Am 15. November 2022 war der Ukrainekrieg das große Thema des G20-Gipfels in Bali. Der russische Außenminister, Sergej Lawrow, verließ noch vor Ende des Treffens den Gipfel. Knapp 9600 km weiter westlich – fern vor der großen Weltpolitik, ohne Beobachtung durch die internationalen Medien – endet auf dem Ben-Gurion-Flughafen für den 73-jährigen Juri sein bisheriges Leben in der Ukraine. Neun Monate Krieg liegen hinter ihm.
Zusammen mit seinem Schwiegersohn, Arye Sharuz Shalicar, hat Juri (ein Pseudonym) sein Kriegstagebuch aufgearbeitet. Herausgekommen ist ein sehr persönlicher und auch emotionaler Blick auf die Kriegssituation in der Stadt Cherson, die aktuell immer noch von russischen Truppen besetzt ist.
Tagebuch aus Cherson
Zum Krieg in der Ukraine, dessen Hintergründe und Vorgeschichte, dem Netzwerk Putins, der Psyche Putins und den Beweggründen des russischen Machthabers sind, seit der russischen Invasion, eine Vielzahl von Büchern erschienen.
Mit „Tagebuch aus Cherson“ ist nun ein Buch auf dem Markt, das nicht auf Analysen und historische Hintergrundinformation setzt und damit aus der umfangreichen Literatur zum Konflikt hervorsticht.
Als wir uns im Januar in einer Shopping-Mall in Petach Tikwa über das „Tagebuch aus Cherson unterhalten hatten, kündigte Arye Sharuz bereits an:
Ich versuche, in dem Buch keine große Politik zu machen. Ich versuche die menschliche Tragödie, anhand des Tagebuches, zu schildern. Sehr nüchtern. Es ist kein Roman. Komplett nüchtern.
Soviel vorweg: Dieses Konzept ist ihm zu 100% gelungen. Es geht in diesem Tagebuch nicht um geopolitische Fragen und Strategien, sondern um eine Geschichte vom Überleben – und auch Sterben – im Krieg. Trotzdem werden Reaktionen auf diesen Beitrag auf Facebook vermutlich, wie beim vorherigen Beitrag zu diesem Buch, wieder Lach-Smileys und „Aber der Westen und die NATO!“-Kommentare sein: Russische Bots können halt keine Empathie.
„Dorogaya Annatschka“
Mit „Dorogaya Annatschka“ – „Liebe Annatschka“ – beginnt jeder der 40 Tagebucheinträge der an seine Tochter, Ehefrau von Arye Sharuz, gerichtet ist.
Der erste Eintrag am 24. Februar 2022 endet mit der Hoffnung, dass die ukrainische Armee die Angreifer schnell verjagen wird und mit dem Ausruf „Slava Ukraini!“ – Ruhm der Ukraine!
Was das Buch authentisch macht, sind die wechselnden Emotionen: Der Weg von Hoffnung (wie im ersten Eintrag!) zu Hoffnungslosigkeit – manchmal auch von Krise zur größeren Krise – ist im Tagebuch aus Cherson meistens nur ein kleiner Tagesmarsch: Der Optimismus vom Vortag ist in den folgenden Einträgen vom 25. Februar und 27. Februar 2022 – zur damaligen Zeit war die ukrainische Armee auf dem Rückzug – nichts mehr zu spüren. „Dorogaya Annatschka, ich schreibe dir diesen zweiten Brief, weil ich nicht weiß, ob wir uns jemals wiedersehen werden.“
Von dem Vertrauen des ersten Eintrages, dass die ukrainischen Truppen die russische Soldateska zurückwerfen werden, ist hier nichts mehr zu spüren. Die Angst, weil sich „unsere feige Armee“ auf der Flucht befindet und Cherson nicht verteidigt wurde, ist greifbar. An diesem Tag sind dutzende, teilweise unbewaffnete, Ukrainer beim Versuch, die Anonovsky-Brücke vor den russischen Truppen zu schützen getötet wurden. Es sind, in Anbetracht eines Massakers an Widerstandskämpfern im Lila-Park in Cherson, teilweise auch verbitterte Worte gegen den ukrainischen Präsidenten Selenskyi und die ukrainischen Sicherheitsbehörden. Die Verzweiflung in den Tagebucheinträgen lässt die Forderungen von Gruppen der „Friedensbewegung„, denen billiges Gas wichtiger ist als die überfallenen Menschen in der Ukraine, wie Hohn erscheinen.
Politisch interessant ist bei den Tagebucheinträgen, für mich, die Ambivalenz von Juri:
Langsam fange ich aber an, mich gezwungenermaßen zu fragen, ob es eine Rolle spielt, ob Cherson unter unkrainischer oder russsicher Herrschaft steht, ob es zur Ukraine oder zu Russland gehört?
Der Propaganda des Kremls über die Russenfeinde und Nazis in der Ukraine laufen derartige Tagebucheinträge zuwider. Das Hauptproblem Putins in der längsten dreitägigen Spezialoperation der Weltgeschichte ist Thema eines Eintrages vom 18. März 2022: Die russische Invasion hat aus Juris Sohn, Vowa, einen ukrainischen Patrioten gemacht. „So schnell kann aus jemanden, der 43 Jahre lang weder an Hymnen noch an Flaggen, Interesse hatte, ein glühender Patriot werden.“
Die Analyse von Juri „Mir scheint, die russischen Angreifer haben das vollkommen unterschätzt. Sie gingen wahrscheinlich davon aus, dass ihre Truppen beim Einmarsch in die Stadt von Tausenden glücklichen Chersonern mit Blumen beworfen werden“ beschreibt treffend das größte Problem der russischen Armee: Der unterschätze Widerstandswillen der Ukrainer.
Juri, aufgewachsen und geboren als die Ukraine noch Teil der Sowjetunion und Russland „der große Bruder“ war, ist vom (durch den Krieg) aufkommenden Nationalismus und Patriotismus im Schatten der Kriegssituation, überrascht. Dass Putin mit seinem Krieg dem Ziel, die Herzen der Ukrainer für Russland zu gewinnen, nicht näher gekommen ist, macht Juri am Ende des Tagebucheintrages vom 18. März deutlich:
Russland war immer unser großer Bruder. Doch jetzt greift der große Bruder den kleinen Bruder an und geht mit aller Härte gegen ihn vor, um ihm seinen Willen aufzuzwingen. Die besten Familien würden in so einer Situation auseinandergehen, warum also nicht auch Staaten? Ganz gleich, wie sehr man sich eigentlich ähnelt.
Der Bruch mit dem ehemaligen Bruder Russland, trotz Danks an die Russen für die Befreiung von den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg, ist am 26. März 2022 spürbar.
Was die Russen jedoch hier in Cherson machen, hat nichts, rein gar nichts mit Kommunismus zu tun. Um ehrlich zu sei, es erinnert eher an das Vorgehen von Faschisten. Denn sie sind nicht nach Cherson gekommen, um uns zu helfen. Sie sind hier, um uns auszubeuten. Sie wollen uns beherrschen.
– auf dem Ostermarsch Rhein-Ruhr wäre Juri für diese Worte von Menschen mit Sowjetflagge, DKP- oder Linken-Fahne ausgebuht worden.
Was folgt im Buch, ist eine Beschreibung eines Lebens im Krieg mit allen Widrigkeiten und russischem Terror:
- In Cherson nicht mehr verfügbare Augentropfen, die von Israel aus, via jüdische Community, den langen Weg über drei Länder brauchten, um zu Juri zu gelangen.
- Der Anschluss des Telefonnetzes in Cherson an Russland.
- Der Zusammenbruch von bisherigen Lieferketten und die Wiederbelebung des alten Marktplatzes,
- die Preissteigerungen bei Lebensmitteln und anderen Waren,
- die Probleme um an Bargeld zu gelangen.
- Ukrainer, die von russischen Sicherheitskräften abgeholt werden – mit einem Sack über dem Kopf – und nicht mehr auftauchen.
- Kriegsverbrechen, wie z.B. der Beschuss des Karabelesh-Krankenhauses und der verschwundende Bürgermeister Ihor Kolykhaiev
Hoffentlich werden sich Juris Wünsche, geschrieben im Tagebucheintrag vom 24. Februar 2023 – vier Monate nach seiner Ankunft in Israel – bewahrheiten:
Doch ich bleibe optimistisch. Muss optimistisch bleiben. Der Blick nach vorne gerichtet. Das wäre es, was deine Großeltern von mir erwartet hätten. So haben sie mich erzogen. Ich bin froh, dass sie all das nicht mehr miterleben müssen. Wer weiß, vielleicht wird es doch noch positive Überraschungen geben und Cherson wird sich irgendwann wieder zu vergangener Größe und Freude entwickeln. Mein Leben würde ich nämlich genau dort fortsetzen und zu Ende bringen wollen, wo ich es begann – in meiner geliebten Heimat Cherson.
Informativ und mitreißend
Das Buch ist kein Lesevergnügen, was an dem Thema liegt. Menschen, die Juri nahestehen, sterben. Es liest sich, aufgrund des chronologischen Aufbaus und der kurzen Kapitel, flüssig. Und unerwartet spannend: Ab dem zweiten Tagebucheintrag hab ich – ungeplant – das Buch nicht mehr aus der Hand gelegt und in drei Stunden gelesen.
Auch wenn es nicht das primäre Ziel von Arye Sharuz war, Politik zu machen: In den Analysen seines Schwiegervaters ist auch rauszulesen, was an Putins Kriegsführung seit Beginn der dreitägigen Spezialoperation schief läuft. Das läuft en passant ohne den Fokus auf das eigentliche Thema, das Leben und Überleben im Krieg und die Frage „Was macht der Krieg aus einem Menschen?“, aus den Augen zu lassen.
[…] über den Krieg in der Ukraine und das Leben und Überleben im Krieg unterhalten. Das Buch „Tagebuch aus Cherson“ hatte Arye zu dieser Zeit, in Zusammenarbeit mit seinem Schwiegervater, gerade […]