Vortragsreise: 18 Jahre unschuldig im Gefängnis

Fernando Bermudez  versuchte 18 Jahre lang seine Unschuld zu beweisen. / Foto: Chantal Stauder
Fernando Bermudez hat sich seinen Optimismus bewahrt: // Foto: Chantal Stauder

Nachdem Fernando Bermudez über 18 Jahre unschuldig in New Yorker Gefängnissen verbracht hat, wurde 2009 offiziell seine Unschuld bewiesen. Als 22-Jähriger wurde er beschuldigt, einen Teenager erschossen zu haben, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Heute hält er Vorträge an Polzeihochschulen und internationalen Universitäten, um über die Verfahrensfehler und Manipulationen aufzuklären, die zu seiner Verurteilung geführt haben. Er erklärt, warum sie lange Jahre gängige Praxis in den USA waren. Fernando Bermudez ist noch bis zum 2. Mai auf Vortragsreise durch Deutschland. Schon bei seiner ersten Station an der Ruhr-Universität Bochum beeindruckte er seine Zuhörer mit der unfassbaren Tragik seiner Geschichte. Sie schenkten ihm im übervollen Hörsaal uneingeschränkte Aufmerksamkeit und einen riesigen Applaus.

Im August 1991 erhielt der damals 22-Jährige Fernando Bermudez gerade seine College-Zulassung. Wenige Stunden später nahm ihn die Polizei im Haus seiner Eltern fest. Bermudez wurde Opfer von falschen Zeugenaussagen sowie einer Reihe von Fehlverhalten der Polizei und Staatsanwaltschaft. Gegenüberstellungen und Zeugenbefragungen verliefen fehlerhaft. Der Hauptbelastungszeuge beging eine Falschaussage. Obwohl der Freund des erschossenen Opfers bei einer Befragung aussagte, wer der eigentliche Täter war und sogar seinen Namen nannte, wurde die Zeugenaussage, die als Videoaufzeichnung vorlag, nicht zum Verfahren zugelassen.

Das Problem hierbei war, dass die Zeugen vorbestrafte Jugendliche waren und die Beamten ihnen anboten, ihre eigenen Vergehen nicht weiter zu verfolgen, sollten sie gegen Bermudez aussagen. Im Laufe des Verfahrens wurde Fernando schuldig gesprochen, obwohl es weder DNA-Belege noch ein Motiv gab und mehrere seiner Freunde bestätigten, dass er zum Tatzeitpunkt nicht einmal in der Nähe des Clubs war, in dem es zur Schießerei gekommen war. Bereits 1992, also ein Jahr später, haben die fünf Zeugen ausgesagt, dass sie von der Polizei manipuliert wurden, damit Bermudez als Täter identifiziert wird.

„Ich habe gerade erst angefangen“

Bermudez sagt, er habe vergeben, aber nicht vergessen: „Ich habe mein Leben verloren und es hätte verhindert werden können. Damit klarzukommen war unfassbar schwer. So schwer, dass ich sogar Selbstmord begehen wollte.“ Heute ist er verheiratet und hat drei Kinder. Vor kurzem machte er seinen BA-Abschluss in Verhaltenswissenschaft und plant nun, Jura zu studieren. Bermudez sagt: „Ich bin ein junger Mann. Ich bin erst 43 Jahre alt. Ich habe gerade erst angefangen.“

Thomas Feltes zeigt sich beeindruckt und sichtlich gerührt. / Foto: Chantal Stauder
Thomas Feltes zeigt sich beeindruckt und sichtlich gerührt. / Foto: Chantal Stauder

Thomas Feltes ist sichtlich gerührt, als er aufsteht, um sich für den Vortrag zu bedanken. „Das ist vermutlich der lauteste und langanhaltendste Applaus, den dieser Hörsaal je gehört hat.“ Zusammen mit Babette Stangier und dem Verein pro bono Deutschland e.V. holte er Fernando Bermudez für eine Vortragsreise nach Deutschland. Stangier beschäftigt sich seit etwa 15 Jahren mit dem amerikanischen Justizsystem und dabei insbesondere mit der Todesstrafe. Feltes ist Professor an der Ruhr-Universität und hat dort den Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft inne. Er sagt: „Justizirrtümer sind ein Thema, das Juristen ständig umtreiben sollte. Durch Fehlurteile wird das ganze System in Frage gestellt. Deswegen gilt es Ermittlungen immer umfassend zu gestalten.“

Zwei Einfallstore für Fehlurteile

Der Professor wünscht sich von seinen Studierenden, dass sie kritisch bleiben und nichts als gegeben hinnehmen: „Das ist wichtig für Staats- und Rechtsanwälte genau wie für Polizeibeamte. Wir sind ja quasi die Ursache von Fehlurteilen“, so Feltes. Er erklärt: „Es gibt zwei grundlegende Einfallstore für Fehlurteile. Das sind zum Ersten Zeugenaussagen, also der Personenbeweis. Diese sind immer mit Mängeln behaftet. Der zweite Punkt sind einseitige Ermittlungen der Polizei. Etwa wenn sich die Ermittler zu früh auf einen Tatverdächtigen festlegen.“ Er fügt hinzu: „Aber auch Aspekte wie Rasse, ethnische Zugehörigkeit und Machtpositionen – die Frage, ob es ein gut bezahlter Anwalt ist, der einen vertritt – spielen eine Rolle. All das bringt bestimmte Verdachtsstrukturen hervor. Täter werden in bestimmten Milieus vermutet. Das trifft auch besonders Menschen, die sozial benachteiligt sind.“

Feltes weist darauf hin, dass das deutsche und das us-amerikanische Straf- und Rechtssystem eigentlich nicht vergleichbar seien. Denn in den USA haben Verteidiger nur die Aufgabe den Angeklagten zu vertreten und die Staatsanwaltschaft nur die Aufgabe, den Angeklagten zu verurteilen. Außerdem gibt es in Amerika die 12 Geschworenen, nicht wie in Deutschland ein Gericht und Schöffen. In den USA werden in der Regel extrem lange Strafen verhängt und es gibt anders als in Deutschland keine Resozialisierungsmaßnahmen.

Beziehung trotz Gefängnis

Dass Bermudez unschuldig ist, konnte nur durch die Hilfe eines Journalisten, eines Anwalts und eines ehemaligen Kriminalbeamten bewiesen werden, die ihre Hilfe unentgeldlich zur Verfügung stellten. „Von Anfang an hat uns die Presse unterstützt. Ein Journalist hat sich des Falles angenommen und nicht nur Artikel darüber geschrieben, sondern aktiv nach Beweisen gesucht, die helfen konnten meine Unschuld zu beweisen. Was ich ihm hoch anrechne ist, dass er kam, um mich im Gefängnis zu besuchen und meine Frau draußen unterstützt hat.“ Seine Frau Chrystal Bermudez lernte er kennen, nachdem er bereits inhaftiert war. Als sie von seinem Fall erfuhr, begann sie ihm regelmäßig zu schreiben. Durch Chrystals Worte, so sagt er, fand er seinen Glauben wieder: „Meine Frau hat mir mit ihrer Loyalität das Vertrauen in die Zukunft und in Gott zurückgegeben. Dank unserer drei Kinder haben wir sogar noch mehr Hoffnung, weil wir jetzt nicht mehr nur für die Zukunft unserer eigenen Leben verantwortlich sind.“ Sie sagt: „Er bekam damals viel Fanpost von den verschiedensten Leuten, aber er merkte schnell, dass uns beide mehr verband.“

Chrystal zog um, damit sie ihn regelmäßig besuchen konnte, verlor ihren Job, hatte einen Unfall und konnte die Kosten für eine teure OP nur mit Mühe aufbringen. Sie musste wegen ihrer Armut zwischenzeitlich in so genannte „Projects“, Slums, umziehen. Fernando tauschte im Gefängnis seine Kleidung und Habseligkeiten gegen Zigaretten und andere Dinge, damit Chrystal sie verkaufen und so die Rechnungen bezahlen konnte. Trotz aller Widrigkeiten steht sie ihm bis heute zur Seite. Chrystal sagt: „Durch die ganze Situation war auch ich auf meine Weise unfrei. Ich war zwar physisch frei, aber mein Geist war eingesperrt – weil du nach ihren Regeln leben musst, egal, um was es geht.“

Abschluss in Eigenregie

Schon kurz nach seiner Ankunft in einem großen New Yorker Hochsicherheitsgefängnis wurde Fernando Opfer von Demütigungen. Er musste seine Straßenkleidung ablegen, sich nackt ausziehen und die sexuell konnotierten Pfiffe der Beamten bei der Personendurchsuchung ertragen. In dem Gefängnis, in dem etwa 15.000 Häftlinge untergebracht waren, erlebte er regelmäßig wie sich Menschen attackierten, gegenseitig umbrachten oder Selbstmord begingen. Bermudez litt unter der Gewalt, die auch die Beamten im Vollzug gegen die Insassen einsetzten. „Ich habe sehr darunter gelitten, war depressiv und habe noch heute mit den Erfahrungen zu kämpfen, die ich gemacht habe“, so der 43-Jährige.

Seine Eltern mussten ihr Auto verkaufen, um einen Verteidiger für ihn bezahlen zu können. Seine Kinder begannen zu fragen, wann ihr Vater nach Hause kommen würde und warum die Wahrheit nicht zählt. Im Gefängnis begann Fernando Recht zu studieren. Er wollte einen Weg finden, um seine Unschuld zu beweisen. Er schrieb unzählige Briefe an Anwälte und Leute, von denen er hoffte, dass sie ihm helfen könnten. Die New York Times und große Fernsehsender begannen zu berichten. Während sein Fall zur nationalen Angelegenheit wurde, unterrichtete er sich selbst, um seinen Abschluss zu machen. Fernando half auch anderen Mithäftlingen. Er übersetzte für jene, die nur Spanisch, aber kein Englisch konnten. Er sagt: „Ich habe mehr als 6700 Tage im Gefängnis gesessen. Dort vergeht die Zeit so langsam. Deswegen musste ich dafür sorgen, dass jeder Tag zählt. Sei es durch ein neues Wort, das ich lernte oder durch einen Brief, den ich an einen Anwalt schrieb.“

Freiheit für Schuldeingeständis

bermudez_und_feltesDie Ermittler boten ihm schließlich an, ihn freizulassen, wenn er sich schuldig bekennen würde. Die Menschen um ihn herum redeten auf ihn ein, er solle das Angebot annehmen, sonst würde er noch ewig im Gefängnis sitzen. Doch Bermudez lehnte ab. Er glaubte fest daran, dass ihn die Wahrheit befreien würde. Als es nach dem zehnten fehgeschlagenen Anlauf zur entscheidenden Verhandlung kam, herrschte absolute Stille vor der Urteilsverkündung. Die Anwesenden hielten den Atem an. Vielleicht weil sie spürten, dass in den nächsten Minuten etwas Großes geschehen sollte, das alles verändern würde. Nachdem der Richter Fernandos Unschuld verkündete, brach Bermudez weinend in den Armen seines Verteidigers zusammen. Seine Freunde und Familie jubelten.

Alle trugen plötzlich Skinny Jeans

In den darauffolgenden Wochen und Monaten musste Fernando mit den Veränderungen in der Welt draußen klarkommen. Die Welt, wie er sie kannte, gab es nach fast zwanzig Jahren nicht mehr. Fernando musste wieder lernen Auto zu fahren, seinen Führerschein nachmachen. „Die Handys, mit denen ich telefoniert habe, waren große unhandliche Klötze. Jetzt sind sie unglaublich klein. Ich wusste nicht, wie ich sie benutzen geschweigedenn wie ich sie halten sollte“, scherzt er. „Das Essen war fantastisch. Es schmeckte auf einmal unfassbar gut. Ich konnte nicht mehr aufhören zu essen und musste mich erst daran gewöhnen, selbst Geld in der Tasche zu haben. Alles war neu, ungewohnt und alle trugen plötzlich Skinny Jeans! Sie sagten mir ‚Ey Mann, das ist jetzt der Style. Das ist, was in New York passiert ist.'“

Fernando hatte zwar das Gefängnis verlassen, aber das Gefängnis hatte ihn nicht verlassen:  „Dieser ganze Irrsinn umgibt mich noch immer. Jeden Tag.“ So stand er noch immer jeden Morgen um 5.30 Uhr auf, war überfordert damit plötzlich seine drei Kinder von 21, elf und sieben Jahren um sich herum zu haben. Er musste seiner Frau ein Ehemann sein und wusste nicht wie. Seine älteste Tochter dachte, ihr Vater würde sie nicht lieben, weil er so beschäftigt mit seinen Angelegenheiten war. Sie heiratete und verließ das Haus, während er noch immer seine Unterwäsche in der Dusche wusch. Er sagt, seine Kinder fangen heute noch an zu weinen, wenn er zu lange weg ist. Auch das Leben seiner eigenen Eltern hatte sich verändert. Sein Vater begann zu trinken und entwickelte manische Depressionen. Sie konnten nicht akzeptieren, dass er es sich zur Mission gemacht hatte, dafür zu sorgen, dass all das, was ihm passiert ist, keinem anderem mehr passiert.

Weil er unschuldig ist, bekam Bermudez, anders als jene, die ihre Strafe absitzen und dann entlassen werden, vom Staat weder einen Psychiater, noch soziale Hilfe, um wieder zurück ins Leben zu finden. Darum musste er sich selbst kümmern. Im Moment sieht er jede Woche einen Psychiater.

Ermittler nicht haftbar

Obwohl ihm fast 20 Jahre seines Lebens geraubt wurden, bekam Fernando bis heute von niemandem der Verantwortlichen eine Entschuldigung, noch gab es Ermittlungen gegen die Beteiligten. Bermudez sagt, das liegt daran, dass in den USA nur ein Polzeidepartment haftbar gemacht werden kann, aber nicht einzelne Beamte: „Polizisten, Staatsanwälte und Ermittler müssen zur Verantwortung gezogen können. Sie müssen haftbar gemacht werden können.“ Trotzdem versucht Fernando seine tragische Geschichte mit Optimismus und Verständnis aufzuarbeiten: „Dieses System ist von Menschen gemacht. Menschen sind nicht perfekt. Sie begehen Fehler. Deswegen ist auch dieses System fehlerhaft.“ Er sagt: „Die Abschaffung der Todesstrafe in den USA – wie sie bereits in vielen anderen Ländern vollzogen wurde – ist der nächste richtige Schritt. Ich will nicht, dass Leute in meinem Land oder in irgendeinem anderen Land das erleben müssen, was ich erlebt habe. Ich will den Tod von niemandem.“

Fernando Bermudez ist noch bis zum 2. Mai auf Vortragsreise durch Deutschland. Nach Bochum folgen Greifswald, Berlin, Passau, Tübingen, Wiesbaden und Freiburg. Die genauen Orte und Zeiten können Interessierte hier nachlesen.

Zum Weiterlesen empfiehlt Thomas Feltes unter Anderem die „Berliner Fälle“, Kriminalreportagen von Pieke Biermann, und das Buch „Verbrechen“ – nicht die Verfilmung! – von Ferdinand von Schirach.

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