Nach der Amoktat in Hamburg wird diskutiert, das Waffenrecht zu verschärfen und mehr psychiatrische oder psychologische Kontrollen zu installieren. Hierbei wird wie so oft von einer sehr simplen Definition psychischer Störungen und hellseherischen Fähigkeiten auf Seiten der Gutachter ausgegangen.
Über den Täter ist bisher nur bekannt, dass ein anonymer Hinweisgeber ihn für psychisch auffällig hielt und er deswegen einen Besuch der zuständigen Behörde erhielt. Dort konnte man nichts Auffälliges feststellen, hat ihn aber auch nicht psychologisch begutachtet. Worin die gemeldeten Hinweise bestanden, wäre interessant, um besser zu analysieren, ob diese Tat hätte verhindert werden können. Offensichtlich war der Betroffene jedenfalls in der Lage, sich gegenüber den Beamten unauffällig zu geben. Falls er einen krankhaften Hass auf seine ehemalige Gemeinde hatte, so war er geistesgegenwärtig genug, diesen nicht auszusprechen.
„Krankhafter Hass“ ist keine psychiatrische Diagnose. Vielleicht lag ja darüber hinaus eine schwerwiegende psychische Erkrankung vor. Beim Täter von Hanau zeigte sich rückwirkend recht eindeutig eine Schizophrenie als Tatursache. Die überwältigende Mehrheit der Menschen mit einer Schizophrenie ist im Übrigen völlig ungefährlich. Dennoch würden wohl Menschen mit so einer Diagnose keinen Waffenschein erhalten. Sie im Falle von verschärften Kontrollen zu identifizieren, wäre bei Weitem nicht trivial, aber in vielen Fällen noch verhältnismäßig realistisch. Das Krankheitsbild kann vielgestaltig in Erscheinung treten, aber häufig sind die Betroffenen verhaltensauffällig und in vielen Fällen sind sie von ihren Wahninhalten so überzeugt, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommen, sie vor ihrem Gegenüber zu vertuschen. Aber auch hier gibt es Fälle, bei denen die erkrankte Person durchaus in der Lage wäre, zu erkennen, was sie besser nicht erzählt, wenn sie ihren Waffenschein bekommen möchte.
Psychiatrische Diagnostik beruht zu einem großen Teil auf dem, was der Patient sagt. Ein bisschen kann aus Beobachtungen geschlossen werden, aus Aussagen Dritter, aus der Art wie etwas gesagt wird, statt aus dem Inhalt. Der Normalfall einer psychiatrischen Diagnosefindung beruht auf einem vertrauensvollen Gespräch, in dem es gelingt, offen über das Seelenleben des Betroffenen zu reden. Wenn der Betroffene gewillt ist, ein verfälschtes Bild von sich abzugeben, wird es schwer. Im Rahmen forensischer Gutachten werden daher aufwändige Testverfahren eingesetzt, es werden Fragebögen verwendet und Methoden, um Widersprüche aufzudecken, die für Lügen oder bewusst verschwiegene Inhalte sprechen.
Solche forensischen Gutachten erfolgen aber in der Regel nach einer Tat, im Rahmen des Prozesses oder im Verlauf, um das Risiko einer Entlassung aus einer forensischen Unterbringung einzuschätzen. Dann ist also schon bekannt, dass eine Tat erfolgte und wie – und dieses Wissen geht in die Begutachtung ein.
Würde vorsorglich ein Gutachten erstellt, beispielsweise, um zu klären, ob ein Waffenschein ausgestellt werden kann, steht aber wahrscheinlich noch nicht mal fest, ob dieser Mensch je ein Täter wird. Vielleicht, im einfachsten Fall, plant derjenige tatsächlich einen Mord oder eine Amoktat und besorgt sich dafür den Waffenschein. Dann wird derjenige vermutlich alles daran setzen, dieses Vorhaben zu vertuschen. Es wird noch nicht mal eine bereits stattgefundene Tat geben, mit der man ihn konfrontieren und über die man seine Psyche zu verstehen versuchen könnte. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Entschluss für das Verbrechen zu diesem Zeitpunkt wirklich noch gar nicht gefasst wurde. Die Tat gibt es noch nicht mal im Kopf des Betroffenen, geschweige denn in den Erkenntnissen des Psychologen oder Psychiaters. Der Gutachter könnte dann allenfalls feststellen, ob jemand eine grundlegende Tendenz zu Aggression, Gewaltfantasien, Impulskontrollstörungen oder ähnlichem hat. Daraus aber mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Gewalttat vorherzusagen, ist sehr gewagt.
Wichtig ist auch die Frage, welche psychischen Störungen denn als Ausschlusskriterium für einen Waffenschein gelten sollten? Eine Nikotinsucht oder ein Waschzwang sind auch psychische Störungen. Die Kategorie „psychisch krank“ eignet sich nicht und würde eine riesige Gruppe von Menschen diskriminieren. Man kann geteilter Meinung darüber sein, wie wichtig das Recht ist, scharfe Waffen zu besitzen. Aber dass um die 20% der Bevölkerung, die irgendeine psychiatrische Diagnose haben, davon ausgeschlossen sein sollten, klingt nicht fair.
In Bezug auf Straftaten interessiert Gericht wie Psychiater die Schuldfähigkeit. Wer beispielsweise im Rahmen eines Wahns handelt und Menschen tötet, weil er sie für Aliens hält, ist nicht schuldfähig und kann nicht bestraft werden. Wohl aber kann er zur Sicherheit der übrigen Menschen untergebracht werden.
Aus psychiatrischer Sicht ist es aber insgesamt nicht gesund, Verbrechen zu begehen. Wer nicht in der Lage ist, das Leid seines Opfers zu sehen und die Regeln des Zusammenlebens nicht achtet, hat zumindest psychologische Auffälligkeiten, die sich mit Fachbegriffen beschreiben lassen. Sehr viele Straftäter können aus psychiatrischer Sicht einer dissozialen Persönlichkeitsstörung zugeordnet werden. Das bedeutet nicht, dass sie unschuldig sind. Sie sind schuldfähig, weil sie wissen, dass sie Unrecht tun und nach dieser Einsicht handeln könnten. Dennoch lässt sich beschreiben, was in ihrer Psyche gegenüber einer sich sozial verhaltenden Person anders ist.
Diese Menschen landen typischerweise im Gefängnis, wenn sie eine Straftat begehen. Wir gestehen ihnen zu, für ihre Taten verantwortlich zu sein. Was aber nun, wenn ein psychologischer Test eine solche Persönlichkeitsstörung ergibt? Soll man daraus schließen, dass diese Person doch nicht eigenverantwortlich handeln kann? Soll derjenige im Falle einer Verurteilung als strafmündig bewertet werden, aber als unmündig, wenn er einen Waffenschein beantragt?
Und auch hier muss wieder betont werden, dass hunderttausende von Menschen mit verschiedenen Persönlichkeitsstörungen friedlich und harmlos sind. Auch dissoziale Menschen sind vielleicht im Umgang sehr unangenehm und dennoch keine potentiellen Mörder.
Die Eignung zum Tragen einer Waffe könnte darüber hinaus auch durch Eigenschaften eingeschränkt sein, die aus gar keiner Diagnose hervorgehen. Ganz normaler Hass und Habgier sind immer noch die Mordmerkmale schlechthin. Und spätestens, wenn vorhergesagt werden soll, ob ein psychisch gesunder Mensch das Potential in sich trägt, ein Mörder zu werden, sind wir im Bereich der Hellseherei.
Die oben erwähnten forensischen Gutachten, die nötig wären, um eine Person überhaupt zu identifizieren, welche versucht, der „Entdeckung“ ihrer Auffälligkeiten zu entgehen, wären extrem aufwändig und teuer. Wahrscheinlich würde es alleine schon an den Kapazitäten der entsprechenden Experten scheitern, alle Menschen, die einen Waffenschein beantragen, derartig untersuchen zu wollen. Eine routinemäßige Vorstellung bei einem Amtsarzt wiederum wäre nicht viel mehr als Augenwischerei. Der würde allenfalls die ehrlichen Menschen herausfiltern, die ihre psychiatrischen Erkrankungen offen eingestehen, auch wenn diese vielleicht gar keinen Einfluss auf die Gefährlichkeit haben. Und wenn er befürchten muss, für etwaige spätere Taten dieser Person verantwortlich gemacht zu werden, wird er wahrscheinlich so defensiv wie möglich entscheiden. „Gewalttaten können aus medizinischer Sicht nicht sicher ausgeschlossen werden.“ Können sie nämlich nie.
Wenn man die betroffenen Waffen für so gefährlich hält, dass es tiefgreifende psychologische Untersuchungen braucht, um die Eignung für ihr Führen festzustellen, dann sind vielleicht die Waffen das Problem. Das Risiko, dass jemand sie missbraucht, lässt sich jedenfalls nicht durch Psychologen und Psychiater beseitigen.
(Edit: Wir wurden darauf hingewiesen, dass es bei diesen Regelungen nicht ausschließlich um den „Waffenschein“ geht, sondern auch um die „Waffenbesitzkarte“.)