Vorkriegs-Notizen (8): Weg mit der ‚Kultur für alle‘! Nieder mit Kulturhäusern!

Schröpfen und schrumpfen
Überall werden jetzt systematisch so lange Gelder gekürzt, bis die maroden Kultureinrichtungen sich vollkommen „gesund geschrumpft“ haben und ihnen jede Lobby für einen Bürgerprotest abhanden gekommen sein dürfte. Darauf hofft Politik: Wo kein Bürger, da kein Kläger.
Hinter den Eventfassaden kaum noch ein bewohnbares Kunst-Haus.

Sterbehilfe
In diesen Zeiten der schrittweisen Abwicklung vieler Kunst- und Kultureinrichtungen verlässt die meisten Betroffenen endgültig ein Mut, den sie nie hatten.

Claims abstecken
Das Ruhrgebiet war einmal stolz auf sein Recklinghäuser „Kunst gegen Kohle“. Heute „stellt man sich gut auf“ mit Claims wie „Keine Kohle für Kunst“ oder „Mehr Kohle? Keine Kunst“.

Kulturverweser
Könnte die Kulturpolitik des Ruhrgebiets auch deshalb so abgründig einfallslos sein, jeden Sinn für Kunst und Kultur verloren haben, weil sie fast nur noch von Kämmerern oder Ökonomen/Juristen aus Multidezernaten heraus gesteuert wird?
Diese vermeintlichen Generalisten inszenieren sich jetzt als schuldlos tragische Helden von opulenten Kultur-Kürzungsschlachten. Aber wo war ihr glänzend fehlender Sachverstand als die Kommunen ihre Schulden machten? In einem Betrieb der Entsorgungswirtschaft?
Das Ruhrgebiet hatte mal Kulturdezernenten wie Erny, Rose, Schilling…, oft umstritten, manchmal autoritär, aber mit einem großem Herz für Kunst. Auch städtische Juristen hatten denen zuzuliefern, nicht umgekehrt.

Poser
Wo öffentlich-politisch außerhalb von Talk-Agitprop nicht mehr über die Umverteilung immensen Reichtums nachgedacht werden darf, da erscheint betriebswirtschaftliches Rechnungswesen als alternativloses Lösungsmittel – und die Spar-Kommissare der öffentlichen Haushalte posen als „Retter“ wider die „Schuldenmacher“. So schnell kann man die Seiten wechseln.

Politik- und Sponsor-Grußworte
Da werden Kunst, Kultur und ihr Publikum gründlich eingeseift, bevor sie vollkommen kahl rasiert werden. Schauen Sie also nicht bloß auf die Pinsel, schauen Sie auf die Messer.

Denk-Darsteller
Viele ersetzen eigenes Nachdenken durch perfekte Vordenk-Simulation. Wem nichts mehr einfällt, der möchte doch zumindest auffallen.

Die Kunst, sein Hirn zu warten
Heute begreift kaum ein ‚Kulturmanager‘ Kunst als Widerstand. Viel lieber übt man sich in der Kunst, jeder Kunst zu widerstehen. Mentales Aikido: Jeden berührenden Gedanken umleiten und gegen seinen Urheber wenden.

Denken gefährdet Ihre Gesundheit!
Ich bin für Nichtdenker-Theater, -Salons, -Kunsthäuser überhaupt.
Zum Denken sollten die Leute wirklich nach draußen gehen, nach draußen vor die Tür, an die frische Luft. Schon das passive Mitdenken, die Inhalation von Ausscheidungen rauchender Köpfe aus der Raumluft, kann zu Schwindel und anderen Ausfallerscheinungen führen. Beim Nichtdenkerschutz stecken wir noch in den Kinderschuhen – die vielen dennoch jetzt schon zu groß sind.

Leseförderung à la Klieve: Butter bei die Fische, Bücher zu die Leut
„Klieve: (…) Brauchen wir die Vielzahl von Präsenzbibliotheken? Sollten wir die Bücher nicht lieber zu den Leuten bringen? Alle Schulen haben doch internetfähige PCs. Also kann man dort auch übers Internet Bücher bestellen.“
   Ja, sicher. Am besten über geschlossene Bücherei-Zweigstellen bestellen oder gleich auf eigene Kosten bei Amazon. Wo dann Ost- und Südeuropäer mit Werkvertrag all die hohlen Bestseller verpacken, die die Lohnsklaven der Paketunternehmen in Klassenräume bringen , wo Schülern gerade das Lesen mit Klausuren zu Goethe bis BrechtGedichten ausgetrieben wird. Schulkummer eben.
Ich höre schon, wie die Kinder sich freuen: „Äy, isch weiß, wo mein Vampir-Buch wohnt, äy, voll im Äppel, äy. Abba brauch isch sowieso nisch, happisch schon als Film gesehn.“
Und den Rentnern, die irgendwo draußen im Lande hinter den sieben Schuldenbergen weit unterhalb der Armutsgrenze leben, denen könnte man in naher Zukunft ihre Großschrift-Romane mit Bücherbussen bringen – wenn’s die noch gäbe – die Bücherbusse natürlich.

Zum Ausklang: After-Work-Concerts als Happy hour
Ganze Orchester vergeigen zurzeit ihre Zukunft in der Gegenwart smarter Easy-Listener. Diese – stressgeplagt – bekämpfen ihren Tinnitus bei einem Last Word-Cocktail – und schütten einen Coma libre hinterher. Niemand ist gerührt, niemand schüttelts, wenn’s z.B. in Leipzig heißt:

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen
Leipzigs Kultur hat viel Spannendes zu bieten, das sich leicht mit dem Arbeitsalltag verbinden lässt und auch Entspannung bieten kann. Diesen Gedanken verfolgen bereits in der fünften Saison die „After Work Concerts“ des Gewandhauses zu Leipzig, die sich an all jene richten, die sich im direkten Anschluss an die Arbeit nicht gleich dem hektischen Berufsverkehr aussetzen möchten, sondern Lust haben auf einen sinnlich-genussvollen Ausklang mit Musik in entspannender Lounge-Atmosphäre sowie Getränken, Cocktails und leichten Snacks.“

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joscha hendricksen
joscha hendricksen
11 Jahre zuvor

Lieber Gerd Herholz,

könntest du „Nichtdenkerschutz“ mit einem konkreten Beispiel präsizieren. Wo fühltest du dich zuletzt von „Ausscheidungen rauchender Köpfe“ belästigt.

Gruß
joscha hendricksen

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