Malteserstraße 7, Duisburg-Duissern, im Sommer 1988 wohnen Erich Fried und Hildegard, eine junge Begleiterin, für ein paar Tage bei mir und meiner Freundin Katrin in einer unserer direkt nebeneinander liegenden Genossenschaftswohnungen. Fried hatte sich gewünscht, nicht in einem Hotel logieren zu müssen, sondern bei „lieben Menschen“ zu wohnen, und über solche nachdenkend, fielen wir uns damals natürlich gleich selbst ein.
Es war Katrins kleine Wohnung, die wir Fried für seine Lesungen im Ruhrgebiet als Basislager zur Verfügung stellten, während wir nebenan zusammenrückten. Katrin war erst zwei Jahre zuvor – nach einem Westbesuch bei ihrer Großmutter in Oberhausen – nicht ins DDR-Elternhaus zurückgekehrt. Erich Fried wird sich in diesen Tagen gelegentlich wundern über uns als ungleiches Paar: den Ex-Spartakus-Studenten und seine eher nebenbei aus der DDR getürmte propere Freundin, eine Hebamme von Beruf, die dem einst DDR-kritischen, aber -solidarischen Linken bei der Austreibung der allerletzten Illusionen über „drüben“ behilflich war.
Anfängergeist
Nur wenig später, im November 1988, wird Fried in Baden-Baden sterben, er leidet schon lange an Darmkrebs, auch in Duisburg hängen an ihm Schlauch, Beutel, meist verborgen unter Rollkragenpullover, grober Cordhose. Von dieser Krankheit weiß ich nichts, als ich, junger Mitarbeiter im Literaturbüro Ruhr, wage, ihn Anfang 1988 in London, 22 Dartmouth Road, direkt anzurufen und ihn zu Lesungen ins Ruhrgebiet einzuladen. Mein Anfängergeist gefiel Fried, wir kamen – besser: er kam mit mir ins Gespräch und sagte freundlich zu.
Während der Sommertage `88 haben wir Erich Fried – „nenn mich bitte Erich“ (ich war so stolz den großen Erich Fried Erich duzen zu dürfen) – umsorgt, zusammen gegessen, diskutiert, ich habe ihn zu seinen Lesungen in Gladbeck, Recklinghausen gefahren. Und ich habe ein Interview mit ihm gemacht für die Deutsche Volkszeitung (dvz), heute aufgegangen in der Berliner Wochenzeitung „der Freitag“. In diesem Interview sagt er einen Satz, den ich nie vergessen werde: Ein Schriftsteller hat seine Einfälle jederzeit zu respektieren.
Rühmkorfs larmoyantes Zeug
Dann ist es soweit, unsere ‚Nacht der Literatur‘ rückt näher, vier Schriftseller sollten je 30 Minuten lesen, dazu Musik, Pause, Büchertische. Fried ist nur einer von zwei ‚Stars‘, der andere ist Peter Rühmkorf. Während dieses Abends des Literaturbüros im ausverkauften und überfüllten Theater an der Ruhr hört Fried aufmerksam Rühmkorfs Vortrag zu, eingesunken im Sessel der ersten Reihe, die Beine auf einem kleinen Hocker abgelegt. Irgendwann aber während der Rühmkorfschen Lesung nimmt Fried seine schmale Dokumentenmappe zur Hand und schlägt sie sich einige Male sichtbar und verärgert vor den Kopf, brummelt hörbar, dass er das larmoyante Zeug, diese Alterslyrik nicht mehr hören könne. Rühmkorf liest oben auf der Bühne gelassen weiter und wird mit viel Applaus für selbstironische Verse verabschiedet, die ich heute viel besser verstehe als damals: Mit den Jahren auch nicht mehr ganz in dem Zustand, / dass man sich / seine Liebhaberinnen noch persönlich aussuchen kann – / Wahrlich, so ist es Freunde, keine widerspricht. // Noch Seher oder schon Spanner, das ist die Frage.
Bei Hofe
Hinterher bei „Mamma Leone“, einem Duisburger Italiener direkt am Hauptbahnhof (es gibt ihn noch heute), sitzen beide sich an den Stirnseiten einer langen Tafel gegenüber. Jeder hält auf seine Weise Hof. Rühmkorf kokettiert mit mehreren Damen gleichzeitig, konzentriert sich dann auf eine von ihnen. Fried, gut vier Meter entfernt, seine Begleiterin und Fans in der Nähe, schläft immer wieder kurz ein, wacht auf, erzählt, fragt etwas. An diesem Abend kein Wort mehr zwischen den beiden Dichterfürsten. Ich, der ich bedeutende Schriftsteller bisher vor allem aus Büchern kannte, begann zu ahnen, dass da durchaus ein Unterschied bestehen könnte zwischen der Humanitas der Texte und dem Alltagsleben der Autoren.
Es ist ein Kuss, sagt der Mund
Nach ein paar Tagen verabschiede ich Erich Fried am Gleis 1 des Essener Hauptbahnhofs, herzliche Umarmung, ich will ich ihm das übliche Rechtslinksküsschen auf die Wangen geben. Er aber dreht den Kopf mit, drückt mir einen nur ein wenig feuchten Kuss auf den Mund, mit geschlossenen Augen. Überraschend, aber nicht unangenehm, keinerlei Peinlichkeit zwischen uns. Der erste richtige Kuss eines Mannes für mich. Und immerhin der Kuss eines libertär liebenden Lyrikers, der auch vertrackte Kussgedichte geschrieben hat.
Sucht// ich wünschte manchmal/ ich könnte/mich an dir sattküssen/ aber dann müsste ich sterben/ vor Hunger nach dir/ denn je mehr ich dich küsse/ desto mehr muß ich dich küssen:/ Die Küsse nähren nicht mich/ nur meinen Hunger
Erich Frieds bekanntestes Liebesgedicht aber ist sicher „Was es ist“ (Es ist Unsinn/ sagt die Vernunft/ Es ist was es ist/ sagt die Liebe/ …). Dazu schreibt Catherine Fried, Bildhauerin und Frieds Witwe, in ihrem Buch Über kurz oder lang. Erinnerungen an Erich Fried: „Einmal sahen wir sein ungeheuer populäres Gedicht Es ist was es ist, Vers um Vers sorgfältig abgeschrieben, auf der Mauer einer Unterführung. ‚Manchmal wünschte ich, ich hätte das Ding nie geschrieben‘, seufzte Erich.“
Manchmal war es schmerzhaft
Gut 21 Jahre nach Frieds Besuch in Duisburg, im November 2009, erzählt Catherine Fried anlässlich einer Lesung im Kultur- und Stadthistorischen Museum im Duisburger Innenhafen wie schmerzhaft es manchmal war, die Liebesgedichte Erichs zu lesen, ihren Erfolg zu erleben und zu wissen, dass sie nicht die Frau ist, die er in diesen Gedichten besingt.
In ihrem Buch beschrieb sie aber auch, warum sie in den 60er Jahren, als Britin mit wenig Deutschkenntnissen, seinem Werben schließlich erlag und seine dritte Ehefrau wurde:
„Eines Tages gingen wir uns dann die erste Kopie eines Interviews ansehen, das ein Fernsehteam mit ihm gemacht hatte. Dort auf dem kleinen Bildschirm des Schneidetischs war Erich im Zusammenhang mit seiner Arbeit eine kleine Gestalt, die lebhaft deutsch sprach. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer was er sagte, doch auf einmal vereinten sich all seine seltsamen Besonderheiten, der schwere Kopf mit dem kräftigen Kiefer, der kreisrunde Bauch und die gestikulierenden Patschhände zu einer vollkommen überzeugenden, schönen, gar charismatischen Gestalt.“
Dieser Beitrag erschien am 5. Mai 2011 auch in „der Freitag“, Nr. 18/2011, S. 16: http://www.freitag.de/kultur/1118-vom-dichter-gek-sst
Erich Fried: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1993
Catherine Fried: Über kurz oder lang. Erinnerungen an Erich Fried. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2008
Wunderschöne Geschichte. Vielen Dank. Ich hab beide gemocht – Fried und Rühmkorf. Schade, dass ich die Lesung damals verpasst habe.
Der Abschied am Bahnhof – als stünde ich am Gleis 2, schaute zu und lache in mich hinein. Danke für die schönen Erinnerungen an Erich Fried.
Manchmal will man lieber erinnern als zu leben wie es F. Fellini in seinem Film `Die Stimme des Mondes` sagen läßt.
Von der Todeskrankheit über die Groupies zum Bruderkuss – das nenne ich mal eine Klimax!
Allerdings. Die Story ist richtig gut – man spürt das Fandom, das dem Autor innewohnt. Gute selbsterlebte, anekdotisch angelegte Geschichte mit Moral.
Trotz alledem und alledem:
Jetzt mal zu Frieds Werk.
Fried ist der Bukowski der deutschen romantischen APO-Graubärte.
Sagen wir, Nähe zu Fried, das close up, für diese Generation, der ersten Generation der Betroffenheitsgeister — ist heuer nur noch zu interpretieren: Als ein einziger Linkskitsch.
Sentimental Journey.
Erich Fried ist der westdeutschste deutschsprachigste linkskitschigste Dichter von allen.
Und dessen aphoristische Anlagen hat gleichzeitig schon Arnfrid Astel besser verdichtet.
Im Kontrast ist interessant, daß die Ostzonalen wie Hacks so gut wie gleichzeitig ewige Werte geschaffen haben. Und dann hammer da noch Gryphius.
Anyway.
Jeder pubertierende Rapper/Punk in Duisburg-Hochfeld macht Euch in 40 sec einen Fried:
Ich bin der Fried
nennt mich den Schmied
Ihr seid nicht besoffen
Ihr seid voll betroffen
Ich liebe Anke
trauernd um die geliebte Kranke
Vor Wut stockt mein Blut in der Sonne des Okoberhimmels
das war mein Darm, nicht infolge meines kleinen Pimmels
Ich bin der Fried
der Linken Schmied
Ich bin der Freedichter, Poet des Kischreimes
Gryphius nur Gelichter, was reimt sich auf Schleim – im Genetiv.
Aha, Betroffenheit.
usf.
# 4 Hab ja vorgestern auch noch eine literaturkritische Betrachtung zu Fried hier bei den Ruhrbaronen eingestellt:
„Ich will mich erinnern/ an alles, was man vergißt“ – Zu Leben und Werk Erich Frieds – anlässlich seines 90. Geburtstags gestern
Darin auch einiges zu seinen schlechten Texten.
Dass Fried leicht zu kopieren sei, halte ich für eine Fehleinschätzung.
Seine guten Texte sind – frei nach Brecht – das Einfache, das so schwer zu machen ist.
#5:
Das ist ja alles zugestanden – Dein Reim, „eine literaturkritische Betrachtung zu Fried anläßlich seines 90. Geburtstages.“
Puh. Und ich dachte, der alte Sack ist endlich tot.
Aber – gehen wir mal in den, ähem, literaturkritischen Timetunnel; Timetunnel übrigens zuvörderst ein Begriff aus einer Serie aus der Blütezeitzeit des schmelzig betroffenen Frieds,
https://de.wikipedia.org/wiki/Time_Tunnel
Was war denn Ambach in der Blütezeit Deines Frieds? Wie verläuft dessen Rezeptionsgeschichte?
Irgendwann wolltet Ihr APO-Kinder der zweiten Generation auch noch mal den Staat umzustürzen mitmachen, habt dann aber, nachdem Popstar Baader erledigt wurde, Euch im warmen Mief der Betroffenheitsgruppe kuschelnd umfasst und sublimiert Fried deklamiert. Common sense, kostet nix. Das nächste Müsli, die nächste Wumme geht auf Fried.
Ein Gleichreim, Konsensbilligkeit, linksradikaler Mainstream.
Während die wirkliche literarische Radikale seinerzeit in unserem kleinen kotelettartigen Nachbarland gepflogen wurde:
Oswald Wieners Wegweisung etwa:
die verbesserung von mitteleuropa, roman
https://de.wikipedia.org/wiki/Oswald_Wiener
Oder – die Wiener Gruppe.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Gruppe
Die Lyrik von
https://de.wikipedia.org/wiki/H._C._Artmann
So will ich es doch haben.
Nicht Pathos, Zahnschmelz, deutsches Kraut.
Gerd Herholz, Leiter des Literaturbüros Ruhr, Du redest, verständlich in Deinem Alter, von Fried, Du redest aber auch, verwegen, von Brecht – und dessen Claim:
Man solle die Mühe, die drinsteckt, nicht hindurchschimmern lassen.
Sag‘ ich doch: Genau das Gegenteil ist Fried. Und platt noch dazu. Weiter so Gerd.
@Meiser: Du nervst.