Von Rammstein bis Burzum – Zur Trennung von Künstler und Werk

Foto: Kreepin Deth, Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0

Dieser Tage wird wieder viel über die Trennung von Künstler und Werk gesprochen. Kann man, muss man, darf man Künstler und Werk trennen? Ist das „Lyrische Ich“ in den Gedichten von Till Lindemann identisch, ähnlich, komplett verschieden von Lindemanns „wahrem Ich“? Es geht hier nicht um Lindemann im Speziellen, sondern ganz allgemein um die Trennung oder Vermischung von Künstler und Werk bei Personen, die im Verdacht stehen oder überführt wurden, charakterlich mies zu sein, sei es durch Ideologie (z.B. Wagner), sei es durch Verbrechen (z.B. Marilyn Manson).

Die einen sind überzeugt, dass in der Kunst eines „schlechten Menschen“ stets auch das Schlechte zu finden sein muss, dass sich das Falsche in seinem Werk zeigt, dass eine giftige Ideologie die Taten des Künstlers und seine Kunst gleichermaßen durchdringen muss. Die anderen leugnen jeden Zusammenhang, weigern sich, irgendeine Kontinuität zu sehen oder verklären andererseits die gequälte Seele des Künstlers zur Quelle seiner Inspiration. Egal, welches dieser Extreme vertreten wird, es schwingt stets die Überzeugung mit, eine allgemeine Wahrheit zu erkennen, die, wären die anderen nicht ideologisch verblendet, für jeden offenkundig wäre.
Tatsächlich ist die Antwort auf diese Streitfrage stattdessen sehr einfach und sie lautet: Es ist komplizierter. Es wäre ja auch sehr erstaunlich, wenn bei der Vielzahl von Persönlichkeiten, Kunstformen, Geschmäckern und Ideologien das Verhältnis von Werk und Künstler immer gleich wäre. Es gibt genau genommen fünf Möglichkeiten, wie Qualität des Kunstwerks und Charakter des Künstlers im Verhältnis stehen können. Achtung, für diese Einteilung werden im Folgenden extreme Vereinfachungen vorgenommen. Denn selbstverständlich ist die Qualität eines Kunstwerks nicht objektiv messbar, sondern Geschmacksache und interpretierbar und selbstverständlich gibt es keine „guten“ und „schlechten“ Charaktere, sondern vielschichtige Persönlichkeiten mit mehr oder weniger nachvollziehbaren Schwächen und Stärken und so weiter. Und dennoch wird niemand bestreiten, dass ein Mörder und Rassist wie Varg Vikernes sicherlich nicht das Etikett eines „guten Charakters“ verdient. Man kann Begründungen finden, wieso man ein Werk kritisiert und sich einem Urteil wenigstens annähern. Hier also die stark vereinfachte Einteilung der Möglichkeiten:

1. Werk und Künstler stehen in keinem erkennbaren Zusammenhang. Ein gutes Werk kann von einem schlechten Menschen kommen oder umgekehrt.
2. Ein Werk ist schlecht, weil der Künstler einen schlechten Charakter hat.
3. Ein Werk ist gut, weil der Künstler einen schlechten Charakter hat.
4. Ein Werk ist gut, weil der Künstler einen guten Charakter hat.
5. Ein Werk ist schlecht, weil der Künstler einen guten Charakter hat.

Ein Beispiel für die erste These ist Bill Cosby. Ihm wurde von dutzenden Frauen vorgeworfen, sie betäubt und vergewaltigt zu haben und die deswegen verhängte Haftstrafe wurde nur wegen Verfahrensfehlern aufgehoben, nicht weil die Schuld in Frage gestellt worden wäre. Weitere Verfahren sind laut Wikipedia offen. Es gibt gute Gründe, davon auszugehen, dass dieser Mann keinen „guten Charakter“ hat, die Vorwürfe sprechen vielmehr dafür, dass er ein ganz widerwärtiger Straftäter ist. Davon ist in seinen Werken vermutlich nichts zu merken. Es ist zwar Jahre her, dass ich die Bill-Cosby-Show gesehen habe, aber auch ohne ein Re-Watch bin ich mir sicher, dass das weiterhin eine harmlose, liebenswerte Show ist, in der es dem Künstler problemlos gelingt, seine Haltung zu weiblichen Personen, die man betäuben und vergewaltigen kann, herauszuhalten. Das ist bei Verbrechern oder Psychopathen auch nicht selten, dass sie sehr genau wissen, was gesellschaftlich akzeptiert ist und sie eine empathische, liebenswerte Rolle spielen können. Es muss nicht mal eine Rolle sein. Wir wissen nicht genug über die Psyche dieses Mannes, um zu sagen, ob er immer nur spielt oder ob er in der Lage ist, zwischen dem Modus des kaltblütigen Täters und dem eines sorgenden Familienvaters hin und her zu schalten. Selbst wenn es so wäre, würde das die Taten nicht entschuldigen. Es ist nicht nötig, von einer tiefgreifenden und immer in jeder Situation zutage tretenden Bosheit auszugehen, um den Mann für seine Taten zu verachten.
Das Bedürfnis, alles, was er tut, für „eigentlich“ böse zu erachten und noch in der harmlosen Cosby-Show nach Indizien für dieses Böse zu suchen, dieses Bedürfnis spricht für eine Schwarz-Weiß-Sicht, die gar nicht nötig ist. Verschiedene Anteile in einer Person zu sehen, bedeutet nicht, sie in Schutz zu nehmen. Es kann also gut sein, dass das die Bill-Cosby-Show als Kunstwerk keinen Zusammenhang zur charakterlichen Miesheit ihres Namensgebers aufweist.

Kitsch

Die zweite Möglichkeit begegnet uns mutmaßlich bei Rammstein. Ich will hier keiner juristischen Aufarbeitung vorgreifen und es geht bei der Frage ja auch gar nicht zwangsläufig um Straftaten. Vielen reicht es ja schon zu hören, dass Rammstein sich angeblich systematisch und professionell junge Frauen zuführen lassen haben sollen, um sich zu fragen, ob das lyrische Ich, das vom Ausleben niederer Triebe singt, wirklich so anders ist als das „wahre Ich“. Und es hat Gründe, warum sich diese Frage gerade bei dieser Band so deutlich stellt. Warum sich viele Fans so vehement dagegen wehren.
Wie „gut“ oder „schlecht“ der Charakter von Till Lindemann in Wahrheit ist, sei mal dahin gestellt. Interessant ist die Frage, was mit seiner Kunst passiert, wenn sie in den Ruch tatsächlicher moralischer Verfehlungen kommt. Die ganze Betrachtung dieser Trennung von Künstler und Werk hängt nämlich sowieso vielmehr an der Kunst als am Künstler. Die Frage ist, ob man der Kunst nachweisen kann, „schlecht“ zu sein, ideologisch vergiftet zu sein, unehrlich zu sein, eindimensional zu sein. Das ist nämlich jene Kunst, die die Spuren ihres Schöpfers in sich trägt und die vom Künstler zu trennen nicht angemessen wäre.
Die Musik von Rammstein ist nicht vielschichtig, auch wenn ihr das oft nachgesagt wird. Sie ist exakt zweischichtig. Die eine Schicht könnte man die ikonographische nennen. Sie produziert auf immer neue Weise Bilder (auch sprachliche und musikalische Bilder) einer bestimmten Ästhetik, die sich mit brutal, maskulin, machtvoll, faschistoid, triebgesteuert, megaloman beschreiben lässt. Diese Schicht ist Rammsteins Markenkern, ihr Produkt. Die zweite Schicht ist jene der Wortspiele, Zweideutigkeiten, Anspielungen. Diese dienen einem bestimmten Zweck: Sie verschleiern, wie plump und plakativ diese Kunst eigentlich ist. Es ist nicht so, dass die Verschleierungsschicht zu tieferen Einsichten führen würde, den Zuhörer mit eigenen Ambivalenzen konfrontieren würde, die Künstler von unerwarteten oder verletzlichen Seiten zeigen würde oder sonst etwas leisten würde, das das Prädikat „vielschichtig“ rechtfertigen würde. Die Zweideutigkeiten sind lediglich ein Kniff, der es den reflektierteren unter den Fans ermöglicht, das Spektakel zu genießen und sich vorzugaukeln, man habe es mit vielschichtiger Kunst zu tun. Brutal, maskulin, machtvoll, faschistoid, triebgesteuert, megaloman will man nämlich meistens ungern einfach so sein, sondern nur unter dem Deckmantel der Ambivalenz und höheren Bedeutungsebene.
Die Kunst von Rammstein ist vor allem ein sehr professionelles Handwerk, nämlich die Produktion eines Images, also im Prinzip das Handwerk von Werbeagenturen. Bloß ergänzt um den einen Kniff der Zweideutigkeit. Es ist, kurz gesagt, Kitsch.
Wenn sich nun bestätigen sollte, dass der Kniff nur ein Bluff ist, wenn die Peniskanone keine irgendwie ironisch-ambivalente Bedeutung hat (welche zum Teufel sollte das eigentlich sein?), sondern in Wirklichkeit einfach nur das Bedürfnis ausdrückt, seinen Penis in möglichst viele weibliche Körper zu stecken, dann bricht für die Künstler wie für die Fans gleichermaßen eine Illusion zusammen. Die kognitive Dissonanz, dass man etwas gut findet, das eigentlich ziemlich blöd ist, lässt sich nur noch schwer verdrängen. Das muss entweder zu kritischer Selbstbetrachtung führen oder zu Abwehr. Und diese Abwehr sieht man in den übertriebenen Solidaritätsbekundungen für die Band.
Auch ohne tiefergehende Spekulationen über den Charakter von Lindemann anzustellen (und Anwaltspost zu riskieren), kann man erwägen, dass der Künstler in diesem Fall nicht vielschichtiger ist als sein Werk und das die Kunst schlecht ist, weil sein Charakter auch nicht mehr hergibt.

Mord und Erhabenheit

Aber kann ein schlechter Charakter auch zu einem guten Werk führen? Der oben erwähnte Mörder Varg Vikernes hat unter dem Pseudonym „Burzum“ einige wegweisende Black Metal-Werke geschrieben. (Wenn ihnen die Geschehnisse um ihn und die norwegische Black Metal-Szene nichts sagen, googeln Sie mal, aber nehmen Sie es bitte nicht als repräsentativ für all die anderen Menschen, die Black Metal machen oder hören.) Vielen Menschen bedeutet etwa sein Album „Filosofem“ viel, obwohl sie die Ideologie und die Verbrechen des Künstlers ablehnen. „Filosofem“ ist ein minimalistisches, hypnotisches Werk, dessen Stimmung zwischen Einsamkeit und Erhabenheit oszilliert, das den Kipppunkt zwischen Verzweiflung und Ermächtigung auszuloten scheint, auf dem aus unendlicher Tristesse Momente von feierlicher Größe aufsteigen.
Es scheint plausibel, dass ein Mensch, der solche Gefühle kennt und sucht, mit seelischen Unzulänglichkeiten kämpft, die statt in solcher Kunst auch in Rassismus und Gewalt ihren Ausdruck finden können. Ohnehin ist ja leider das gesamte Genre des Black Metal anfällig für rechtsradikale Tendenzen. Das ist kein Zufall. Der musikalische Kern dieser Musik ist das Gefühl der Erhabenheit. Das ist ein Gefühl, das die Nazis auszunutzen wussten und das von der individuellen Suche nach Größe und Bedeutung bis hin zur faschistischen Überzeugung von Auserwähltheit reichen kann. Es ist ein Gefühl mit Missbrauchsrisiko.
Aber Gefühle an sich sind nicht böse oder gut. Man kann sich nicht aussuchen, was man fühlt, so wie man sich nicht aussuchen kann, ob einem etwas wehtut. Die Verwechslung von Gefühl und Handlung ist Quelle von viel Leid. Menschen unternehmen große Anstrengungen, um Gefühle zu vermeiden, weil sie sie für den Übeltäter halten. Dabei ist es die Handlung, zu der wir uns von diesem Gefühl gezwungen sehen, die in der Welt wirkt. Und die Handlung unterliegt der Willkür, im Gegensatz zum Gefühl. Für die Handlung kann man etwas, für sein Gefühl nicht.
Daher ist es falsch, dem Streben nach Erhabenheit grundsätzlich zu unterstellen, es sei faschistisch. Dieses Streben kann genauso auf einen spirituellen Pfad führen oder in der Liebe zur Natur seinen Ausdruck finden oder in Nonkonformismus.
„Filosofem“ vermittelt auf künstlerisch bahnbrechende Weise ein Gefühl, das Menschen unabhängig vom Urheber bewegt. Es lässt Interpretationsspielraum, es ist ein emotionales Vexierbild. Es springt zwischen Verlorenheit und Größe hin und her. Deswegen ist es gute Kunst. Das ist auch der Unterschied zu Rammstein. Der „Interpretationsspielraum“ ist dort lediglich ein formaler, durch Wortspiele oder Zitate oder kalkulierte Widersprüche auf rationaler Ebene herbeigeführter. Die emotionale Reaktion hingegen ist bei Rammstein klar festgelegt, generalstabmäßig geplant und hollywoodreif durchgeführt.
Die Gefühle des Künstlers sind also nicht böse, sondern gegebenenfalls seine Taten, die sich aus diesen Gefühlen ebenso speisen können wie seine Kunst. Varg hat „Filosofem“ nicht geschrieben, weil er ein Mörder und Rassist ist, sondern er kennt offensichtlich eine Gefühlswelt, die in großer Kunst und verachtenswertem Verhalten gleichermaßen münden kann.

Und gerade, dass andere Menschen diese Musik mögen oder ähnliche Musik machen, also ähnliche Gefühle kennen, ganz und gar ohne widerliche Ansichten zu haben oder Verbrechen zu begehen, gerade das beweist, dass man eine Wahl hat. Gerade deswegen gibt es für Vikernes keine Entschuldigung und auch keinen Anlass, sein verwerfliches Verhalten irgendwie als notwendige Voraussetzung für seine Kunst zu verklären.

Drahtseil und Messer

Wie sich die Persönlichkeit in der Kunst ausdrückt, lässt sich im Jazz oft besonders gut beobachten. Dadurch, dass dort der individuelle musikalische Ausdruck im absoluten Mittelpunkt steht, zeigt sich die Persönlichkeit des Musikers mehr als in jedem anderen Genre. Charles Mingus etwa war ein schwieriger Mensch, emotional, impulsiv, leidenschaftlich, dominant. So hat er mal einen Mitmusiker mit einem Messer bedroht. Der Anlass, natürlich: Musik. Er hat sich auch wegen einer musikalischen Differenz mit seinem langjährigen Weggefährten Max Roach zerstritten. Mingus konnte sich nicht unterordnen, er war eine Führungsperson. Aber er war eben auch keiner, der minutiös alles kontrollierte und seinen Musikern detaillierte Vorschriften machte. Stattdessen erwartete er von ihnen, über sich hinauszuwachsen, bot ihnen Freiräume und war dann menschlich enttäuscht, wenn sie sie nicht zu nutzen wussten. All das hört man seiner Musik an. Sie ist leidenschaftlich und unberechenbar, spontan und emotional. Typisch sind Tempoänderungen, bei denen Mingus am Bass die Geschwindigkeit anzieht, den Bezugsrahmen verlässt und Kraft seiner Persönlichkeit alle Musiker mitzieht, als würde er sie über ein Drahtseil tragen. Diese Art zu musizieren erfordert eine Risikobereitschaft und eine mentale Stärke, die eben typisch für diesen großen und dicken, unersättlichen, liebenswerten wie jähzornigen Mann war. Man kann die gute Kunst von Mingus nicht von seinem „schwierigen“ Charakter trennen.

Der Forscher

Und umgekehrt kann eben auch ein ruhiger, sanfter, in sich gekehrter Mensch wie John Coltrane nicht von seiner Musik getrennt werden. Auch wenn ungeschulte Ohren seinen späten Free Jazz als aggressiv und dissonant wahrnehmen dürften, ist Coltranes Musik so ähnlich, wie er selbst beschrieben wird: bescheiden, geduldig, unaufhaltsam, zartfühlend, introvertiert. Coltrane hat die harmonischen und technischen Möglichkeiten seines Instruments mit engelhafter Geduld ausgelotet, die Musik war für ihn wie eine spirituelle Suche. Es heißt, dass er zwischen Auftritten in der Umkleide weiter geübt hat, weil er immer tiefer in seine Musik eindringen musste. Und so klingt es auch. Coltrane ist bekannt für seine ungewöhnlich langen Soli, denn er erforschte eben Akkorde oder Notenfolgen bis zur letzen Variationsmöglichkeit. Er spielt nicht extrovertiert wie Mingus, sondern forschend und integrierend. Man könnte Coltrane also als Beispiel für die vierte Kategorie sehen, wo gute Kunst aus einem „guten“ Charakter folgt.

Und die letzte Kategorie? Könnten wir im Schlagerbereich finden oder im Kunsthandwerk, wo sicher liebenswerte, harmlose Menschen Kunst produzieren, die keinem wehtun soll und es auch nicht tut, geschmiedete Dinger für den Garten, kitschige Lieder, von Menschen gemacht, denen man nichts Böses vorwerfen kann, die aber auch aufgrund ihres sanften bis uninteressanten Wesens gar nicht auf den Gedanken kämen, „gute Kunst“ im Sinne dieses Artikels zu machen.
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Die Frage, ob man Werk und Künstler trennen kann, muss also gar nicht grundsätzlich beantwortet werden, als gäbe es da nur eine Wahrheit. Es kommt drauf an. Und im übrigen ist diese Frage auch nicht gleichbedeutend mit der, ob ich den Künstler unterstützen will. Dadurch, dass ich sein Werk gut finde, unterstütze ich ihn nicht. Ich mache mich durch ein Werturteil nicht zum Komplizen. Allerdings muss ich mich fragen, ob ich das Werk bewerben oder dafür Geld geben will. Denn das kommt nicht dem Werk zugute, sondern der Person.

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