Zugfahrten sind langweilig. Das heißt, wenn man nichts zu tun hat. Man könnte etwa Zeitung lesen, oder Musik hören. Fehlt es hingegen an derlei Dingen, bleibt nur der meist melancholische Blick aus dem Fenster. Und das ist nun mal recht unspannend. Es sei denn, man nimmt zur Kenntnis, dass Bahnstrecken zu großen Teilen riesige Kunst-Galerien sind, und diese Kunstform nennt sich Graffiti. Klar, eigentlich habe man natürlich nichts gegen „schöne Bilder“, aber für die „Schmierereien“ habe man kein Verständnis, schon gar nicht, wenn Privathäuser als Leinwand dienen. Diese „egomanen Selbstdarsteller“ solle man die Wände „mit ihrer Zahnbürste reinigen“ lassen. Solche Sätze bekommt man oft zu hören, wenn man sich auf Diskussionen einlässt. Ich weiß noch, wie ich mich mal nach einer durchfeierten Nacht zu einem gewagten Gesetzesübertritt hinreißen ließ. Ich trug einige Milliliter weinrote Farbe auf einen dreckigen, vergammelten Stromkasten auf. Natürlich tut es mir sehr leid, wie konnte ich nur? Die Reaktion des unvermeidlichen Richters steht exemplarisch für den Verlust von Relationen, die Frage, was „Kunst“ ist, und letztlich für einen Generationenkonflikt.
Dass ich mal in so eine Situation komme, damit hätte ich nicht gerechnet. Die zwei Männer, die aus dem unauffälligen Kleinwagen sprangen, waren merklich nervös. „Runter auf den Boden!“, keifte mich einer der Zivilpolizisten mit gezogener Dienstwaffe an. Der Anblick des auf mich gerichteten Pistolenlaufes schockierte mich seltsamerweise kein bisschen. Den Rest kennt man vom Fernsehen, Knie in den Rücken, Handschellen klicken, ab zur Wache, Amts-Blabla, keine Aussage, tschüss. Im Gerichtssaal ging die Farce dann weiter. Der Richter, bis zu seinem Schlusswort ruhig und freundlich, ließ auf einmal alle Hemmungen fallen. „Mir ist jeder Gewalttäter lieber, der jemanden vor einer Kneipe verprügelt!“ Er spuckte Gift und Galle. „Ein Schläger begeht seine Straftat wenigstens öffentlich, nicht wie ihr feigen Schmierer im Schutze der Nacht!“ Mein Anwalt und ich guckten uns an, halb fassungslos ob des Gesagten, halb das Lachen verkneifend. Harte Worte für einen Ersttäter. Er redete sich in Rage: „Miese Subjekte wie sie sollten keine Kinder an Schulen unterrichten dürfen! Ich bin selbst Vater!“ Er sprach den vermeintlichen Lehramtsstudenten in mir an, der ich nicht bin. Das Ende vom Lied war eine Rechnung über 150 Euro, die ich zähneknirschend überwies. Die Episode brachte mich zum Nachdenken. Wie kann jemand, der tagtäglich „echte“ Verbrecher aller Art aburteilt, bei einer solchen Nichtigkeit derartig die Fassung verlieren? Ich fand das unprofessionell, aber auch unfreiwillig komisch.
Nun ist Graffiti, aufgetragen auf „Leinwände“, die einem nicht gehören, in der Tat illegal. Anfangs gab es noch einige Gesetzeslücken, da man nicht wirklich von Sachbeschädigung reden konnte; Man macht ja nichts kaputt. Im Jahr 2005 kriminalisierte man dann eben die „unbefugte Veränderung des Erscheinungsbildes einer fremden Sache“. So einfach ist das. Interessanterweise bedienen sich gerade diejenigen, die am lautesten „Haltet den Dieb“ schreien, regelmäßig bei genau dieser Kunstform. Die Werbebranche verwurstet Graffiti-Schriftzüge ungeniert, irgendwelche Bundes-Initiativen, die die Jugend ansprechen wollen, nutzen sie. Das skurrilste Beispiel: In der Innenstadt beobachte ich ab und an den „Anti-Graffiti“-Wagen einer lokalen Reinigungsfirma, und siehe da, das Logo der Firma prangt in Gestalt eines dilletantischen, knallbunten Graffitos auf dem Wagen. Auf der einen Seite wird also verteufelt, auf der anderen Seite wird sich ungeniert selbst bedient.
Ein gängiges Argument ist, wie bereits angeschnitten, dass die Innenstädte mit ebenjenen „hässlichen“ Graffiti überzogen würden, legalisiere man die Sprühereien. Diese Argumentation beruht zum einen auf einem Denkfehler, zum anderen verkennt sie ein Naturgesetz der Szene. Zuerst der Denkfehler: Es ist eine Sache der Logik, dass Graffiti, wenn es illegal ist, nicht immer schön sein kann. Die Sprüher haben oft sehr wenig Zeit für ihre Bilder, es ist notwendigerweise dunkel und sie müssen immer ein Auge auf ihre Umgebung haben. Das stresst und führt zu Kunst-Unfällen. Hier griffe, im Fall einer Legalisierung, das Naturgesetz: Bild über „Tag“, Bunt über Silber, gut über nicht gut, machst du es andersherum, bekommst du Probleme. Und es klappt. Zumindest da, wo mehr Zeit bleibt. Das kann jeder bestätigen, der zum Beispiel in der S1 von Bochum nach Dortmund aus dem Fenster guckt. Die „schönen“, also technisch einwandfreien und im besten Fall kreativen Bilder bleiben stehen, „schlechte“, also unsaubere, wackelig gezogene Bilder bleiben in der Regel nicht länger als einige Tage. Die Profis haben hier Zeit für aufwändige Bilder mit 3D-Effekten, bunt-psychedelischen „Fill-Ins“ und kreative Charakters, also Comicfiguren als Beiwerk. Innerstädtisch meistens unmöglich.
Wer aber entscheidet darüber, was „Kunst“, was „schön“ und „ästhetisch“ ist? Der Gummiparagraph von 2005? Der irre Richter? Ich? Für ein gesprühtes Bild des britischen Künstlers Banksy übrigens zahlte ein Sammler ganze 10.000 Pfund, andere würden die Graffiti- und Streetartlegende am liebsten wegsperren. „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“, prangt in goldenen Lettern auf dem Wiener Secessionsgebäude. Darüber lohnt es sich nachzudenken. Gerade für diejenigen, die selber nicht mit Graffiti aufgewachsen sind.
[…] die sich keinen Deut um Dinge wie Privateigentum scheren. Sprüh-Aktionen sind also einerseits zeitgenössische Kunst. Andererseits stellen sie (meistens unbewusst) die Eigentumsfrage. Unterm Strich sind die Fronten […]