Besonders in der Mittelschicht gilt Kritik an der Werbung als schick. Anfällig für Manipulation sind angeblich immer nur „die Anderen“. Dabei lassen wir uns alle nicht so leicht beeinflussen. Von unserem Gastautor Kolja Zydatiss.
Werbekritik gehört fest zum Kanon kulturpessimistischer Modernitätsskeptiker. Für die „Neuen Linken“ im Umfeld der sogenannten Frankfurter Schule war unsere ganze Existenz im Westen zum Beispiel etwas besonders Furchtbares. Fortgeschrittene Industriegesellschaften seien ausgeklügelte Unterdrückungssysteme. Die Medien, insbesondere die Konsumwerbung, manipulierten uns unaufhörlich und schufen „falsche Bedürfnisse“, etwa nach Reihenhäusern und Fiat Cinquecentos. Nur eine aufgeklärte Elite – Studenten, Lehrer, Intellektuelle und Kulturschaffende, also ihresgleichen, die die Gehirnwäsche durchschaut hatten – könnte das psychologische Gefängnis aufbrechen und die Massen von ihrem „falschen Bewusstsein“ befreien.
Die von Adorno, Marcuse und Co. geprägten 68er marschierten durch die Institutionen. Es gelang ihnen in vielen Bereichen, die kulturelle Hegemonie zu erlangen. Die revolutionäre Glut kühlte mit den Jahren ab, der Wunsch nach einer saturierten grün-bürgerlichen Existenz wuchs, aber viele Vorurteile der Neuen Linken, von der Dämonisierung von Konsum und Wachstum bis zur Ablehnung der vermeintlich oberflächlichen amerikanischen Populärkultur, haben sich zu Allgemeinplätzen entwickelt, die in der Mittelschicht bis heute Mainstream sind.
Auch geblieben ist die Geringschätzung der kognitiven Fähigkeiten „einfacher Leute“, insbesondere im Umgang mit der Werbung. Das Thema Werberegulierung ist ein politischer Dauerbrenner. Das Bundeskabinett hat sich in diesem Jahr darauf verständigt, die noch verbleibenden Möglichkeiten für Tabakreklame nahezu vollständig abzuschaffen. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) betreibt seit Monaten einen Feldzug gegen „sexistische“ Werbung. Was aus seinem innerhalb der Großen Koalition kontrovers diskutierten Vorstoß wird, ist derzeit noch unklar. Derweil schüren Maas Parteikollege Karl Lauterbach und die Grüne Renate Künast eine Moralpanik rund um Ernährung, die an Kinder vermarktet wird. Sie wollen dies in Zukunft nur für Lebensmittel erlauben, die den wissenschaftlich umstrittenen Ernährungsvorschriften der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entsprechen.
„Dem Effektmodell werden methodologische Fehler und eine elitäre Haltung vorgeworfen“
Aber hat der Konsum von Werbung und anderen Massenmedien überhaupt einen direkten und einigermaßen vorhersehbaren Einfluss auf das menschliche Verhalten? Auf den britischen Mediensoziologen David Gauntlett geht der Begriff „effects model“ (zu Deutsch etwa „Effektmodell“) zurück, wonach Medieneinflüsse für eine Vielzahl gesellschaftlicher Probleme verantwortlich gemacht werden können. Viele einflussreiche Forscher und politische Kommentatoren teilen diese Auffassung. Ihnen stehen Kritiker, allen voran der erwähnte Professor Gauntlett, entgegen, für die der Zusammenhang zwischen Medien und Verhalten komplex ist und erstere allenfalls indirekt wirken. Den Anhängern des Effektmodells werfen sie methodologische Fehler und eine elitäre Haltung vor, die die tieferliegenden Ursachen gesellschaftlicher Probleme ausblendet. Im Wesentlichen werden dabei fünf Argumente vorgebracht.
Das Effektmodell ist erstens problematisch, weil es auf künstlichen Beobachtungssituationen beruht. Fast alle Studien, die den Zusammenhang von Medienkonsum und menschlichem Verhalten untersucht haben, enthielten künstliche Elemente. Die meisten wurden in einem Universitätslabor durchgeführt. Die Wissenschaftler präsentierten den Versuchspersonen eine Vorauswahl an Medien, stellten Fragen oder initiierten Aktivitäten. Auch in einem vermeintlich „natürlichen“ Umfeld, etwa bei einem Hausbesuch, tauchen deutlich als solche zu erkennende Forscher auf und werden Teil des Geschehens. Das entspricht nicht den Situationen, in denen Menschen normalerweise Medien konsumieren.
Zweitens fehlt dem Effektmodell die theoretische Grundlage. Abgesehen von vagen Behauptungen, dass bestimmte Verhaltensweisen „verharmlost“ oder „verherrlicht“ würden, ist es den Befürwortern des Effektmodells bisher nicht gelungen, ihre Auffassung theoretisch zu untermauern. Die grundsätzliche Frage, warum passiver Medienkonsum zu einem bestimmten Verhalten führen sollte, also wie die aufgenommenen Inhalte in ein konkretes individuelles Handlungsmotiv übertragen werden, bleibt unbeantwortet.
„Die Dauerbesorgten bleiben uns viele Antworten schuldig“
Drittens setzt das Effektmodell voraus, dass ein Medium wie ein Werbeclip eine feste Botschaft oder Bedeutung hat, die unmissverständlich an den Empfänger übertragen wird. Dem steht der empirische Befund entgegen, dass Medieninhalte von verschiedenen Versuchspersonen oft sehr unterschiedlich interpretiert werden.
Viertens analysiert das Effektmodell gesellschaftliche Probleme rückwärts. Seine Befürworter setzen bei den Medien an und versuchen von dort aus, eine Brücke zum menschlichen Verhalten zu schlagen. Ein gutes Beispiel ist der Vorschlag von Bundesminister Maas, als Reaktion auf die sexuellen Übergriffe in deutschen Großstädten in der Silvesternacht 2015/2016 sexistische Werbung zu verbieten. Aber kaum ein seriöser Kriminologe erklärt ein Phänomen wie sexuelle Belästigung mit dem Einfluss von „Werbung“. Unmittelbare persönliche Faktoren wie Familienhintergrund, Armut, Arbeitslosigkeit, Beziehungsstatus oder das Verhalten der „Peer Group“ spielen eine viel größere Rolle.
Am schwersten wiegt jedoch der Vorwurf, dass die Vertreter des Effektmodells von der eigenen Überlegenheit gegenüber „den Massen“ ausgehen. Studien haben ergeben, dass ein gewisser Anteil von Menschen glaubt, dass die Medien einen beträchtlichen Einfluss auf das menschliche Verhalten haben. Aber fast niemand gibt an, selbst auf diese Weise beeinflusst worden zu sein. Eine Extremform dieses Phänomens findet sich bei Forschern und Aktivisten, die sich für die Medienzensur stark machen. Die feministische NGO Pinkstinks etwa setzt sich seit Jahren für ein Verbot sexistischer Werbung ein. Die Mitarbeiter der Organisation werden sich wohl eingehend mit Beispielen solcher Werbung beschäftigen. Haben sie keine Angst, selbst von dem „gefährlichen“ Material korrumpiert zu werden?
Anfällig für Manipulation sind immer „die Anderen“. Eine solche Haltung mag beim Schutz von Minderjährigen noch Sinn ergeben. Aber selbst Studien an Kindern zeigen, dass diese in der Lage sind, Medieninhalte kritisch (in den Worten eines Forschers gar „zynisch“) zu reflektieren. Wer also sind die ominösen Anderen? Hauptschulabsolventen? Migranten? Die Arbeiterschicht? In welcher Hinsicht unterscheiden sie sich psychologisch von NGO-Mitarbeitern oder Ministerialbeamten, und warum? Die Dauerbesorgten, die die Massen vor den bewusstseinsverzerrenden Effekten der Werbung schützen wollen, bleiben uns viele Antworten schuldig.
Die Gesinnungstalibanisierung greift immer weiter um sich. Sie wird gespeist aus einem protestantisch-puritanischen Habitus in Verbindung mit einer ungesunden Über-Ich-Funktion.
Wenn dann die Gesellschaft durch autoritär-paternalistische Interventionen von "oben-herab" erzogen werden soll, ist die Gesinnungsdiktatur der Gutmenschen Programm 😉
Die Hippies hatten wenigstens Spaß bei Kiffen und Vögeln. Wasser predigende und Wein saufende bigotte Prediger einer seltsamen Sekte können ja gerne ihren lust- und lebensfeindlichen Distinktionsgewinn (Bourdieu) als Askese sublimieren. 😉
Habe ich das jetzt richtig verstanden? Werbung wird gemacht, obwohl sie nachweislich gar nicht wirkt? Zumindest auf keinen Fall so wie sie soll?
Mass, Künast, Roth, Kraft, Schulz und allen übrigen moralinsauren Missionaren des erhobenen Zeigefingers, sowie der gesamten politischen Kaste in Berlin und den Ländern sei aus dem Zentrum der manipulativen Kommunikation, hier in Gelsenkirchen-Rotthausen, deutlich gesagt:
"Parteien-Werbung im Wahlkampf gefährdet und untergräbt das natürliche Grundvertrauen der Wähler/innen in die Zuverlässigkeit der gewählten Politiker. Es kann schon kurze Zeit nach der Wahl zu verstörenden Empfindungen und traumatisch wirkenden Enttäuschungen führen. Besonders gefährlich sind die Vielzahl an Versprechungen zu Steuer- und Rentenreformen sowie Rückführung der Bürokratie. Auch vorgetäuschtes Interesse am Kindeswohl bezüglich kostenbefreiter Kitas und moderner Bildungseinrichtungen führen immer häufiger in der Wirklichkeit zum permanent pathologischen Kopfschüttel-Reflex. Dieses, häufig chronisch auftretende Krankheitsbild, steht wegen der letzten Gesundheitsreform nicht mehr im Leistungskatalog für Therapien der GKV"
Wir, das Zentrum für manipulative Kommunikation in Gelsenkirchen-Rotthausen, fordern deshalb alle Werbemittel, die von Parteien im Wahlkampf genutzt werden, mit deutlich lesbaren Warnhinweisen auf die Gesundheitsgefährdung und mit abschreckenden Politikerfotos zu versehen. Diese Warnhinweise müssen mindestens 2/3 der Werbefläche oder Filmlänge einnehmen und auf die möglichen gesundheitlichen Folgen des Konsums von Politikerversprechungen hinweisen.
Glückauf
Franz Przechowski
Zentrum der manipzlativen Kommunikation, Gelsenkirchen-Rotthausen
Wendet man sich in Gelsenkirchen endlich erfolgversprechend der Zukunft zu? Glückwunsch aus OWL, der innovativsten Region NRWs.
Ich dachte Werbung würde Zielgruppenorientiert sein. Und da gibt es auch immer was für die, die die Nase über die Doofen rümpfen. Diese Bessermenschen fahren aber ganz toll auf Neuigkeiten aus dem Hause Tesla ab. Und wie! Ich hab da schon "Gespräche" im Netz mitgelesen, die mich zum lauten Lachen brachten. Konsumabstinenz? Nein, die kaufen nur schickere Sachen, solche die nicht in Studien analysiert werden. Und was die nun gar nicht hören oder lesen wollen, ist der Hinweis, daß sie genauso am Konsum und Müllaufkommen beteiligt sind, wie die Einkommensschwachen. Das darf man gar nicht sagen. Dabei ist die Sache sogar ganz einfach zu verstehen, wenn man das finanzielle Einkommen als Basis des Konsums und damit verbunden, der Müllproduktion sieht, denn wer mehr Einkommen hat, kauft auch mehr ein. Wer denkt er würde ja sparen, der gibt sein Geld ja doch irgendwann aus und kauft also etwas, für das die Werbeindustrie auch Werbung macht. Und eines Teges ist es veraltet oder unbrauchbar, dann wird es Müll. Nur erklären konnte ich das nochr niemanden, schon gar nicht, als ich für die Grünen im Ratsausschuß tätig war. Es ist ein Dogma, oder noch treffender ein Ayiom, daß es die anderen sind.
@Arnold Voss, #2:
Ja, so hab ich das auch verstanden. Werbung ist eigentlich voll in Ordnung, weil sie nicht wirkt oder nicht so, wie gedacht. Gerade Kinder sind nicht wirklich manipulierbar; ja, ich denke, dass entspricht der Alltagserfahrung.
Besonders erhellend finde ich, dass Studien zur Manipulierbarkeit nichts taugen, weil es sich um erkennbar künstliche SItuationen in Anwesenheit von Forschern handelt. Diese Künstlichkeit der Situation setzt natürlich die Reflexionsfähigkeit stark herab; in der normalen Situation, in der man der Werbung ausgesetzt ist, ist man natürlich viel reflektierter, weil man nicht durch so eine Umgebung zum Innehalten und Nachdenken gebracht wird, was die Kritikfähigkeit natürlich empfindlich stört.
Es muss sich also wohl eigentlich um eine karitative Veranstaltung der Unternehmen handeln, die Leute unterstützen wollen, die irgendwas mit kreativ machen wollen, aber für Kunst dann doch nicht kreativ genug sind. Denen wird aus Mildtätigkeit erstens ein thematisches Betätigungsfeld zur Verfügung gestellt, auf dem sie sich austoben dürfen, und zweitens eine Bezahlung; die Unternehmen, die dafür ihren Namen und ihr Geld zur Verfügung stellen, haben aber leider nichts davon. Das ist fast ein bisschen traurig.
Zu dieser mildtätigen Veranstaltung der Wirtschaft gehört dann wohl auch die Hochschule des Autors.
Werbung wirkt: Red Bull, Persil, Aus Raider wird jetzt Twix, sonst ändert sich nix.
Werbung braucht auch jeder, woher sonst sollten z.B. die Ökos wissen, wo es den besten Dinkel und das bei Vollmund sanft entschlafene Suppenhuhn gibt?
Helmut
Treffer, versenkt!
Thorstein Veblen nannte das conspicious consumption, Geltungskonsum @Tesla etc.
Inklusive des nach ihm benannten Markt-Effekts: Manche Güter werden nicht gekauft, obwohl sie teuer sind, sondern gerade weil sie teuer sind 😉 subtiler Distinktionsgewinn …
#7 @Davbub
Sanft entschlafen? Ich dachte Fleisch von "glücklichen Tieren" wären solche, die im Moment höchster sinnlicher Verzückung bei der Kopulation gestorben / erschossen worden sind.
Du desillusionierst mich … 🙁
Ich will keine esoterisch-lunaren Hospiz-Hühner essen, die es nur alle 28 Tage schlachtfrisch auf den Tisch schaffen 😉
Sehr geehrter Herr Zydatis, ich bin ebenfalls Psychologe und arbeite seit über 20 Jahren in der psychologischen Markt- und Werbewirkungsforschung. Ich kann so ziemlich alles, was Sie in Ihrem Artikel beschreiben, voll bestätigen. MfG, T. Pohne
@8/9: " subtiler Distinktionsgewinn"
Seit es Bio bei Aldi gibt, sind viele hard-core Ökos Veganer geworden. Was werden die wohl essen, wenn es vegan in der Kantine für zwofuffzich geben sollte?
Da um 1Kg Fleisch zu erzeugen, 6-8Kg Getreide verfüttert werden müssen, sollte Getreide mindestens um den Faktor 6-8 billiger sein als Getreide. Kauft man dieses Getreide aber als vegetarische Nahrung, oder Veggienahrung, kostet es mehr als Fleisch. Kann da eine Absicht hinter stecken? Nämlich die Absicht, den Preis so hoch zu halten, damit die Eß-Elite sich auserwählt fühlen kann? Hoher Preis, hohes Ansehen!
Nur so kann man die Nase über Billignahrungsesser richtig rümpfen und Schulterklopfen im eigenen Lager erwarten.