Von der zweiten Nachkriegsmoderne

Luftaufnahme der zerstörten Krupp-Werke in Essen, 1945 Foto: U.S. Signal Corps – Deutsches Bundesarchiv (German Federal Archive) Lizenz: Gemeinfrei


Richard Volkmann und Stefan Laurin haben sich Gedanken zur Stadtplanung nach dem nächsten Krieg gemacht

Richard Volkmann:

Charta von Vauban

Abschlusskommuniqué des XII. Congrès International d’Architecture Moderne
22. August 2031
(zum Druck auf recycletem Papier freigegeben)

 

Zur Einleitung

Im Jahr 1933 kamen Architekten aus aller Welt zum IV. Congrès International d’Architecture Moderne in Athen zusammen, um gemeinsam eine zukunftsfähige Stadtplanung für die architektonische Moderne zu entwerfen. Ergebnis ihrer Bemühungen war die berühmte Charta von Athen, die über Jahrzehnte zum Eckpfeiler urbanen Bauens werden sollte und insbesondere den Wiederaufbau deutscher Städte nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend beeinflusste. Wiewohl von besten Absichten geleitet, gab es doch auch Schwierigkeiten in den Überlegungen des Athener Kongresses, die vor allem auf den Mangel an praktischer Erfahrung zurückzuführen und durch diesen auch zu entschuldigen sind. Dass zeitgemäße Stadtplanung auf funktionellen Forderungen statt auf ästhetischen Überlegungen zu beruhen hat, ist dabei jedoch eine wesentliche Erkenntnis, die auch den Anspruch unserer Tage an ein zeitgemäßes Bauen begründen kann und muss.

Zugleich haben die schrecklichen Zerstörungen des vergangenen Krieges uns Architekten die Last und die Verpflichtung aufgelegt, auf den Ruinen des Vergangenen den Weg des Neuen und Modernen mutig einzuschlagen. Wo einst Altes dem Fortschritt im Wege stand, da wollen wir den Menschen ein besseres, organischeres Angebot unterbreiten, das ihren Ansprüchen gerecht wird und zugleich die Umwelt, die Ressourcen und das Klima schont. Ziel des modernen Städtebaus muss es daher sein, durch natürliche Einbindung den Status des Menschen als belastenden Faktor für unseren Planeten zu beenden; unser Ziel ist daher die moderne und zeitgemäße, nachhaltige und umweltgerechte Stadt.


Die zeitgemäße Stadt

Oberstes Ziel aller städtebaulichen Anstrengungen muss die Überwindung der anhaltenden Wohnungsnot sein. Zugleich darf jedoch bei aller verständlichen Eile in dieser Frage hierbei auch die ökologische Perspektive nicht vernachlässigt werden. Keinesfalls sollen die Bedürfnisse der Umwelt gegen jene der Stadtbewohner in Stellung gebracht werden; Erstere bedingen erst den Lebenskomfort der Letzteren.

Stadt und Flächennutzung
Ein völliges Neudenken des Konzeptraumes „Stadt“ ist heute erforderlich. Die Einteilung der Städte nach Funktionen war ein entscheidender Punkt der Charta von Athen – Überlegungen in Richtung einer „aufgelockerten“ Stadt, wie sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts formuliert wurden, waren jedoch nicht ausgereift oder wiesen, wie bei der späteren „autogerechten“ Stadt, in eine für Mensch und Natur fatale Richtung.

Die funktionsräumliche Trennung der Stadträume muss heute in anderen Maßstäben gedacht werden. Im Interesse eines nachhaltigen Stadtgefüges ist es dringend zu empfehlen, der aktuellen Mehrbelegung bestehender Wohnung im Interesse eines ökologischen Städtebaus nicht durch überhastete Bautätigkeit ein Ende zu machen. Ältere, aus Zeiten kritikloser Ressourcenverschwendung stammende Vorstellungen von sozialem Zusammenhalt müssen überwunden werden, um durch multiple Nutzung des bestehenden Wohnraums die Gestaltung von Freiflächen auf nicht mehr zur Wohnnutzung gebrauchten Grundstücken zu ermöglichen. Den ungenutzten freien Raum der „aufgelockerten Stadt“ lassen wir hinter uns und füllen ihn mit Grünflächen und Wiesen, vor allem jedoch mit Anbauflächen für ökologisch erzeugte Lebensmittel, die dem Stadtraum über eine autarke, regionale und ökologisch nachhaltige Selbstversorgung seine Unabhängigkeit zurückgeben. Bestehender Wohnraum ist derweil im Interesse einer tragfähigen Flächennutzung in größtmöglichen Maße und unter Einhaltung geltender energetischer Standards nachzuverdichten.

Verkehr für unsere Zeit
Eine zentrale Rolle in der ökologischen und modernen Stadt spielt wie in jedem urbanen Raum der Verkehr. Einen Rückfall in Zeiten des motorisierten und fossilen Individualverkehrs gilt es hierbei zu vermeiden. Um den Stadtraum insgesamt nicht erneut zum ressourcenfressenden Moloch verkommen zu lassen und in der modernen Stadt eine maximale Stromersparnis zu erreichen, muss dem nichtmotorisierten Individualverkehr ein Höchstmaß an Priorität eingeräumt werden. Der vor allem durch das Fahrrad getragenen zeitgemäßen Mobilität des Stadtbewohners ist durch Anlage mehrerer und unter Berücksichtigung zukünftigen Verkehrszuwachses dimensionierter Fahrradschnellwege Rechnung zu tragen. Im Sinne einer Vorbildwirkung und als Zeichen der nachhaltigen Selbstverpflichtung des Gemeinwesens ist auch die Mobilität städtischer und staatlicher Dienstleister wie beispielsweise der Abfallbeseitigung, aber auch von Polizei und medizinischen Notdiensten in größtmöglich zumutbarem Maße auf nichtmotorisierten Verkehr umzustellen.

Die entzerrte Innenstadt           
Im Wiederaufbau der kriegszerstörten Alt- und Innenstädte werden schmerzliche Kompromisse nicht zu umgehen sein. Vorrang müssen dabei funktionale, seltener auch besonders repräsentative Bauten der jüngeren Stadtgeschichte erhalten, die ab den 1960er Jahren errichtet wurden und die durch modernere Bauweise eine vorteilhaftere ökologische Bilanz aufweisen oder zumindest durch verhältnismäßig geringe Maßnahmen zu einer solchen gelangen können. Bausubstanz aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist aufgrund der aufwendigen Erhaltung und der ausgesprochen schlechten ökologischen Bilanz nur in Ausnahmefällen und unter strikter Einhaltung energetischer Ertüchtigungsvorgaben, insbesondere einer umfassenden Dämmung, wiederherzustellen. Von einer dichten, nahezu frei- und damit nutzflächenlosen Gestaltung der Innenstädte im Stile der Vorkriegszeit ist unbedingt Abstand zu nehmen. Neubauten sind, sofern überhaupt erforderlich, grundsätzlich in Übereinstimmung mit heute geltenden architektonischen Standards zu errichten. Insbesondere darf von den Prinzipien der umfassenden Fassadenbegrünung, eines auf das nötigste Maß beschränkten Einsatzes von energetisch unvorteilhaften Fensterflächen und des flächenhaften Einbaus von Solarzellen zur autarken Stromgewinnung auch in besonderen Fällen nicht abgewichen werden.

Nachwort

Der Schrecken des Krieges steht uns allen noch vor Augen. Umso dringlicher stellt sich heute die Aufgabe, der Gesellschaft in Zeiten des wiedergewonnenen Friedens die optimistische Vision einer nachhaltigen Zukunft zurückzugeben, die den Stadtbewohner nicht länger von urtümlicher Natur entfremdet und von der Produktion seiner eigenen Nahrungsmittel abschneidet. Es ist an uns heute Lebenden, der neuen Gesellschaft in einer neuen Stadtlandschaft den Raum zu geben, den sie braucht, um durch gemeinsamen Fortschritt ein nachhaltiges und planbares Leben für künftige Generationen zu ermöglichen.

Stefan Laurin: Meine Angst vor der Charta von Vauban

Man soll nicht unken, sagte vorhin eine Freundin von mir auf Facebook unter dem Post, das den Anstoß für die Texte von Richard Volkmann und mir gab. Ich schrieb dort heute Morgen: „Wie mögen wohl die Wiederaufbaupläne für die Innenstädte aussehen? Nach dem letzten Krieg ging da ja ziemlich viel daneben.“

Und seien wir ehrlich: Krieg ist wieder mehr ein Thema als er es vor zehn Jahren war. Warum also nicht weiter denken und sich mit der Zeit nach dem Krieg beschäftigen und sei es nur als ein intellektuelles Spiel, das Richard und ich nun beginnen?

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass in Mitteleuropa eine Friedensphase von über 70 Jahren eine Ausnahme ist. Solche Phasen gab es, aber irgendwann gingen sie zu Ende. Sicher, wir können uns das nicht vorstellen, aber ich konnte mir im Januar 1989 auch nicht vorstellen, dass die Mauer fällt und sich der Ostblock auflöst. Und im wunderschönen Sommer 1914 konnte sich niemand wirklich ahnen, wie die Welt ein paar Monate später aussehen würde. So zynisch ist das, was wir hier machen, also nicht.

Sollten nach einem künftigen Krieg Menschen überleben, wovon ich einfach mal ausgehe, weil sonst so ein Text wenig Sinn macht – Kakerlaken werden als Überlebensmeister schon irgendwie zurecht kommen – sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie unsere Städte künftig aussehen sollen, denn nach dem letzten Krieg ging ziemlich viel schief. Wie viel schief ging, möchte ich am Beispiel Bochums erläutern. Nicht weil ich hier wohne oder die Stadt mir besonders am Herzen liegt – das Konzept „Heimat“ ist mir fremd, überall wo Menschen sind, die ich mag, fühle ich mich wohl – sondern weil es ich Bochum wirklich übel gelaufen ist.

Wie die meisten deutschen Städte kam Bochum unverdientermaßen gut durch den Krieg: Für ein Land, dass einen Krieg mit über 50 Millionen Toten angezettelt , sechs Millionen Juden ermordet und einen „Rassenkrieg“ im Osten geführt hatte, gab es keinen Grund sich zu beklagen: 38 Prozent des Wohnraums waren nach Kriegsende zerstört, das war im Vergleich zu Kleinstädte wie Bocholt (89 Prozent Zerstörungsgrad) überschaubar. Wenn wir uns heute Fotos von den Städten vor dem Krieg anschauen und denken, die Bombenangriffe der Briten und der USA trügen die Hauptschuld an der Vernichtung der historischen Bausubstanz, unterliegen wir eine Mischung aus Propaganda und Täuschung: Der größte Teil der historischen Bausubstanz ist bewusst nach dem Krieg zerstört worden. Und auf Bochum trifft das besonders zu, wie die Seite der Stadt weiß:

„Ist in Deutschland nach dem Krieg zweimal mehr alte Bausubstanz zerstört worden als im Krieg, so ist in der Bochumer Innenstadt das neunfache an alter Bausubstanz erst nach dem Krieg vernichtet worden.“

Das alles war kein Zufall, sondern folgte einem Plan. Schon während des Krieges waren die Stadtplaner im Speer-Ministerium von der Idee, die deutschen Städte nach dem Krieg umbauen zu können, angetan. Was in Bochum und vielen anderen Städten umgesetzt wurde, entsprach der Charta von Athen, auf die Richard ja eingegangen ist. Am Werk waren keine Teufel, sondern Planer mit der festen Absicht, modernere, bessere Städte zu bauen.

So etwas kann wieder passieren – und eine imaginäre Charta von Vauban könnte schnell Realität werden. Nichts spricht dagegen, ökologisch zu bauen, alles spricht dagegen, es zur Religion zu erhöhen. Sollte sich die Frage stellen, wie nach dem Krieg Städte wieder aufgebaut werden, kann die Antwort nur lauten: Vielfältig und abwechslungsreich, Neubauten neben Altbauten, ein Mix aus Stilen und keine Ödnis – weder eine ökologische noch eine stilistische. Es ist für Stadtplaner sicher reizvoll, einen großen Wurf zu landen, eine Stadt über Jahrzehnte zu prägen. Aber das zu tun bedeutet auch, sie architektonisch zu töten. Städte müssen wandelbar sein. Wir wissen nicht, wie Menschen in 20 Jahren leben wollen und niemand sollte auf die Idee kommen, es ihnen heute schon vorzuschreiben. Also: Nach dem nächsten Krieg mit etwas Demut und Bescheidenheit an den Aufbau zu gehen, kann nicht schaden

 

 

 

 

 

 

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