Das Insekt hat Glück. In der Luft schlägt es einen Haken, seine Flügel blitzen kurz im Sonnenlicht auf, und weg ist es. Die Katze schaut konsterniert um sich, und hat sichtlich keine Ahnung, wohin das andere Tier entflattert ist – sofern die Katze in solchen Kategorien denkt.
Spezieskonform setzt das Kätzchen sich kurz hin, und putzt sich hingebungsvoll die Flanke. Ganz in Ruhe, in der Sonne, während Erwachsene, Kinder und Hotelangestellte um es herumwuseln. Ein etwas anderer Reisebericht.
Mallorca – der Deutschen liebste Urlaubsinsel. Das wäre ein klassischer Einstieg in einen Bericht über den Urlaub einer deutschen Klischeefamilie – zwei heterogeschlechtliche Elternteile, zwei Kinder. In ungezählten Medien kann man nachlesen, nachhören. Die zu bennenden Facetten sind bekannt: Schinkenstraße, Bierkönig, Familienurlaub, Allinc, gescheiterte Auswanderer, neue Regierungspolitik, es-gibt-auch-schöne-Ecken, Corona ist hier zuende und weitere ausgelutschte Berichte. Und wenn es um Tiere geht: irgendwas mit Tierschutz, Tierrettung, Strassentieren, deutschem Tierrechtsimperialismus, und in Social Media dann die Frage, ob wir denn keine anderen Probleme haben.
Der kleinen Katze dürften all diese Berichte egal sein. Katzen konsumieren keine menschlichen Medien. Außer Neil Gaiman hat doch recht. Doch verlieren wir uns nicht in Nebengeschichten. Katzen sind, und wir hatten das schon hier im Blog, eben Katzen. Die kleine grau-weiße Katze mit schwarzen Streifen ist da keine Ausnahme. Sie ist vielleicht sechs Monate alt. Sie lebt in einer Familienhotelanlage. Sie ist nicht die einzige Katze hier. Es sind knapp sieben oder acht Katzen: Verschiedenen Alters, verschiedener Rassen. Es gibt einen Siam-Birma-Kater, schwarze Katzen und kleine Kätzchen, die man mittlerweile ja Kitten nennt – wobei ich nicht weiß, ob dieser Begriff sprachhistorisch gewachsen ist, oder er in einer Art Kittenwahn von einer Elite oktroyiert wurde.
Alle Katzen hier sind entspannt. Keine wirkt verwahrlost, keine krank. In der Hotelanlage wird ihnen mit Gleichmut bis Zuneigung begegnet. Kinder gehen zu ihnen, wollen sie streicheln, mit ihnen spielen, oder ihnen einfach durch die Anlage folgen. Erwachsene erklären den Kindern den Umgang mit den Katzen, manchmal sprechen sie die Katzen auch an, bleiben stehen, locken sie, streichen übers Fell. Die kleine Katze streicht durch die Tischreihen, die draußen bei den Mahlzeiten stehen. Die Kellner beachten die Katze zumeist nicht, manchmal lächeln sie. An einer Stelle wird das Essen gesammelt, das auf den Boden gefallen ist. Das Kätzchen kann sich hier bedienen, und das tut es auch ohne jeden Stress.
Als Kind war ich vor knapp 35 Jahren erstmals auf Mallorca und auch in der Folgezeit einige Male in südlichem Gefilden, um einen Begriff zu nutzen, der doch eine Phrase ist. Auch vor 35 Jahren gab es Katzen auf Mallorca, es roch außerhalb der Hotelanlage, und manchmal auch dort, nach Müll in der Hitze des Südens, und „Vamos a la Playa“ dröhnte blechern aus dem Radio. Die Katzen sahen anders aus. Sie hatten entzündete Augen, sie waren abgemagert, sie mieden Menschen teils außerordentlich, und alles an ihnen war erbärmlich und erbarmenswert. Nur, dass kaum jemand Erbarmen zeigte.
Am deutlichsten war das bei den Kellnern. Tritte trafen die Katzen, zumindest wurden sie verscheucht und als Ärgernis angesehen, das vielleicht noch mit einer Kakerlakenrattenschlange vergleichbar wäre. Ich habe das nie wirklich verstanden. Aber auch nicht hinterfragt. So war es nun einmal. Ich behandelte Katzen nie so. Aber die Kellner eben doch. Viele Hotelgäste standen den Kellnern in Nichts nach. Vielleicht war die Kausalität zwischen dem Verhalten der Kellner und der Gäste umgekehrt, oder noch komplexer verwoben, oder, und das glaube ich, folgte einer grundsätzlich anderen Haltung Katzen gegenüber.
Diese Haltung hat sich geändert. Nun könnte man einwenden, das sei ein singuläres Verhalten in der Familienhotelanlage, nur gezeigt, um die Touristen – dankenswerter Weise aus verschiedenen europäischen Ländern – zu beeindrucken. Russen gibt es hier keine, aber Russland hat sich ohnehin schon länger aus der europäischen Familie verabschiedet – Nebenbaustelle. Um die These des touristeninduzierten Wohlverhaltens zu falsifizieren, begab ich mich in die Nebenstraßen, abseits der Geschäfte, Restaurants und des Strandes. Auch dort fand ich Katzen. Keine davon verwahrlost, keine abgemagert, keine augenscheinlich krank. Ja, hier und da Zeichen gefochtener Schlachten: eingerissene Ohren sind immer vorne dabei. Aber auch in diesen Hinterbereichen störte sich niemand an den Katzen – man ging seiner Wege, und ließ das wechselseitig zu.
Mich hat das alles hier erfreut. Aus doppeltem Grund. Zunächst einmal freut es mich, wenn es Katzen gut geht. Wahrscheinlich sollte ich das auf alle Tierarten, oder vielleicht zumindest alle Säugetiere, ausdehnen. Sowas bringt einem Autor Sympathien, und ich könnte es mit flammenden Natur- und Klimaschutzappellen verbinden. Diese Chance vertue ich. Und rede mich damit heraus, dass ich in diesem Beitrag Nebenbaustellen vermeide. Es ist also schön, dass es den konkreten Katzen und Kitten gut geht.
Mich freut aber ebenso, dass sich am Verhalten der Menschen in den letzten Jahrzehnten etwas geändert hat. Etwas zum Besseren. Zum freundlicherem. Zum achtsameren. Hin zu einer Sicht, dass man anderen Lebewesen eine andere Haltung entgegen bringen sollte. Goldene Regel. Kategorischer Imperativ. Man darf davon ausgehen, dass Leser dieses Blogs diese Begriffe kennen. Gewalt, gegen Menschen, und gar gegen Tiere anderer Spezies, wird immer weniger und nicht mehr ohne weiteres als normal hingenommen.
Menschen sind gut. Wir sind eine gute Spezies. Man kann dies daran erkennen, dass wir eben das menschliche Verhalten moralisch bewerten. Dass wir einander grundsätzlich nicht schaden wollen, und dass dieses Schaden auch immer stärker für Empörung sorgt. Wir diskutieren über Gerechtigkeit, über Diskrimierungen, über persönliche Freiheit. Wir versuchen überall einen bestmöglichen Weg zu finden. Und in langer Perspektive kommen wir dem immer näher. Lang im Sinne eines Katzenlebens. Alles könnte dabei sicher immer schneller gehen. Geduld ist ein Konzept, das geschaffen wurde, um individuelle und somit gesellschaftliche Langsamkeit des Denkens zu legitimieren.
Der kleinen Katze hier sind die letzten beiden Absätze egal. Sie streift wieder an den Tischen und Stühlen vorbei, ohne Anzeichen von Angst zu zeigen – vor tretenden Menschen.
„Der Mensch ist gut, die Leut‘ san schlecht“.
Karl Valentin