Vom Reden über Literatur

Poster von WikiCon 2011 Workshop „Exzellente Benutzer“ – Poupou l’quourouce (CC BY-SA 3.0) https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de

I

Wäre es für mich erforderlich, eine Perspektive von Literaturkritikern einzunehmen, hätte ich zunächst zu entscheiden, ob ich einen Text bzw. eine Textsammlung überhaupt ernst nehmen wollte. Ich könnte eventuell in einer Weise von meinem Urteilsvermögen und meiner Urteilskraft eingenommen sein, dass mir die Machart eines Textes völlig egal ist. In einem solchen Fall wäre ich das Maß der Literatur, also primär von Machwerken.
Die Funktion wäre nicht glaubhaft? Mit einer medialen Unterstützung, die mir erlaubte, meine Selbstherrlichkeit auszuleben – Bildmedien wären allerdings von Vorteil, falls ich gelernt hätte, meine Gesichtszüge und Extremitäten wie furchterregende Waffen einzusetzen, sogar unabhängig vom Gesagten -, könnte ich mir zumindest einige Untertanen dressieren, in deren Imagination … Aber ich schweife ab.
Alternativ ließe sich Fragen, ob Texte vielleicht Kriterien haben bzw. enthalten oder auf solche verweisen, an denen zu messen wäre. Die Bücher sind ja geschaffen worden. Doch um mögliche Kriterien entdecken zu können, wäre ein Textverständnis die Voraussetzung, eventuell sogar von weiterer Literatur.
Werden textlich nur Konventionen bedient, in welcher Richtung auch immer, ein belesener Literaturkritiker könnte dies relativ rasch in Erfahrung bringen, wäre nichts Neues entstanden. Warum auch, ließe sich erläutern, lieben Schriftsteller und ihre Leser nicht abgestandenes Zeug, die schmierige Patina, den pelzigen Überzug, den blühenden Schimmel? Eventuell bräuchte man nur wohlklingender zu formulieren: Vokabeln wie ‚Tradition‘, ‚Schönheit‘, ‚Geschmack‘ und ‚Bedeutung‘, handelt es sich nicht um bildungsbürgerliche Selbstläufer?
Bürgerliche suchen normalerweise nichts Neues, sondern Bestätigung, keine Auseinandersetzung, sondern die Gemütlichkeit auf einer Couch. Unter Umständen ist die flauschige Decke auf dem Körper wichtiger als ein Buch in den Händen. Irritationen vertragen sie verhältnismäßig schlecht. Ihre Pflege ist in der Regel ziemlich einfach.
Falls aber sonderbare Texte, mit diesen auch Kriterien auftauchen, etwas Neues – also das wäre ja Anarchie, wenn jeder einfach machen könnte, was er wollte. An eine neue Mode, daran könnte man sich eventuell gewöhnen. ‚Gewohnheit‘, fällt mir gerade auf, wäre noch eine der besonders wichtigen Vokabeln, und ein Bürgerlicher ein behäbiges Gewohnheitshaustier?

II

Ob vorgefunden Kriterien aber etwas taugen, wäre durchaus erörterbar. Lediglich  anzuführen, dass man entscheiden könne, wie man wolle, wäre etwas dürftig. Doch innerhalb einer Kritik lediglich alte Kriterien gegen einen Text zu stellen,  wäre gleichfalls zu wenig.
Eine wichtige Veränderung betraf im Wechsel von der sogenannten ‚Moderne‘ zur ‚Postmoderne‘ die Erzähler. In der Übergangsphase wurden nicht bloß allwissende Erzähler obsolet, sondern allmählich auch relativ viel wissende, denen man ein solches Wissen nicht zutraute. Zunächst schien es noch erforderlich zu sein, detailliert nachzuhalten, woher ein Erzähler was wissen könnte, u.a. ist in Heinrich Bölls Romanen eine solche Strategie zu finden, doch dieser formelle Aufwand kann nicht nur vom literarischen Vorhaben ablenken, sondern berücksichtigt normalerweise nicht die literarischen Projekte und ihre Konzeption. Dass völlig unkünstlerische Menschen narrative Werke angehen, gehört längst zum Alltag, plausibel wäre eine solche Wahl jedoch nicht. Und ob künstlerisch ein homogenes Ganzes zu entstehen hätte, kritisierte bereits Thomas Bernhard als ein mittelalterliches Ideal. Noch Werkbegriffe des 19. Jhds. zehrten von dieser religiösen Fantasie.
Mark Ammern und Kathrina Talmi stießen eine Diskussion an, in der als künstlerische Kriterien Autonomie und Angemessenheit ins Zentrum rückten.* Autonomie richtet sich primär gegen Nachahmungen, auch formelle, Angemessenheit literarisch auf die sprachlichen Mittel, zu denen fraglos auch ein konzipierter Erzähler gehört. Diese Kriterien sind weniger Normen, als dass sie Möglichkeiten offerieren. Sie befreien von bürgerlichen Vorgaben, präferieren stattdessen künstlerische Herausforderungen. Was ein Oberpriester oder was Bildungsbürger davon halten mögen, wäre schlicht egal. Es ginge sie zunächst gar nichts an.

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*Vgl. Mark Ammern, Hg., 2014, Analytische Belletristik [eBook], Duisburg; Kathrina Talmi, Hg., 2014, Diabolus. Essays über Künste [eBook], Duisburg.

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