummer, von sonst was, es ist wirklich was anderes als das, was man von mir aus auch als dunkle Phase persönlich kennt.
Sebastian Bartoschek: Genau. Beziehungsweise, wenn so eine dunkle Phase, ich habe jetzt hier die konkreten Symptome… Da haben wir so was wie Verlust der Freude und Unfähigkeit, emotional zu reagieren, Früherwachen, Morgentief, psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit, also Gehetztheit in der Psychomotorik, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust, also der Verlust von Interesse an sexuellen Handlungen. Von diesen acht Kriterien müssen mindestens vier erfüllt sein. Und ja, das hat man natürlich auch mal in Trauerphasen. Es gibt dafür dann verschiedene Möglichkeiten, das zu beschreiben. Was wir uns, glaube ich, ganz gut vorstellen können alle, ist eine sogenannte reaktive Depression. Das heißt, irgendetwas passiert und wir reagieren dann darauf mit Depressionen und das hält über einen gewissen Zeitraum an. Wir hatten das ja schon mal bei dem Thema Liebe.
Stefan Laurin: Zählt das zu diesen 18%?
Sebastian Bartoschek: Das würde dazuzählen, ja. Aber die Fälle, die man meist eher auf dem Schirm hat, sind die, die du gerade auch beschrieben hast, wenn man dann so einen phasenweisen, wie man so sagt, chronifizierten, also immer wiederkehrenden und im Leben dann irgendwann fest verankerten Verlauf des Ganzen hat.
Stefan Laurin: Was sind die Ursachen davon?
Sebastian Bartoschek: Ja, was sind die Ursachen? Da kommt wieder das von mir so getaufte Staudammmodell zum Tragen. Das davon ausgeht, dass die Psyche wie so eine Staumauer ist und auf diese Staumauer strömt halt Wasser ein. In unserem Fall dann bei der Psyche eben psychischer Druck, Stress, Erlebnisse, Traumatisierungen. Und diese Staumauer hat aber genetisch gesehen schon Sollbruchstellen.
Stefan Laurin: Also es gibt eine Veranlagung?
Sebastian Bartoschek: Genau, es gibt eine Veranlagung, die liegt auch bei Depressionen, wenn ich es richtig im Kopf habe, bei knapp einem Drittel. Das ist die genetische Komponente. Und je nachdem, wo deine Sollbruchstellen sind und wie tief die sind, reicht eben unterschiedlicher Druck, um diesen Bruch dann auszulösen. Es ist aber nicht so ganz einfach zu sagen, der hat eine Depression, also muss dem was passiert sein aktuell. Das ist ja das, was gerade auch diese #notjustsad-Sache damals nochmal sehr betont hat. Dass die Aussage oder Frage falsch ist, zu sagen: „Was bist du denn so traurig, dir geht es doch an sich gut, jetzt sei mal ein bisschen weniger traurig.“ So einfach ist es dann auch nicht.
Stefan Laurin: Das war damals mein erster Gedanke. Das war dieses, bevor ich mich damit beschäftigt habe, bei Robert Enke, wo ich dachte: Was hat er denn?
Sebastian Bartoschek: Genau, und da gab es ja, um jetzt mal auf die Sollbruchstellen zu schauen, das traumatisierende Erlebnis des Todes des Sohnes, der ja sehr früh verstorben ist. Und seitdem hat er eben diese Depression gehabt und die hat ihn dann in ihren Klauen gehalten bis zum Suizid. Das ist nämlich das, einige psychische Störungen haben ja die Gefahr für Leib und Leben und die Gefahr bei der Depression – einige Kollegen sagen, Depression ist die tödlichste psychische Störung, weil sie eben dieses Suizidrisiko mit sich trägt.
Stefan Laurin: Bei wie viel Prozent passiert das, dass die sich umbringen oder versuchen umzubringen?
Sebastian Bartoschek: Das ist deswegen schwer zu beantworten, weil wir wiederum verschiedene psychische Störungen haben, die im Suizid enden können und dann gibt es noch so eine ganz – in Deutschland nicht so starke – Bewegung, aber eine Bewegung, die sagt, es gibt ja auch Leute, die einfach … oder nicht jeder Suizid muss mit einer psychischen Störung einhergehen. Das ist in der Psychologie vorsichtig gesprochen eher umstritten. Das Problem ist natürlich, bei erfolgtem Suizid kannst du die Leute nicht mehr befragen, „Was war da jetzt maßgeblich?“ Aber es gibt auf jeden Fall einen relevanten Prozentsatz, wie hoch auch immer der sein mag, von Menschen, die dann Suizid begehen, aufgrund der Depression. Weil Depression auch nicht immer therapierbar ist. Gerade bei der schweren Depression, der Majordepression, gibt es Menschen, die austherapiert sind, wo also trotz Psychopharmakotherapie, trotz Verhaltenstherapie, trotz aller möglichen Therapieangebote die Depression erhalten bleibt. Und dann gibt es in den letzten Jahren wieder zunehmend auch die Idee von Gehirnoperationen. Das war in der dunklen Zeit der Psychotherapie und der Psychiatrie, da gab es diese Bilder von Leuten, die dann Stromschläge bekommen haben. Das war auch so, wo an die Schläfe Sachen angesetzt werden. Man hat tatsächlich positive Ergebnisse in den letzten Jahren erzielt mit invasiven Verfahren im Hirn. Also wo die Leute direkt im Hirn Stromschläge kriegen, was zu einer stückweisen Verbesserung führen kann. Aber wir müssen eigentlich heutzutage sagen, es gibt Menschen, die haben Depressionen, denen können wir nicht helfen. Es gibt unglaublich viele unterschiedliche Ansätze. Einen, den ich ganz spannend fand, war Schlafentzug. Dass man Menschen dazu bringt, nicht länger am Stück zu schlafen, was gewisse Prozesse im Hirn dann auslöst, was wiederum die Wahrscheinlichkeit von depressiven Zuständen verringert. Aber das ist halt, weil dieses Störungsbild so vielfältig ist, es gibt natürlich auch da wieder die Debatte, wie wir das bei vielen psychischen Störungen haben, vielleicht nennen wir auch Sachen Depression, die eigentlich besser anders irgendwie zu nennen wären und wir subsumieren das einfach nur. Da ist viel Bewegung in dem Bereich.
Stefan Laurin: Woran erkennen Angehörige, dass sie es mit einem Partner, einem Kind, einem Freund zu tun haben, der Depressionen hat?
Sebastian Bartoschek: Zunächst einmal würde ich sagen, daran, dass all das, was sie zunächst einmal als Traurigkeit – also wir reden jetzt über erwachsene Personen erstmal, wir können gerne auch nochmal über Kinder reden, weil da ist es nochmal anders, das ist ja sehr stark auch mein Beritt – aber bei Erwachsenen gerade diese Symptome, die wir mit Traurigkeit verbinden würden, vorhanden sind, wie zum Beispiel Antriebslosigkeit. Dass die quasi vorhanden sind, ohne dass es dafür einen äußeren Anlass gibt.
Stefan Laurin: Was für ein äußerer Anlass?
Sebastian Bartoschek: Na zum Beispiel Tod eines Angehörigen, eine akute Trennung.
Stefan Laurin: Na, aber das sind doch noch reaktive Depressionen.
Sebastian Bartoschek: Ja genau. Merke ich gerade, die klammern wir gerne im Kopf immer so ein bisschen aus. Weil da kannst du vielleicht noch was dran drehen. Aber für die Angehörigen ist ein gutes untrügliches Zeichen, dass es diese äußeren Anlässe nicht gibt, und die Person trotzdem in diesem Zustand sich befindet. Und dass die Person sich vielleicht auch sozial immer mehr zurückzieht. Ja so in die Richtung gehend. Für die Person selbst, dass sie einfach merkt, ganz vereinfacht gesprochen, ich komme nicht aus dem Quark und habe zunehmend bedrohliche Gedanken für mich, ohne dass ich die begründen kann. Also ich merke, ich bin traurig, aber ich weiß eigentlich gar nicht genau, warum. Aber das ist so überwältigend, dass ich es auch nicht irgendwie zurückdrängen oder durch Beschäftigung mit anderen Sachen einfach aufgeben kann. Das ist so das, was man sagen würde. Die Arbeitsfähigkeit sinkt ab. Die Fähigkeit soziale Kontakte aufrecht zu erhalten, das ist so das, was man von außen glaube ich ganz gut sieht.
Stefan Laurin: Was kann man tun?
Sebastian Bartoschek: Also man sollte als ersten Schritt – als Angehöriger jetzt oder als Betroffener?
Stefan Laurin: Für beide.
Sebastian Bartoschek: Als Angehöriger sollte man wie bei jeder psychischen Störung sich mit Ich-Botschaften der Person nähern. Also dass man sagt, ich nehme wahr, dass du in letzter Zeit dich so und so verhältst irgendwie und ich mache mir Sorgen, ob das vielleicht etwas anderes sein könnte. Und was nichts bringt, das hatte ich ja vorhin schon angedeutet, sind so Sachen wie: „Jetzt stell dich mal nicht so an, jetzt reiß dich mal zusammen, andere Leute haben auch schlimme Sachen erlebt.“
Stefan Laurin: „Kopf hoch, wird schon.“
Sebastian Bartoschek: So, im Zweifelsfall verstärkt das sogar nur noch Schuldgefühle beim Depressiven, weil der sich denkt: „Ja weiß ich, ich weiß, dass das nicht so ist.“ Oder die Tanja Hermann hat das mal sehr schön in einem Comic verarbeitet. Auch nicht so nach dem Motto ‚Ertappt, jetzt bist du ja doch gut drauf, also kannst du nicht depressiv sein.‘ Also auch eine depressive Person kann mitunter natürlich Phasen oder Momente haben, in denen sie mental gelöst und gut drauf ist. Das heißt aber nicht, dass sie nicht depressiv ist. Als Betroffener, aus der Psychologieschule, aus der ich komme, würde ich immer sagen, ab zum Arzt und zum Therapeuten, Psychopharmaka plus eine Form von Gesprächs- oder Verhaltenstherapie. Es gibt eben nicht dieses eine Allheilmittel, aber man kann ganz gute Ergebnisse auch da wieder erzielen, wenn man Psychopharmakotherapie macht. Das Problem ist aber, dass die Psychopharmaka nicht von jetzt auf gleich wirken. Das ist ein populärer Irrtum, ich gehe jetzt zum Arzt, der verschreibt mir was, ich nehme das jetzt und dann ist die Depression weg. Leider nicht. Also das sind meist Medikamente, die einen Pegel im Körper aufbauen. Denn man gibt eigentlich nicht mehr diese klassischen Stimmungsaufheller. Also was ja in den 90ern noch ein riesiges Thema war, so Prozac oder verschiedene Amphetamingruppen oder so was, so was gibt man eigentlich nicht mehr bei Depressiven, weil es halt schlicht auch die Gefahr der Abhängigkeit mit sich bringt und das Problem nicht löst. Man nimmt dann eher so Anxiolytika, also angstlösende Medikamente. Und was du gerade sagtest, Serotoninaufnahmehemmer. Und daher kommt dann der Grundsatzstreit zwischen Psychologen und vielen Psychiatern, die ich kennengelernt habe: Gibt es immer ein organisches Korrelat? Also gibt es bei jedem Depressiven irgendeine Sache, die mit den Neurotransmittern schiefläuft? Und der Psychiater tendiert dazu zu sagen: ‚Ja, und wenn nicht, dann ist es entweder keine Depression oder wir haben den Neurotransmitter noch nicht gefunden.‘ Und der Psychologe sagt: ‚Nein, vielleicht auch nicht.‘ Vielleicht haben wir es teilweise auch mit viel grundlegenderen oder nicht mit grundlegenderen, sondern mit anderen Mechanismen zu tun. Es gibt zum Beispiel den sogenannten depressiven Erklärungsstil. Da geht es immer um die Frage, wem ordne ich gutes und schlechtes zu, das in meinem Leben passiert. Und der depressive Attributions- oder Erklärungsstil läuft halt so, dass man sagt: ‚Alles, was mir gutes widerfährt, ist auf einen ganz engen Bereich bezogen, ist zufällig und kommt nicht von mir. Und alles, was ungut ist oder Pech ist oder unangenehm empfunden wird, ist eigentlich in allen Lebensbereichen durch mich verursacht und wird zeitlich andauern.‘ Und Menschen, die diesen Erklärungsstil halt haben, tendieren natürlich stärker zu einer Depression, als solche, die das nicht haben.
Stefan Laurin: Wenn man sich mit der Ratgeberliteratur beschäftigt für Angehörige, dann wird jeweils darin beschrieben, dass man sich drauf einrichten soll bei einem depressiven Angehörigen oder Partner, dass das über einen sehr langen Zeitraum geht, also ‚Bereiten Sie sich drauf vor, das ist ein Marathonlauf und kein 100 Meter Lauf.‘ Aber immer steht auch drin so, wenn man das durchhält, das wird am Ende wieder gut. Schaut man sich dann Statistiken an, die etwas mühselig zu suchen sind, aber zum Teil auch von Kliniken rausgegeben werden, dann stellt man fest, dass Kliniken damit werben, dass 60% ihrer Patienten das Gefühl haben, es geht ihnen nach einer stationären Therapie besser und 40% das nicht haben. Das steht in einem gewissen Widerspruch. Diese Durchhaltesache so, ‚das kriegen wir schon irgendwie wieder hin, das ist jetzt mal eine harte Zeit‘, aber es ist ja nun wirklich ungefähr ein Drittel der Leute, bei denen es nicht besser wird.
Sebastian Bartoschek: Will man das in einem Ratgeber lesen? Das ist glaube ich genau die Frage.
Stefan Laurin: Will man in einem Ratgeber nicht eine relativ realistische Einschätzung?
Sebastian Bartoschek: Ich glaube nicht, nein. Also um das mal ganz klar zu beantworten: Ich glaube, dass jemand, der einen Ratgeber liest, daraus Hoffnung ziehen will. Und dass der hören will, wahrscheinlich wird es gut. Und ich glaube, dass eine auf den ersten Blick eher nihilistische Ratgeberliteratur…
Stefan Laurin: Naja, ‚bei einem Drittel wird es nicht gut‘ ist ja nicht nihilistisch, sondern sagt nur, es ist immer noch über die Hälfte, wo es gut wird, aber richte dich drauf ein, es kann auch sein, dass es nicht wieder gut wird. Das ist ja nur …
Sebastian Bartoschek: Ich würde das genauso sehen wie du, aber ich glaube, das ist nicht das, was die Menschen lesen wollen. Weil die Zahlen sind genauso, wie die Kliniken sie rausgeben, in einem Drittel der Fälle …
Stefan Laurin: Klar will man das nicht lesen. Aber wenn man dann merkt, dass es eben doch einer der Fälle ist, wo es nicht so einfach wird, hilft es ja nichts.
Sebastian Bartoschek: Ja. Das ist jetzt natürlich trivial, was ich jetzt gleich sagen werde, aber deswegen ist ein Ratgeberbuch nicht dasselbe wie eine gute Psychotherapie oder Psychopharmakotherapie.
Stefan Laurin: Nicht Ratgeberbuch für Depressive, sondern Ratgeberbuch für Angehörige.
Sebastian Bartoschek: Ja, aber ich glaube, dass der Sinn von Ratgeberliteratur ist, zu motivieren, am Ball zu bleiben.
Stefan Laurin: Das muss man im Hinterkopf haben.
Sebastian Bartoschek: Das finde ich an sich auch nicht verwerflich. Ich habe vor langer Zeit mal viel Motivationsbücher gelesen. Wenn du die liest, da hast du ja das Gefühl, wenn ich einfach nur motiviert bin, dann kann ich ja alles erreichen. Dann habe ich irgendwo die schöne Karte gesehen „Denke immer dran, jede Leiche auf dem Mount Everest war eine hochmotivierte Person.“ Und das hat es. Aber das ist nicht das, was ich in einem Ratgeberbuch lesen will. Das hat eine andere Funktion. Man sollte sich das glaube ich vergegenwärtigen. Und ich glaube, das, was ich so mitbekomme von Angehörigen oder von Lebenspartnern von Betroffenen, ist, dass die irgendwann auch nicht mehr viel mit reiner Ratgeberliteratur anfangen können, sondern irgendwann anfangen, fachmedizinische Sachbücher zu lesen, die ihnen das Ganze einfach erklären und sie sich dann selbst ihre Meinung bilden.
Stefan Laurin: Wo dann eben auch andere Zahlen drinstehen. Also zu denen kommt man irgendwann mal.
Sebastian Bartoschek: Zwangsläufig. Wenn man merkt, der Ratgeber zündet nicht, so wie wir alle merken werden, auch wenn wir den Maschmeier gelesen haben, keiner von uns hat eine Million danach, da scheint der Maschmeier nicht für jeden zu punkten.
Stefan Laurin: Außer, dass es sich für Maschmeier lohnt, so ein Buch zu schreiben.
Sebastian Bartoschek: Außer für den Maschmeier natürlich selbst. Ja, das ist so, das hast du aber in der gesamten Ratgeberliteratur. Ich habe das immer viel mit Kindern. Da ist es dasselbe. Die erfolgreichsten Bücher im Erziehungsratgeberbereich sind diejenigen, die den Eltern Schuld nehmen, darum geht es glaube ich ganz viel bei Angehörigenbüchern. Und suggerieren, eigentlich sind alle anderen irgendwie verantwortlich, aber am Ende wird alles gut.
Stefan Laurin: Was wäre denn dann ein vernünftiger Rat für jemandem, der jemanden mit Depressionen in seinem Umfeld hat?
Sebastian Bartoschek: Ich glaube der ehrlichste Tipp oder die ehrlichste Frage wäre, willst du dir das wirklich geben? Willst du dir das geben, einen Weg zu gehen, an dessen Ende ein Scheitern stehen kann für dich und für die Person, egal, wie sehr du gekämpft hast? Beantworte diese Frage erst einmal für dich. Und dann überlege dir, was heißt das für dich? Und das ist glaube ich ein Schritt, der vielen schwerfällt, weil er erstmal unglaublich egoistisch erscheint, aber letztlich die Erwartungshaltung auch dem kranken Partner gegenüber realistisch eindampfen kann. Weil irgendwann frage ich mich ja, ich mach doch alles wie in dem Buch oder wie empfohlen und der kriegt das immer noch nicht hin, also wo ist denn da jetzt sein Problem? Und wenn ich für mich mitnehme, das kann sein, dass das so bleibt, dann glaube ich könnte ich da anders mit umgehen. Ich habe eine sehr gute Freundin, die schon lange Jahre depressiv ist, wo ich weiß, dass der Ehemann sich diese Frage erst nicht stellen wollte, weil er sie als selbstsüchtig empfand und der sie irgendwann aber für sich beantwortet hat. Und der gesagt hat, ‚das ist mir aber egal‘.
Stefan Laurin: Das ist Liebe.
Sebastian Bartoschek: Weil Liebe ja in einer Beziehung, wir haben ja immer, auch wenn wir glauben, dass wir es nicht haben, wir haben ja immer dieses Bild, Liebe besiegt alles. Aber gewisse Krankheiten eben nicht. Und wir glauben immer, oder man hat ja diesen Glauben, dass psychische Krankheiten eher zugänglich sind als körperliche. In einem Krebsratgeberbuch würdest du dich ja sehr darüber wundern, wenn gesagt würde, wenn ihr euch nur genug kümmert, dann wird es auf jeden Fall gut werden. Dann würdest du auch sagen, nein das kann ich halt nicht beeinflussen ab irgendeinem Punkt. Und bei den psychischen Störungen ist es halt ehrlich. Also gut, jetzt vielleicht mit Ausnahme von Angststörungen oder so, da kannst du sehr sicher was dran tun. Aber die Mehrheit der psychischen Störungen kann bleiben, egal, was du tust. Was aber nicht heißt, ‚ich mach jetzt nichts‘. Sondern ich habe halt ein Restscheiterrisiko.
Stefan Laurin: Ich habe mal gelesen, dass Leute, die eine depressive Phase haben, eine hohe Wahrscheinlichkeit hanen, dass sie keine zweite kriegen werden. Wenn sie eine zweite haben, steigt die Wahrscheinlichkeit für die dritte, nach der dritten für die vierte, usw. Das gleiche gilt für Psychiatrieaufenthalte. Einmal in eine Klinik zu kommen, kann jedem mal passieren, das zweite Mal ist ungewöhnlich und beim dritten Mal ist es ernst und beim vierten Mal ist …
Sebastian Bartoschek: … ist es chronisch.
Stefan Laurin: Steigt die Chance auch, dass es ein 5. oder 6. Mal geben wird.
Sebastian Bartoschek: Ja, genau. Was aber wiederum dann nicht heißt, ich glaube das ist auch der Grund vielleicht, dass die Ratgeberliteratur das sehr sparsam einstreut, weil das im Umkehrschluss aber auch nicht heißt, ich gehe jetzt nach dem ersten Psychiatrie- oder nach dem ersten Klinikaufenthalt nicht nochmal in die Klinik, weil sonst habe ich ja eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, das ist leider so einfach dann auch nicht. Also es macht durchaus Sinn für jemanden, gerade wenn wir jetzt auf Suizidalität gucken, dass der 6-8 Mal in die Klinik geht. Der wird sich aber auch relativ wenig Illusionen darüber machen, dass seine Depression einfach ganz weggehen wird.
Stefan Laurin: Aber die Phasen dazwischen können eben durchaus gut sein.
Sebastian Bartoschek: Die können durchaus gut sein, die können auch gute Monate umfassen. Eher nicht Jahre, aber Monate. Und das können gute Monate sein, das können auch Monate sein, in denen man sich sicher wähnt, dass dieses Monster jetzt weg ist und dass es nicht auf einmal wiederkommt. Deswegen bin ich ja immer ein riesiger Fan, wenn ich das in gutachterlichen Prozessen mache, da habe ich oft folgendes Schema: Da hat jemand eine Depression in einer sehr schwierigen Lebensphase und meistert dann die Lebensphase, meistert dann die Depression und erklärt mir dann, dass er oder sie ausschließen kann, nochmal die Depression zu haben, weil sich sein Leben ja verändert hat. Und dann ist meine Frage immer: „gehst du denn weiterhin zum Therapeuten? Was machst du denn an Präventivmaßnahmen, wie erkennst du denn, ob du wieder in Gefahr bist, da reinzurutschen?“ Und wenn dann nur kommt: „Ja, solange mein Leben gut ist, wird mir das nicht passieren“. Dann sage ich immer: „Das ist sehr ehrenvoll, aber das ist nicht realistisch“.
Sebastian Bartoschek: Ja genau, also wir sprachen jetzt über Erwachsene. Vielleicht können wir einmal kurz den Schlenker zu Kindern machen. Weil das ja ein Bereich ist …
Stefan Laurin: Ich habe mal gelesen, sogar Säuglinge hätten schon Depressionen.
Sebastian Bartoschek: Das halte ich jetzt vorsichtig gesagt für umstritten, weil Säuglinge keine theory of mind, also kein Selbstkonzept haben, okay, das haben kleine Kinder auch nicht. Insofern würde ich da …
Stefan Laurin: Aber ab dem Augenblick, wo die Leute ein Selbstkonzept haben, ab dem Alter kann das vorkommen?
Sebastian Bartoschek: Genau ab da würde ich es auf jeden Fall bejahen. Ich weiß nicht, wie man jetzt bei einem Säugling … also ich würde es jetzt als Diagnostiker einfach mal in Frage stellen, wie ich das feststellen will. Also bei Kleinkindern und bei Säuglingen sprechen wir auch nicht von Persönlichkeit, sondern von Temperament. Und ja, es gibt depressive Temperamente, das sind dann sehr antriebsarme, ruhige Kinder, die sehen dann vielleicht so aus, dass man es eher in Richtung eines depressiven Stils beschreiben würde…
Stefan Laurin: Kann aber in einem Jahr ganz anders sein.
Sebastian Bartoschek: Naja, ganz anders nicht.
Stefan Laurin: Na gut, es gibt Leute, die sind einfach ruhiger, in sich gekehrter.
Sebastian Bartoschek: Genau die sind dann eher introvertierter. Also jeder, der mehrere Kinder hat, kennt das ja, dass man schon in der Kleinkindphase Unterschiede zwischen den Kindern wahrnimmt, die dann auch übers Leben sich erhalten, aber das ist nichts, wo man jetzt Menschen Angst machen muss. Was tatsächlich bei Kindern aber ist, ist, dass Depressionen mitunter andere Symptome zeigen. Also man spricht dann von einer lavierten, also verdeckten Depression bei Kindern. Und die Symptome sind vordergründig oft körperlich, also somatisch. Zum Beispiel wenn ich hier Eltern habe, die mir berichten, ihre Kinder hätten regelmäßig Kopf- oder Bauchschmerzen. Es gibt bei Kindern – also natürlich, wenn sie jetzt eine Erkrankung haben, einen Virus oder was, klar – aber wenn die Kinder öfter Bauchschmerzen haben, ohne dass das jetzt mit Durchfall oder Erbrechen einhergeht oder wenn sie Kopfschmerzen haben. Es gibt bei Kindern eigentlich kaum einen Grund, Kopfschmerzen zu haben, der nicht letztlich psychisch ist. Ich sage dann immer, ja, es könnte sein, dass das Kind eine Brille braucht und es könnte sein, dass ein Kind einen Hirntumor hat. Okay, wenn wir die beiden Sachen mal ausschließen, dann bleibt da nicht mehr viel, was nicht psychosomatisch ist, und das sind dann bei Kindern klassische Depressionssymptome. Und es gibt auch tatsächlich, die habe ich auch im Einsatz auch für Kinder, Fragebogenverfahren zum Thema Depression. Und es gibt, das ist für mich auch eines der letzten großen Tabuthemen, man spricht ja viel über Sachen, über die man nicht reden darf in diesem Land, worüber man aber wirklich kaum bis gar nicht redet sind Suizide bei Kindern und die gibt es. Das sind Gott sei Dank nicht viele, aber auch die gibt es. Kinder, die mit 6-7 Jahren Abschiedsbriefe hinterlassen und sich dann das Leben nehmen, das ist so. Und man sollte auch Kinder ernst nehmen, wenn sie solche Symptome zeigen. Also die Suizidalität ist sehr gering bei Kindern, aber das mit den Kopfschmerzen und Bauchschmerzen, da haben wir oft noch als Erwachsene die Tendenz, das wegzuschieben. Weil wir sagen, was können die schon an Problemen haben. Und genau das ist eigentlich dieser notjustsad-Gedanke, den können wir auch gerne mal auf Kinder anlegen, auch die können da in solche Sachen reinrutschen.
Stefan Laurin: Ohnehin gilt ja, sobald das Thema Suizid auftaucht, soweit ich weiß, nur in Andeutungen, egal, welche Reaktion man erhält, wirklich sofort 112 anrufen, egal, ob man dafür den größten Streit seines Lebens riskiert oder nicht.
Sebastian Bartoschek: Genau, also wenn es konkret ist, auf jeden Fall die 112, da kann man eigentlich nie was falsch machen, aber vor allem es erstmal offen machen, also das gelingt ja schon vielen nicht. Also ich gebe viele Workshops zum Thema Suizidprophylaxe und da ist einer der populärsten Mythen, der auch bei Fachkräften immer noch beliebt ist, ‚ich spreche das jetzt lieber mal nicht an, weil wer weiß, sonst bringe ich den noch auf Gedanken oder löse etwas aus, was sonst nicht passiert wäre‘. Und da sagt die Forschung ganz klar, das ist Bullshit, du bringst niemanden auf die Idee, einen Suizid zu begehen, der auf einmal sich denkt: ‚Ach so ja, das wäre natürlich eine Option‘. Ich habe das gerade bei Jugendlichen, wo es Teil der Jugendsprache ist, auch so Sachen zu sagen, ‚wenn das und das ist, dann bringe ich mich um, dann kann ich ja auch gleich ins Wasser gehen, dann knalle ich euch alle ab und mich zuletzt oder so‘. Das mache ich dann immer und sofort offen. Und sage: ‚Pass auf, du hast gerade das und das gesagt, meinst du das?‘ Und man muss sagen, 90% der Jugendlichen sind dann erstmal geschockt und sagen, ‚nein das sagt man doch so.‘ Wo ich dann sage, ‚nee, ich sage das nicht so, warum sagst du das so?‘ Und spätestens dann kommt fast immer raus, das ist so dahergesagt. Also das sind so die sprachlichen Andeutungen. Darüberhinaus gibt es aber auch tatsächlich solche Sachen wie, Leute fangen an, Sachen zu verschenken, ‚brauche ich nicht mehr, kannst du haben und so‘. Und es geht jetzt nicht um Haushaltsauflösung, jeder muss mal gelegentlich seinen Keller entrümpeln, aber wenn man auf einmal das Gefühl hat, da fängt jemand an, mehr Sachen zu verschenken als normal wäre, dann kann man das…
Stefan Laurin: Und auch persönliche Dinge.
Sebastian Bartoschek: Genau, die man eigentlich nicht verschenkt. Also keine Ahnung, die Pfanne, die besondere Bedeutung hatte, weil die Oma die geschenkt hat. Und dann sagt, die brauche ich jetzt bald nicht mehr. Dann aufgemerkt an der Stelle! Aber klar, wenn man sich unsicher ist, es gibt auch Notfalltechniken, aber die muss nicht jeder kennen und die muss auch nicht jeder einsetzen, wenn er sich unsicher ist. Im Zweifel die 112, auch da vielleicht mit einem populären Mythos aufgeräumt, den ich immer wieder höre. Wenn ich die 112 rufe und die kommen und die stellen fest, keine Suizidalität, dann zahle ich nicht den Einsatz. Das ist eine Sache, die ich immer wieder höre, wenn ich die Feuerwehr oder den Sani rufe und der sagt, hier ist nichts, dann muss ich bestimmt die Rechnung zahlen.
Stefan Laurin: Obwohl, ich habe das mal bei einem Bekannten auf Facebook erlebt, bei einem Facebook-Freund, der so eine Art Abschiedsbrief geschrieben hat. Worauf sich, was ich eigentlich sehr schön fand, ein großer Teil seines Freundeskreises sehr viel Mühe gab. Es gab auch Leute, die dann hingefahren sind. Jemand hat die 112 angerufen. Und der war sehr sauer im ersten Moment. Und dem musste dann schon gesagt werden, ja das ist jetzt blöd für dich und du musst jetzt auch die Nacht in der Psychiatrie verbringen, das ist ihm deutlich gemacht worden. Auf der anderen Seite überlege mal, da sind eine Menge Leute, die machen sich solche Sorgen um dich, dass die bereit sind, richtigen Streit mit dir zu kriegen, weil sie es gut mit dir meinen.
Sebastian Bartoschek: Also wenn er die Nacht in der Psychiatrie verbringen musste, dann wird da auch eine Suizidalität vorgelegen haben. Also wir haben ja die Schwelle, die unser Gesetzgeber definiert hat, um jemanden gegen seinen Willen in eine Psychiatrie, in eine Klinik aufzunehmen, die ist unglaublich hoch. Und wenn ein Sani der Meinung ist, diese Schwelle ist überschritten, dann habe ich noch nie – natürlich wird es Einzelfälle geben – aber dann habe ich nie erlebt, dass …
Stefan Laurin: Gibt es dann einen sehr, sehr guten Grund.
Sebastian Bartoschek: Genau. Ich glaube am dritten Tag muss spätestens ein Richter mit der Person sprechen. Ja, dann kommen einige raus, was aber nicht heißt, dass die Diagnose falsch war, sondern es kann ja eine akut suizidale Phase gewesen sein, die sich dann nach 1-2 Tagen erledigt. Also ich persönlich, und ich bin jetzt seit 2004 Psychologe und arbeite vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe, ich habe noch nie erlebt, dass jemand völlig zu Unrecht gegen seinen Willen in einer Klinik aufgenommen wurde.
Stefan Laurin: Was passiert in diesen Kliniken?
Sebastian Bartoschek: Erstmal nicht viel.
Stefan Laurin: Also man kennt erstmal diese ganz fürchterlichen Dinge wie „Einer flog übers Kuckucksnest“ und so. Und diese ganzen Horrorvorstellungen. Also was passiert da?
Sebastian Bartoschek: Also Klinik ist nicht gleich Klinik. Das heißt, die Frage ist, ‚was ist das Setting und wofür bin ich da?‘ Da ist es tatsächlich so, wenn ich in einer akut suiziden Phase da hinkomme, dann wird eigentlich nichts mit mir bearbeitet oder so. Dann wird zugesehen, dass ich mich nicht suizidiere. Und das ist auch der Sinn dieser tageweisen oder mehrere Tage umfassenden Unterbringung. Da werde ich im Zweifelsfall Medikation erhalten. Da werde ich, wenn es hart kommt, da habe ich auch Fälle gehabt, es kann sein, dass ich fixiert werde. Ich hatte beispielsweise mal einen Fall eines Mädchens, das hat sich selbst versucht die Pulsadern zu zerbeißen. Wann immer die los war, die hat dann immer behauptet, jetzt ist alles gut und so, und dann guckte keiner und dann hat die nicht nur ausgebissen, sondern auch runtergeschluckt, so dass man es auch nicht mehr einoperieren konnte. Also wirklich schlimm. Die wurde dann fixiert. Das ist so. Die Fälle gibt es. Da brauchen wir nicht so tun, als würde es die nicht geben. So. Dann gibt es die sogenannte geschlossene Klinik. Also die, die ich nicht mal einfach so verlassen kann. Da passiert dann schon ein bisschen mehr. Da gibt es dann auch therapeutische Gespräche.
Stefan Laurin: In die man aber auch freiwillig reingeht, oder? Oder auf Anraten eines Arztes.
Sebastian Bartoschek: Genau. Also im Allgemeinen, ja. Mir fallen jetzt natürlich immer die Super-Ausnahmefälle ein. Aber in aller Regel sage ich, ‚ich brauche jetzt diesen stationären Aufenthalt‘, dann wird geguckt, geschlossen, halbgeschlossen, wie genau ist das Konzept. Aber in aller Regel entschließe ich mich zu längeren Aufenthalten mehr oder minder bewusst. Ich schließe dann auch in vielen Kliniken so einen ‚Vertrag zu leben‘ ab. Das ist eine Sache, die für Außenstehende immer ganz paradox aussieht. Das heißt, ich unterschreibe, dass man ja nur mit mir arbeiten kann, wenn ich lebe und wenn ich mich umgebracht habe, dann lebe ich halt nicht. Dementsprechend verpflichte ich mich für die Dauer X zu leben. Da wird eben auch sehr kleinteilig mittlerweile in vielen Kliniken gearbeitet, was ist der Zeitraum, für den du garantieren kannst, dich nicht umzubringen? Und dann unterschreibe ich einen sogenannten Vertrag fürs Leben. Und spannenderweise funktionieren diese Verträge ganz gut. Man würde ja jetzt erwarten, dass die vielleicht gar nicht klappen, aber doch, die klappen ganz gut. Und wenn man dann so ein längeres Setting jetzt hätte in so einer Klinik, dann würde man zunächst für mehrere Wochen – ja man kann es ruhig Kontaktverbot nennen – also man würde da isoliert von jeder Außenwelt erstmal sein und irgendwann würde man sogenannte Belastungserprobungen bekommen. Das ist das, wo dann der Außenstehende immer glaubt, ‚ah die haben jetzt Wochenendurlaub‘. Nein, aus Sicht der Klinik ist es genau andersrum, also die Belastungsphase ist die, wo die Person nach Hause geht, weil sie dann eben gucken muss, ‚wie komme ich da klar, was kann ich da machen?‘ Und das ist so das, was man machen würde in so einem klinischen Setting. In diesem klinischen Setting hätte man dann auch wahrscheinlich Gruppensitzungen. Man hat oftmals gar nicht originär psychotherapeutische Sachen, sondern so was wie Gestalttherapie, wie Beschäftigungstherapie, was eher aus so einem pädagogisch-heilpädagogischen Bereich kommt, mit mehr oder minder großem Erfolg. Also ich kenne einige Depressive, die sagen, ‚das war total klasse, so gestalttherapeutische Sachen‘. Wenn dann irgendwelche Sachen aus klassischerweise Speckstein gestaltet werden oder aus Lehm. Und ich kenne einige, die sagen, ‚das hat mir gar nichts gebracht, das war für mich Hokuspokus-Bullshit‘. Aber man versucht in den Kliniken, den Menschen ein möglichst großes Angebot zu machen. Was natürlich tatsächlich immer noch unangenehm ist, sind die geschlossenen Stationen, weil du da natürlich auch akut psychotische Personen hast. Also da hast du dann tatsächlich auch den Jesus und den Napoleon und die Leute sind dann auch da. Ja, das ist leider so. Zwar gibt es immer mehr spezialisierte Fachkliniken. Aber aus meiner Sicht, da wir immer noch viel zu wenig Plätze haben, ist das so.
Stefan Laurin: Also wenn der Arzt einem sagt, dass es Sinn machen könnte, in eine geschlossene Therapie zu gehen, gibt es keinen Grund, sich davor … also man sollte das als Chance sehen, die man wahrnimmt und nicht als irgendwie, ‚jetzt komme ich in die Irrenanstalt und das wird ganz fürchterlich‘.
Sebastian Bartoschek: Also die Ärzte, zumindest in Deutschland, ich kann es nicht für andere Länder sagen, ist alles ähnlich wie vorhin die Sache mit dem Einweisen durch den Sani, was auch sehr hochschwellig ist. Also bis ein Arzt dir das empfiehlt, da muss der sich schon sehr sicher sein. Ich kenne keinen Arzt, der das mal eben so aus dem Handgelenk schüttelt, diese Empfehlung. Weil man natürlich weiß, dass das sehr einschneidend ist. Also ich frage dann immer, warum sollte ein Arzt daran Interesse haben?
Stefan Laurin: Was sind die Alternativen? Es gibt so was wie Tageskliniken, wo man dann…
Sebastian Bartoschek: Genau, also die würde man wahrscheinlich dann eher für die – das ist jetzt gar nicht despektierlich gemeint – die leichteren Formen als alleinige Idee dann favorisieren. Also Leute, wo du dann tagsüber zum Beispiel hingehst oder auch ambulante Settings, also quasi wo du zweimal die Woche oder so Therapie hast, werden auch mittlerweile als Tagesklinik bezeichnet. In meinem Kopf ist Tagesklinik immer noch, ‚ich gehe morgens hin und gehe abends wieder raus‘. Das weicht sich alles in den letzten Jahren eigentlich immer mehr auf. Hat seine Vor- und Nachteile. Also ich finde dieses Tagesklinikding hat natürlich den Vorteil, dass man nicht komplett aus seinem sozialen Umfeld raus ist.
Stefan Laurin: Das ist kostengünstiger für die Krankenkasse.
Sebastian Bartoschek: Ja gut, das interessiert jetzt den Psychologen nicht so sehr. Aber ja, natürlich. Hat aber eben auch den Nachteil, dass du nicht aus deinem sozialen Umfeld raus bist. Das heißt, du bist am Abend mitunter halt wieder in deiner Wohnung, wo du vielleicht gelernt hast, mittlerweile gewisse depressive Gedanken kommen zu lassen.
Stefan Laurin: Du hast halt immer noch dieses Belastungselement permanent dabei. Das heißt die geschlossene Klinik ist auch, du wirst einfach mal rausgeholt und hast deine Ruhe und bist bei dir und musst dir erstmal um viele Dinge, die du im Alltag hast, eben keine Sorgen mehr machen.
Sebastian Bartoschek: Wir haben ein großes Problem in Deutschland aus meiner Sicht, das ist der Übergang aus der vollstationären in ambulante Behandlung. Ich habe das nie so ganz geblickt, was da genau das Problem ist, aber ich weiß, wo das Problem liegt, nämlich bei der Medikation. Also viele Medikationen, die in der Klinik verordnet werden, haben im Anschluss nicht sofort eine entsprechende Folgemedikation. Und das ist natürlich scheiße. Wenn du jetzt gerade über 6 Wochen eingestellt wurdest auf irgendein Präparat x und du aber draußen erst mal jetzt keinen Mediziner, also Psychiater oder auch deinen Hausarzt, dazu bewegen kannst, dir das Präparat oder ein adäquates Präparat zu verschreiben, sondern der jetzt anfängt, dir irgendwelche neue Medikation zu geben, kann mitunter dieser 6-Wochen-Erfolg dadurch schon wieder dahin sein. Das ist ein echtes Problem. Und ich meine mich zu erinnern, dass das irgendwie mit Abrechnungsmodalitäten von Psychopharmaka zu tun hat. Ich weiß es aber nicht mehr 100%.
Stefan Laurin: Wie ist die Versorgung mit Plätzen?
Sebastian Bartoschek: Aus wessen Sicht? Also, ich habe das Gesundheitsministerium öfter gefragt. Das Bundesgesundheitsministerium erklärt und das nicht erst jetzt in der großen Koalition, sondern schon unter Daniel Bahr, wir haben eine Überversorgung mit Therapieangeboten und für jeden, der dringend einen Platz braucht, der kriegt auch einen. All diejenigen unserer Leser, die das jetzt hören, die sich mal darum gekümmert haben, werden das als blanken Hohn empfinden. Weil die wissen, du wartest auf eine Psychotherapie im Westen zwischen 3 und 6, im Osten, je nachdem, wo du bist, zwischen 6 und 18 Monaten. Was wir tatsächlich haben, da kann man dem Gesundheitsministerium nur zustimmen, bei der Einweisung nach dem PsychKG, also bei Selbst- oder Fremdgefährdung, kommst du immer und sofort unter. Das ist so. Das ist ja schon mal etwas. Aber diese flächendeckende Versorgung, die das Gesundheitsministerium seit Jahren vor sich herträgt, die kann ich nicht erkennen in der Realität.
Stefan Laurin: Also da gibt es einfach noch immer viel zu wenig Plätze?
Sebastian Bartoschek: Ich finde, ja. Das ist das, was alle Betroffenen, mit denen ich in den letzten 13 – 14 Jahren meines Lebens zu tun hatte, mir immer widerspiegeln. Ich habe noch nie erlebt, auch bei Privatpatienten nicht, dass die sagen, ich habe sofort ein entsprechendes Angebot gefunden. Da muss man vielleicht ganz kurz zur Ehrenrettung des Gesundheitsministeriums sagen, das liegt auch darin begründet, wer Therapie machen kann und wie die Leute sich dann real aufteilen. Also anders, diejenigen, die Medikamente verschreiben sind ja die Mediziner, das sollen ja eigentlich Psychiater sein. Wir wissen, das sind sie nicht. Sondern wir wissen, irgendwas zwischen 25-35% der Psychopharmaka werden von Hausärzten verschrieben. Ich fand das früher immer schlecht, eigentlich können wir dafür dankbar sein. Weil die Hausärzte mir dann gesagt haben, wenn wir die nicht verschreiben, was passiert denn dann mit den Leuten? Und ich dann sagte, ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Aber eigentlich sollten das ja die Fachärzte verschreiben. Und dann weiß man aus Studien, dass die Fachärzte für Psychiatrie, die eigentlich so in der Theorie vor allem sich kümmern sollten um schwerwiegende psychische Krankheiten, natürlich auch lieber Patienten haben, mit denen sie vielleicht gefühlt weniger Arbeit haben. Und diejenigen, die es halt am dringendsten nötig haben, werden dann oft von Krisenambulanz zu Kurzzeit und so weiter hin und her geschoben. Also, was ich gut finde, vielleicht für diejenigen, die einen Therapieplatz suchen und keinen finden bei einem Niedergelassenen, es gibt in immer mehr Städten, man würde es in der Medizin „Lernambulanzen“ nennen, also wo Psychotherapeuten in der Ausbildung, meist in Vernetzung mit Niedergelassenen arbeiten.
Stefan Laurin: Das sind aber nicht die Krisenzentren oder?
Sebastian Bartoschek: Manchmal schon. Das hängt von der Stadt ab. Also in Bochum sind es die Krisenambulanzen. Münster hat da nochmal ein ganz eigenes System aufgebaut.
Stefan Laurin: Gibt es sowas in jeder Stadt?
Sebastian Bartoschek: Nein.
Stefan Laurin: Also es gibt keine flächendeckende Versorgung mit so Krisenzentren und Krisenambulanzen?
Sebastian Bartoschek: Nein.
Stefan Laurin: Man kann also nicht sagen, jede Großstadt, jeder Kreis hat so was?
Sebastian Bartoschek: Nein. Also jede Großstadt wahrscheinlich. Aber mir ist nicht bekannt, dass es da einen Versorgungsplan gäbe oder eine Darstellung. Dagegen spricht auch, dass die einfach zu unterschiedlich gestaltet sind. Ich würde eher erwarten, wenn es da irgendwie eine flächendeckende Versorgung gibt, dass die relativ gleichmäßig aufgebaut sind, das ist aber nicht so. Was zunimmt und was ich auch gut finde, sind eben dann so Netzwerkmodelle. Dass du halt sowohl jemanden drin hast, der medizinisch ist und damit verschreiben kann, als auch einen psychologischen Psychotherapeuten, als auch einen Pädagogen. Es geht ja auch oft dann um Alltagsgestaltung. Also vielleicht auch noch so sozialarbeiterische Aspekte und so. Das ist so das, was so State of the Art wäre und was wir hätten, wenn wir einen top Sozialstaat hätten oder Topindustrieland wären, das sind wir aber nicht an der Stelle. Vielleicht nochmal so ein Wort zum Thema körperliche Sachen. Das hatten wir ja ganz zu Beginn gehört als Ausschlusskriterium. Organische, psychische Störung. Da erlebe ich übrigens …
Stefan Laurin: Ah Moment, jetzt gehen wir nochmal zurück zum Anfang. Da hast du auch von Vererbung geredet. Welche Rolle spielt, dass man Eltern, Großeltern hat, die Depressionen haben?
Sebastian Bartoschek: Eine große. Also das ist ganz klassisch. Also sowohl genetisch als auch im vermittelten Verhalten. Also man weiß, dass beides einen Einfluss hat, wie so oft. Aber auch die Gene alleine. Also das, was ja oft wiederum in so linken Diskursen bestritten wird, wissen wir aus Zwillingsstudien ganz sicher, unabhängig von dem, wie ich aufwachse, haben meine Gene einen Einfluss oder eine Disposition, also eine ererbte Bereitschaft sage ich jetzt mal, eine gewisse psychische Störung zu kriegen.
Stefan Laurin: Das heißt aber nicht, dass das muss, sondern nur, dass die Wahrscheinlichkeit da ist?
Sebastian Bartoschek: Ja, die Wahrscheinlichkeit. Das ist immer bei psychischen Störungen so. Das sind dann eben die Sollbruchstellen, die eben tiefer oder nicht tiefer ausgeprägt sind.
Stefan Laurin: Dein Staudamm, der staut dann eben nicht so massiv wie bei anderen Leuten. Was aber nicht heißt, dass er nicht bei Leuten, die diese Disposition haben, nicht auch bricht.
Sebastian Bartoschek: Die die nicht haben meinst du?
Stefan Laurin: Nur, da muss der Druck dann höher sein.
Sebastian Bartoschek: Genau, ja. Oder es muss irgendwas anderes auf den Damm eingewirkt haben. Die körperliche Seite. Ja, das erlebe ich ganz oft tatsächlich, das ist sehr spannend. Also einerseits sind Depressionen immer offensichtlicher, immer anerkannter. Menschen sehen das viel mehr bei sich und anderen. Ich erlebe aber im Gegenzug, dass die körperliche Seite immer weniger ausgeschlossen wird. Also all das, was man dann – man nennt das dann differenzialdiagnostisch, also darauf schauend, ob es etwas anderes sein könnte als dieses Störungsbild, die körperliche Seite oft nicht vernünftig ausgeschlossen wird. Wir hatten zu Beginn ja schon mal kurz angedeutet diese Sache mit Eisen. Eisenmangel kann aussehen wie eine Depression. Das ist aber nicht das Einzige. Das ist jetzt eine sehr seltene Sache, aber ein Hirntumor kann immer aussehen wie jede beliebige psychische Krankheit. Das ist aber wirklich sehr selten. Schilddrüsenüber- oder unterfunktionen sind so eine Sache, die depressive Symptome, muss man jetzt formal sauber sagen, auslösen kann. Vitaminunterversorgung. Flüssigkeitsmangel. Also all solche Sachen können auch zu depressiven Symptomen führen.
Sebastian Bartoschek: Die körperliche Seite sollte man immer abklären und Leute, die zu mir kommen oder wo bei mir die Verdachtsdiagnose besteht, die lasse ich immer ein großes Blutbild beim Arzt machen. Auch da kommen jetzt wieder die Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems rein. Das kostet den Kassenpatienten, das ist keine Kassenleistung, auch nicht bei Verdacht auf Depression, deswegen machen das auch viele Ärzte nicht. Das kostet je nach Arzt zwischen 50-100 Euro, aber es ist sein Geld wert definitiv. Weil es ist ja toll. Wenn es wirklich nur Eisenmangel ist und ich muss einfach nur mal eine Woche lang Eisentabletten nehmen und dann sind meine depressiven Symptome weg, dann kann ich ja sehr glücklich sein, dass ich dann nur 100 Euro plus die Eisentabletten investiert habe. Vitamin E – oder D Mangel ist auch so eine Sache. Das sind dann wieder so diese umgangssprachlichen Begriffe wie Herbstdepression oder so, wo wenig Tageslicht ist und so. Es gibt eine erhöhte Selbstmordzahl bei den Ländern, die diese langen Mittsommernächte haben und so. Eine Sache noch, die Selbstmedikation ist mir immer so ein Anliegen gerade bei jungen Menschen, aber es bestraft natürlich auch Erwachsene. Es gibt natürlich Betäubungsmittel, die stimmungsaufhellend sind. Das am weitesten verbreitete legale und große Probleme verursachende ist Alkohol. Jeder 6. deutsche Mann soll ein Alkoholproblem haben, sagen Zahlen.
Stefan Laurin: Ist ja fast die Menge der Depressiven.
Sebastian Bartoschek: Wenn man es so sehen würde, ja. Fällt aber nicht zusammen. Das andere, was sehr leicht verfügbar, formal gesehen illegal ist, ist Cannabis. Beide Produkte haben aber keine nachhaltig positive Wirkung. Das heißt, bei Alkohol haben wir das Problem, dass wir relativ schnell Toleranz entwickeln, mit allen Folgeproblemen, die Alkoholismus mit sich bringen kann. Wir haben eine sehr hohe Comorbidität, also gemeinsames Auftreten von psychischen Erkrankungen zwischen Alkoholismus und Depression.
Stefan Laurin: Und wir haben ja auch, das kennt man aus Erfahrung, wenn es einem schlecht geht und man trinkt, der nächste Tag ist viel schlimmer.
Sebastian Bartoschek: Genau, also das ist in der Regel so. Das hatten wir beim Thema Liebeskummer auch schon gehabt. Wie gesagt, das heißt jetzt nicht, wenn ich mal, weil es mir schlecht geht zur Stimmungsaufhellung Alkohol trinke, das ist nicht das Problem. Aber wenn ich Alkohol als regelmäßige Lösung meiner Stimmung einsetze, dann wäre eigentlich der Weg besser zum Hausarzt und zu sagen, da läuft gerade irgendwas schief bei mir. Weil Alkohol nur in kleinen bis mittleren Mengen stimmungsaufhellend wirkt, danach ist Alkohol je nach Person sehr unterschiedlich wirkend.
Stefan Laurin: Kann traurig machen, aggressiv machen und so.
Sebastian Bartoschek: Und wenn ich mir jetzt vorstelle, ich bin depressiv, trinke immer mehr und bin dann in dieser Traurigkeit noch verstärkt, dann kann natürlich die Suizidalität sehr schnell erhöht werden und ähnlich ist es letztlich auch bei Cannabis. Also es gibt keinen Grund, Betäubungsmittel, egal ob legale oder illegale, Psychopharmaka vorzuziehen. Denn wenn das so wäre, dann würden die Pharmakonzerne ja auf die Betäubungsmittel setzen. Wie sie das ja beispielsweise bei Krebs und zunehmend bei Cannabis tun. Also das heißt, man sollte sich da nicht scheuen, den Weg zum Mediziner anzutreten. Ich fand es ganz spannend, ich habe mal mit meinem ehemaligen Hausarzt darüber gesprochen, wie das Verhältnis ist von Leuten, die wegen psychischer Probleme bei ihm sind vs. die, die körperliche Symptome haben. Und das fand ich irre. Also ich bin hier in Herne, Hausarzt mitten in der Herner City. Und der sagte, was glauben Sie denn, wie mein Verhältnis ist? Und ich sagte dann, weiß ich nicht 50/50 vielleicht? Und dann sagte er, ja nein, 60/40 für die psychischen Probleme. Und das fand ich krass, die Zahl. Weil ich in meinem naiven Glauben davon ausging, die Hauptarbeit eines Hausarztes besteht in körperlichen Krankheiten. Ich weiß gar nicht, ob das gut oder schlecht ist. Weil andererseits heißt es ja vielleicht auch, dass wir weniger körperliche Gebrechen haben, die uns im Leben beeinflussen.
Stefan Laurin: Ja, oder, dass psychische Probleme körperliche Gebrechen auslösen.
Sebastian Bartoschek: Ja auch das, da gibt es ja diesen engen Zusammenhang gerade im Arbeitsleben zwischen Wirbelsäulenerkrankungen und Depressionen, er auch belegt ist. Auch da ist wieder Henne-Ei-Problematik.
Stefan Laurin: Bluthochdruck sonst was.
Sebastian Bartoschek: Das heißt also, es macht Sinn, etwas zu tun, wenn man selbst merkt, man könnte eine Depression haben oder jemand im Umfeld könnte etwas haben. Und mich nerven immer diese Modeerkrankungen oder Begrifflichkeiten, die dann mit persönlicher Stärke operieren. Früher, da waren wir noch echte Männer, da hat keiner Depressionen gehabt, das ist dummes Zeug. Ich habe letztens noch, vielleicht das als letztes, einen autobiografischen Roman gelesen eines Walfängerkapitäns aus den 1910-20er Jahren und was der da beschreibt an Bord dieser Walfängerschiffe, da ist ganz viel Depression bei, bei dem, was er da hat. Und die haben es damals halt dadurch gelöst, gelöst haben sie es eigentlich nicht, sondern die haben sich dann halt regelmäßig besoffen, gekloppt und ansonsten versucht durch harte Arbeit da das nicht zu bemerken.
Stefan Laurin: Sind ja auch viele gestorben.
Sebastian Bartoschek: Genau. Und das ist dann das, was er auch schön beschreibt, obwohl es natürlich keine schöne Lösung ist, dass es gewisse Leute gab, wenn die an der Harpune waren, da hat man sich dann ferngehalten, weil man nicht wusste, will der das vielleicht einfach nur nutzen, um für sich einen Abgang zu finden. Also eine Sache, die uns leider noch erhalten bleiben wird menschheitsgeschichtlich.
Stefan Laurin: Okay.
Sebastian Bartoschek: Soweit.
Teil 1: Wenn Kinder trauern
Teil 2: Liebeskummer
Mitarbeit: Lu Rieland
Danke für dieses tolle Interview.
Ich bin selbst betroffen und leide seit vier Jahren unter Depressionen.
Es ist so schwierig anderen zu erklären, wieso weshalb und warum man so tieftraurig und verzweifelt ist , wenn man sich gerade in diesem tiefen Loch befindet und sich sicher ist, niemals wieder die Sonne sehen zu werden.
Es ist aber aber schön zu wissen, dass Menschen gibt die einen ernst nehmen und die es zumindest versuchen….
Lg Julie
Ich habe auch immer wieder mit dieser Krankheit zu tun gehabt und lange gebraucht, um halbwegs mit der Depression umzugehen, mich ihr nicht völlig hinzugeben. Täler wechselten sich mit normal bis guten Zeiten ab. Eigentlich kann man die Auswirkung dieser Krankheit der nicht betroffenen Umwelt kaum verständlich machen. Es mag heute sicher mehr Verständnis für die Betroffenen geben als im letzten Jahrhundert, wo man die Auswirkungen gerne auch mit einem "reiß Dich zusammen" abtat.
Was den Umgang mit dieser Erkrankung für mich so schwierig machte, war die Unvorhersehbarkeit eines, wie soll ich sagen, Schubes. Eine Situation aus den Anfangsachtzigern ist mir bis heute unvergesslich. Letzter Schultag vor den Herbstferien, ich bin in bester Stimmung, denn noch am selben Tag sollte es in die alte Heimat gehen, Geschwister und Freunde. besuchen. Ich komme in die Klasse, auch die Schüler sind freundlich und guter Dinge. Dann trifft es mich wie ein Hammerschlag und ich gehe psychisch zu Boden. Warum, wieso, weshalb? Keine Ahnung. Ich habe mich dann noch ein paar Monate hingeschleppt und habe dann professionelle Hilfe in einer Tagesklinik gesucht. Als es dann Jahre später noch mal heftig wurde, hatte ich das Glück, über meinen Arbeitgeber eine erfahrene Supervisorin zu finden. Seitdem gehe ich nicht mehr zu Boden, kann mich psychisch auf den Beinen halten.
Es gibt gewiss viele Wege aus der Depression, eines haben sie m. W. n. gemeinsam: sie sind lange und mühselig
Enttaburisiert wäre das Thema, wenn man keine Nachteile mehr hätte, wenn man sagt, dass man das mal hatte. Davon sind wir weit entfernt.
<blockquote> das ist nicht nur traurig, </blockquote>
Mit Traurigkeit hat das wenig zu tun, eher mit der Abwesenheit von Gefühlen.
Schöner Beitrag! War gestern sehr interessant zu lesen.
Oha. Staublunge vs. Depression, Alt-NRW vs. Neu-NRW. Noch so ein Saure-Gurken-Sommerlochthema. Wenn man kein profitierender Psychologe ist, natürlich. Alfred Tetzlaff rotiert grade.