„Worte haben eine unglaubliche Macht.“ Damit eröffnet Constantin Schreiber das erste Kapitel seines neuen Buches, um für das hohe Gut der Redefähigkeit und -freiheit zu streiten. Der Autor erörtert mit entschlossener Ausgewogenheit aus journalistischer Perspektive, warum eine Torte nicht nur eine Torte ist, oder: Warum die Demokratie furchtlose Debatten braucht.
Was war im August 2023 an der Universität Jena geschehen? Während einer Lesung skandierten linksextreme Aktivisten, Constantin Schreiber sei ein Rassist, und schon klatschte es ihm eine Schwarzwälderkirsch ins Gesicht – auf offener Bühne.
Die Szene ist Anlass seines Sachbuches „Lasst uns offen reden!“, das der Autor als Streitschrift ankündigt. Das klingt zunächst nach ordentlich Angriffslust und Zank, löst sich aber im Wohlgefallen für Widersprüchliches und Kontroverses auf.
Während uns manche Worte als historische Zitate in Erinnerung bleiben, reizen andere wie „Wärmepumpe“ die Gemüter. Eine Debatte scheint unmöglich, sogar gefährlich für Leib und Wohl. Zur Erinnerung: Bei Schreiber war es „nur“ eine Torte, Salman Rushdie kostete es ein Auge. Das Schlüsselproblem beschreibt Schreiber darin, nicht mehr zwischen Meinung und wahrer Tatsachenbehauptung zu unterscheiden. Das Grundgesetz schützt zwar die Meinungsfreiheit, aber muss man sich deswegen vom Frankfurter Kranz bis zur Sacher alles vor den Latz knallen lassen? Zurecht fragt Schreiber: Wann verwirkt man sein Recht auf politische Teilhabe?
Neben der Rechtsgrundlage gibt es auch den guten Geschmack, eine Kultur im Umgang. Gern hart in der Sache, pointiert im Takt, aber bitte nicht vernichtend oder gar rufschädigend sollen Aussagen miteinander kritisch geprüft werden, so der Grimme-Preisträger. Im Grunde geht es um einen gesunden Menschenverstand, den Common Sense, dass keine Falschbehauptungen im Wortgefecht eingesetzt werden.
Schreiber nennt anschauliche Beispiele in der verschärften Debattenkultur, betont zugleich deswegen noch lange keinem der politischen Lager kategorial anzugehören. Die Torte hat anscheinend Spuren hinterlassen, wenn er die Metaebene seiner sehr klugen Sachanalyse gleich mit anführen muss. Eigentlich eine intellektuelle Fähigkeit, die man gemessen an den Idealen der Aufklärung bei Lesern erwarten dürfte, damit Schreibers kleine Kampfschrift von gut 140 Seiten für unsere Demokratie Gehör findet. Gerade der Kampf der Meinungen sei das Lebenselement in einem freiheitlichen Staat, betont Schreiber. Kommunikationsfreiheiten wie die freie Rede und die Pressefreiheit wurden deshalb in unserer Verfassung verankert, um dem Schutz andersdenkender Minderheiten zu dienen.
Furchtlos, das heißt mutig, frei, weil angstfrei, beleuchtet Schreiber, der 2019 die Deutsche Toleranzstiftung für interkulturellen Austausch im In- und Ausland gründete, den knappen Weg von einem Argument zu einer Verleumdung. Bei Schreibers gewählten Fallbeispielen wird die Tragik der Angst vor ehrlichen Debatten in Gänze deutlich. Allein durch das Thematisieren, so wie in seinen Büchern, wird man selbst Gegenstand eines öffentlichen Angriffs. Also schweigt man besser, weil wenn wir nicht darüber reden, haben wir auch keine Probleme?! „Man könnte derzeit leicht den Eindruck gewinnen, der Demokratie selbst wohne eine Neigung zur Selbstzerstörung inne.“ Die Gefahr bestehe, folgt man Schreibers reflektierter Betrachtung der Gemengelage von rechtem bis linkem Spektrum, im faschistoiden Allmachtswahn augenscheinlich vereint, in einer moralischen Delegitimierung durch „die zunehmende Abkehr von der Argumentations- hin zur Moralebene.“ Das erinnert an das von Philipp Hübl beschriebene Moralspektakel.
Als Journalist sieht Schreiber seine Funktion als Gatekeeper der kritischen Öffentlichkeit. Allerdings falle das Filtersieb in den sozialen Medien weg bzw. ermöglichen sie genau diejenige politische Teilhabe, um die es doch in der liberalen Debattenkultur geht. Um Chaos zu ordnen, ist die Frage zentral, was die Regeln für den Diskurs mit Vielfalt sind.
Schreiber plädiert für zwei Punkte: Erstens für eine Teilnahme aller, also explizit keinen Ausschluss der AfD in der öffentlichen Debatte. Zweitens votiert er für soziale Normen eines Streitgesprächs entlang der Regeln der Gewaltfreien Kommunikation, d.h. selbst unter schwierigen Umständen menschlich zu bleiben. Soweit so gut, diese Sichtweise sei dem Autor zugestanden. Die Anforderung einer permanenten Abstraktion ist bedauerlicherweise nicht jedem geschenkt. Dies zeigt sich recht eingängig von einer Anissa Amani bis zu einem Ferdinand von Schirach. (Kassiere ich nun einen Shitstorm, weil man mir unterstellen könnte, ich spiele eine als migrantisch zu lesende Frau einem alten weißen Mann gegenüber aus oder darf ich einfach mal auf Qualität hinweisen?)
Constantin Schreiber, Jahrgang 1979, ist ein feingeistiger Journalist, nicht nur, weil er bei seinem bezaubernden Klavierspiel nach der besten Version des guten Klangs strebt, sondern weil er einer anständigen Rede und Gegenrede nacheifert. Am Piano hat der Tagesschau-Sprecher gelernt, rechte und linke Hand miteinander für den guten Ton zu koordinieren. Sein Crescendo in unser aller Ohren: „Mit dem, was wir sagen – und eben auch mit dem, was wir nicht sagen –, prägen wir den Diskurs und damit unser Zusammenleben.“ Und was Tetris im Übrigen mit gesunder Kommunikation zu tun hat, allein dafür lohnt sich diese Streitschrift.
Lasst uns offen reden!
Warum die Demokratie furchtlose Debatten braucht
144 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-455-01810-3
ET: 5. September 2024