Vom Pontos in den Pott

Griechische Flüchtlinge im Hafen von Moudania in Kleinasien Foto: Unbekannter Fotograf  Lizenz: Gemeinfrei

 

Jahrtausendelang lebten Griechen in Kleinasien auf der Fläche eines Landes, das heute die Türkei ist. Sie errichteten Städte, schützten Europa vor den Angriffen der Perser, Araber und Osmanen und hielten den Osten des Römischen Reichs am Leben, nachdem sein westlicher Teil schon lange durch die Barbaren zerstört worden war. In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden sie dann fast alle von den Türken vertrieben. Viele der Nachfahren der Pontosgriechen, die an der Küste des Schwarzen Meers lebten, zogen später ins Ruhrgebiet. Die Bochumerin Maria Laftsidis-Krüger hat ihre Geschichte in dem Buch “Vom Pontos in den Pott” erzählt. Ein Auszug aus dem Buch:

Nanak

Es war schon sehr spät in der Nacht, als Simon, der Schneider, sich auf den Weg zu Mehmet machte. Er zog eine kleine Holzkarre hinter sich her und hinterließ tiefe Spuren im fest gewordenen Schnee. Hier und da musste er kräftiger ziehen, da dicke Eisklumpen im Weg waren. Der Boden war vereist. Abgekämpft von seiner schweren Last, klopfte er vorsichtig an Mehmets Tür, der alleine lebte.

Die beiden Schneider kannten sich seit über 60 Jahren, auch wenn ihre Kundschaft streng getrennt war. Griechen suchten Simon auf, Türken Mehmet. Als das Licht endlich das Haus erhellte, öffnete der Türke in seinem Schlafanzug etwas erschrocken die Tür. «File mou, was machst du hier mitten in der Nacht? Ist was passiert? Komm doch rein.» Simon klopfte den Schnee von seinen Schuhen und betrat den kleinen Vorraum, dort zog er seine Schuhe aus, wie es sich in einem islamischen Haus gehörte. Den kleinen Holzwagen ließ er vor der Tür stehen. Mitten in der Nacht würde ihn niemand stehlen. «Was führt dich hierher? Möchtest du einen Tsai?» Der Türke war besorgt um seinen Freund, weil er den Grund seines Besuches nicht ahnen konnte.

Als der Tee nach einigen Minuten in den kleinen bauchigen Gläsern ziehen konnte, begann Simon das Gespräch. «Habibi, wir kennen uns nun das ganze Leben. Du hast deine Kunden, ich habe meine Kunden. Wir hätten zusammen alt werden können. Aber …» «Was aber? Willst du aufhören? Deinen Laden zu machen?» «Ja, Mehmet, das will ich.» «Ach was, alter Freund, du bist noch zu jung. Schneider hören mit 80 auf. Da hast du noch ein paar Jahre.» Er schlug ihm auf die Schulter, so wie es alte Freunde tun und reichte ihm den Löffel und den Zucker für den Tee, der nun lange 202 genug durchgezogen war. Mehmet hatte nie geheiratet und legte keinen großen Wert auf Sauberkeit. Jedes Mal, wenn Simon zum Tee- trinken bei ihm war, ärgerte er sich über die verdreckte, klebrige Zuckerdose und den klumpigen Zucker. Heute Nacht jedoch störte es ihn nicht. Er würde genau das bald sehr vermissen.

Simon brauchte ein paar Minuten, in denen er nur still dasaß und legte dann stumm seine Schiffspassage auf den Tisch. Trapezunt – Konstantinopel – Thessaloniki war dort zu lesen. Mehmet, der nicht gut lesen konnte, musste dreimal hinschauen, um es zu begreifen. Er weinte. «Du willst wirklich gehen? Aber hier ist doch deine Heimat!» brachte er kratzig über seine Lippen. Simon schluckte, er zitterte. Er hatte keine Familie, eigentlich war Mehmet seine Familie, auch wenn sie sich nicht oft sahen. «Es wird immer meine Heimat bleiben, Mehmet. Ich kenne die andere Heimat nicht und ich weiß auch nicht, ob sie jemals meine Heimat wird. Ich kenne weder ihren Geschmack, noch ihren Geruch, nicht einmal ihre Seele. Ich habe nicht mehr so viele Jahre, da wird es schwierig, die Fremde zur Heimat zu machen. Ich möchte eigentlich hier sterben und begraben werden. Aber, weißt du, ich habe nur ein Problem. Nicht Charon lauert auf mich, sondern hier wartet der Tod durch die Hand der Türken auf mich, und so möchte ich nicht sterben.» Mehmet nickte, er wusste, dass sein alter Freund recht hatte. Sie weinten nun beide. Der eine, weil er seinen Freund verlieren würde, der andere, weil er zudem Angst vor der Zukunft hatte. «Ich habe eine Bitte. Draußen steht meine Koukla, ich habe sie gut verpackt, sie wird es gut bei dir haben. Ich kann die schwere Nähmaschine nicht auf das Schiff mitnehmen. Ich habe bei der Reederei nachgefragt. Sie lehnten es ab.» Nun weinte er bitterlich. Sein Freund ließ ihm die Zeit, die er brauchte und saß nur stumm neben ihm. «Ich werde auf sie aufpassen wie auf mein eigenes Kind. Wir bringen sie auf den Dachboden. Wenn alles vorbei ist, kommst du wieder und holst sie ab.» Simon nickte, schlürfte seinen Tee, er konnte nicht mehr weiter sprechen. Nach einer ganzen Weile teilte er seinem Freund stockend mit, dass er bereits am nächsten Morgen Trapezunt verlassen würde.

Er hatte zwei große Koffer gepackt, den Laden verkauft und wollte nur noch seine Nähmaschine bei ihm unterbringen und sich verabschieden. «Morgen schon? Mein Freund, ich warte auf dich. Ich glaube nicht, dass dieser grässliche Krieg lange dauern wird», sprach er ihm Mut zu, den er bitter gebrauchen konnte. Die beiden alten Männer schleppten die schwere Nähmaschine auf den Dachboden, schnürten sie noch mit Decken zu und verab- schiedeten sich, als würde es ein Wiedersehen geben. Am nächsten Morgen stieg Simon mit vielen anderen Griechen, die sich die teuren Schiffspassagen leisten konnten, an Deck der Elpida.

Maria Laftsidis-Krüger:
Vom Pontos in den Pott

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