„Warte nicht auf bessre Zeiten!“

Wolf Biermann am 1. Dezember 1989 in Leipzig Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1201-046 / Waltraud Grubitzsch (geb. Raphael) Lizenz: CC-BY-SA 3.0 de


Unser Gastautor Roland Kaufhold bespricht Wolf Biermanns Autobiografie.

Ich war gerade 15 geworden. Die DDR war mir naturgemäß sehr fremd – und blieb es bis zu ihrem Ende. Und dennoch hatte ich von Wolf Biermann gehört. Ich fuhr mit der Bahn nach Köln. Wie ich heute rekonstruiere zur Köln-Deutzer Sporthalle. Diese existiert heute nicht mehr, genauso wenig wie die DDR. Sie wurde 1999 im Zuge der Erweiterung der Kölnmesse abgerissen. Immerhin hatte sie die DDR ein Jahrzehnt überdauert.

Ich hatte einen Schülerzeitungsausweis und betrat die, aus meiner damaligen Sicht riesige, Halle. Die Kontrolleure waren über den Schülerzeitungs-Presseausweis unschlüssig-amüsiert. „Komm, den lassen wir rein“, beschied man mir.

Jüngst war in doch noch einmal in meinem Stadtteil in einem Antiquariat, was ich ansonsten zu vermeiden versuche. Ich habe ausreichend Bücher. Ich sah Wolf Biermanns 2016 erschienene Autobiografie – bei ihrem Erscheinen wurde er 80 – und kaufte sie „dennoch“.

Auf 530 durchgehend gut geschriebenen Seiten erinnert sich Biermann an ein pralles Leben, von dem viele Ereignisse allgemein bekannt sein dürften. Sein Rückblick auf 80 Jahre Leben im Widerspruch nötigt Respekt ab

1976: Der Kölner Auftritt

So einfach wie für mich war es für den aufrührig-oppositionellen Wolf Biermann seinerzeit nicht, nach Köln zu seinem eigenen Auftritt zu gelangen. Für ihn selbst überraschend hatte man ihm, der seit einem Jahrzehnt in der von ihm geliebten DDR  keine öffentlichen Auftritte mehr machen durfte, die Ausreise „gestattet“. Für Wolf Biermann, der als Sohn eines jüdischen Kommunisten die DDR lange für „den besseren“ deutschen Staat gehalten hatte – er kritisierte sie gewissermaßen „von links“ – , bildete das Konzert am 13.11.1976 in der mit 6500 Zuschauern ausverkauften Kölnarena unfreiwillig eine scharfe Zäsur: Drei Tage später wurde er aus der DDR ausgewiesen. Dies erfuhr er zufällig bei einer Autofahrt zu einem neuen Auftritt in den Rundfunknachrichten.

Diese Zäsur interpretieren manche als eine symbolische Vorwegnahme des Zusammenbruchs der autoritären DDR 13 Jahre später.

„Ich! Bin! Jude!“

Im November 1936 als Sohn eines kommunistischen Hamburger Vaters – Emma und Dagobert – geboren gehörten Verfolgungserlebnisse wie selbstverständlich zu seiner frühen Kindheit. Seine Eltern und ein Onkel gehörten einer Widerstandsgruppe an, „die Sabotage betrieb. Onkel Kalli und Dagobert spionierten während ihrer Arbeit im Hafen harmlose Handelsschiffe aus, die heimlich Panzer, Flugzeugteile und Munition nach Franco-Spanien bringen sollten“ (S. 16), erinnert er sich in seiner Autobiografie. Es folgten Anfang 1939 die Verhaftung, Folter, und für seine Mutter Emma „endlose Verhöre“ (S. 17), zu denen sie ihren Säugling Wolf mitnahm, mitnehmen musste – „und stillte mich dort.“ (ebd.)

Sein Vater blieb widerständig, unbeugsam. Bei einem Gestapoverhör, bei dem die Gestapo seine formale Religionsangehörigkeit – keine – noch annahm, platzte aus seinem Vater Dagobert heraus: „„Ich! Bin! Jude!“ Meine Mutter hat sich zeitlebens gefragt, wie ihr Leben weitergegangen wäre, wenn er diesen Satz nicht rausgehauen hätte.“ (S. 17)

Seine Mutter ließ den dreijährigen Wolf im Juli 1939 taufen, um ihn vor der rassistischen Verfolgung zu schützen.

1943 wurde sein Vater Dagobert in Auschwitz ermordet, wie 30  weitere Familienmitglieder. Beschrieben hat er dies im dichten Kapitel „Der ein Rauch ward aus den Schornsteinen in Auschwitz“. Kurz zuvor hatte Wolf noch an seinen Vater ins Bremer Strafgefängnis geschrieben, worauf sein Vater antwortete: „Hab mich so dazu gefreut. Mein Junge, Dein Papi hat Sehnsucht nach Dir.“ (S. 28f.) Kurz danach hört Emma, dass ihr Mann nach Auschwitz gebracht worden sei. Weder sie noch ihr enges Umfeld weiß, was Auschwitz ist. Am 22.2.1943 wird Dagobert in Auschwitz ermordet. Ein Gestapobeamte teilt Emma mit, dass ihr Mann „an Herzklappenschwäche verstorben“ sei (S. 32). Wolf Biermann erinnert sich über 70 Jahre später: „Ich stand neben ihr und hielt immer noch ihre Hand fest. Das dauerte.“ (S. 32)

Ein Großteil der Familie wurde in Minsk ins Ghetto deportiert: „Sie wurden alle ermordet, in die Grube geschossen, im Lastwagen vergast.“

Neubeginn: Klavierunterricht

Nach der Niederlage der Deutschen hat Wolf Glück: Er erhält in Hamburg Klavierunterricht. Die scheinbare Normalität hält nicht lange an: Das Gerücht über einen Nazi in seinem unmittelbaren Umfeld formt und berührt den Neunjährigen. Dieser leugnet Auschwitz, 1945: Er werde demjenigen 50.000 DM zahlen, der ihm beweisen könne, „dass auch nur ein einziger Jude in Auschwitz umgebracht worden“ sei. Solche zynischen „Witze“, so erinnert sich Biermann, „bewegten mein Knabenherz mehr als das unbegreifbare Schreckenswort „sechs Millionen Juden“.“ (S. 49)

1953: Übersiedelung in die DDR

1953 übersiedelte Wolf Biermann 17-jährig in die DDR, was von „der Partei“ organisiert wurde. Bereits im ersten Jahr erlebt er in seiner Theatergruppe den Versuch der Staatsbehörden, in einer Mischung aus Verdächtigung, Drohung, ideologischen Phrasen und Einschüchterung, ihn zum Denunzianten zu machen: „Ich bin ein Offizier der Staatssicherheit. Du bist ein Agent unserer Klassenfeinde“, erinnert sich Biermann im Rückblick an diese frühe Szene der Angstmachung, der zahlreiche Vergleichbare folgen sollten (S. 67).

1957, nach seinem Abitur, entsteht der Wunsch in Biermann, Theaterregisseur zu werden. Es folgen zwei Jahre beim Berliner Ensemble, er erlebt Hanns Eisler und Brecht, für ihn künstlerische Ikonen.

Dann Erinnerungen an den Mauerbau 1961. Und erneut an den regierungsnahen und doch gelegentlich um Abgrenzungen bemühten Schriftsteller Stephan Hermlin. Dessen widerspruchsreiches, ambivalentes Agieren begleitete Biermann viele Jahre lang und beschreibt sie in seiner Autobiografie detailreich. Gelegentlich versuchte der Literaturfunktionär Hermlin ihn zu schützen, Pluralität einzufordern, auch nach Biermanns Ausbürgerung im Jahr 1976. Auf Dauer hielt Hermlin dies nicht durch.

Er halte Biermann für ein großes Talent und wollte darum bitten, „daß man ihn nicht aus den Augen läßt und daß sich die Partei weiter um ihn kümmert“, beschied Hermlin dem SED-Funktionär Hager Anfang der 60er Jahre. Der Polit-Literat Hermlin habe sich bereits seinerzeit in seiner ganzen Ambivalenz gezeigt: „schön tapfer und ganz schön feige, rebellisch und devot. Entsprechend stachelte er mich und lähmte mich zugleich“, schreibt Biermann (S. 107).

Es sei an dieser Stella ergänzend darauf hingewiesen dass die Publizistin Stella Leder, Hermlins in Westdeutschland geborene Enkeltochter, Hermlins Wirken aus ihrer familiären Perspektive beschrieben hat (Kaufhold 2021).

Das kommunistische Kinderherz

Es folgen mehrere Buchkapitel, in denen Biermann die Phasen seiner zunehmenden Isolation und seiner künstlerischen Berufsverbote beschreibt, ab dem Jahr 1962. Biermann erlebt diese „Exkommunikation“ noch als eine Kränkung, schließlich versteht er sich weiterhin als ein Kommunist und die DDR als den besseren deutschen Staat. Sie kränkten sein „kommunistisches Kinderherz“ (S. 114), erinnert sich Biermann – und schreibt sich seine Enttäuschung von der Seele:

„Die einst vor Maschinengewehren mutig bestanden / fürchten sich vor meiner Gitarre. Panik / breitet sich aus, wenn ich den Rachen öffne und / Angstschweiß tritt den Büroelephanten auf den Rüssel“ schreibt er in seiner „Antrittsrede des Sängers“ (S. 114).

Biermann vermag sein Uni-Diplom zwar noch bei Wolfgang Heise abzuschließen, das Zeugnis wird ihm jedoch nicht mehr ausgehändigt.

Es folgen mehrere Kapitel, darunter auch „Was verboten ist, das macht uns grade scharf. Zwischen Mikrophon und Maulkorb“, in denen er seine künstlerische und politische Marginalisierung beschreibt. Zentral und stützend ist hierbei seine lebenslange Freundschaft mit dem Philosophen Robert Havemann, der über Jahrzehnte noch ärgere staatliche Isolationen als Biermann selbst erlebt. Die Beschreibungen seines Freundes, der sich gleichermaßen weiterhin als Kommunisten versteht, sind herzerwärmend und überzeugend.

Nach dem Ende der DDR und der Aufdeckung der Stasi-Akten – auch Biermann konnte 2002 seine mehr als umfangreichen Stasiakten lesen – veränderten sich Biermanns Erinnerungen an ehemalige Weggefährte, Freunde und Gegner. Ich finde, dass er in seinem Erinnerungsbuch recht souverän und „gerecht“ mit diesen Aufdeckungen umgeht.

Obrigkeitstreue Häme

Aus der Vielzahl der von ihm portraitierten Menschen sei der Schriftsteller Peter Hacks (1928-2003) erwähnt. Hacks, acht Jahre älter als Biermann, in einem antifaschistischen Elternhaus aufgewachsen, verstand sich auch als Antifaschist. 1955 übersiedelte er aus der Bundesrepublik in die DDR. Er hatte vereinzelt Schwierigkeiten mit DDR-Offiziellen und verfasste daraufhin besonders systemtreue Texte und Theaterstücke.

Anfangs unterstützte Hacks den Kollegen Biermann, ging dann jedoch rasch und zunehmend auf Distanz. Mit der SED-Regierung wollte er keine Schwierigkeiten bekommen. Nach Biermanns Ausbürgerung 1976 tat Hacks sich durch besonders herabsetzende und obrigkeitstreue Häme hervor. Bereits 1964 habe der überzeugte DDR-Kommunist ihn, so schreibt Biermann in beachtlicher Ruhe, „vor meiner lumpenproletarischen Eitelkeit“ gewarnt „die mich zu einem billigen Spott gegen die Partei verführen würde, zu Liedern, die die Grenze von der Kritik zur Konterrevolution überschreiten. Ohne die Funktionäre funktioniere keine Partei! Und ohne Partei gäb´s keinen Kommunismus!“ (S. 143).

Biermann ging in den folgenden Jahren diesen Weg der Kritik und Autonomie immer weiter; Hacks hingegen stilisierte sich als ein besonders linientreuer Autor und Ideologe.

Nach Biermanns Ausbürgerung und den, viele überraschenden, Protesten eines größeren Kreises von DDR-Schriftstellern hiergegen versuchte Hacks seine stalinistische Systemtreue noch einmal zu steigern: „Er veröffentlichte ein Pamphlet über den Verräter Biermann“, so Biermann, was vielleicht der einzige, von Hass erfüllte Prosatext des „Salonbolschewisten“ (ebd.) Hacks sei, der überleben werde. Vom Parteiblatt Neues Deutschland wurde dies begeistert aufgegriffen.

Ab 1964 hatte Biermann engere Kontakte zum westdeutschen SDS, der seinerzeit noch israelsolidarisch war. Immer wieder sang Wolf Biermann in Westdeutschland vor seinen linken Genossen. Rudi Dutschke, Erich Fried und Wolfgang Neuss wurden seine Freunde. Seinerzeit verstanden diese sich als Marxisten bzw. als entschiedene Linke. Wolf Biermann trat bei Ostermärschen auf, die in ihrem Grundcharakter antiwestlich waren. Später sollte Biermann über diese Szene mit harter Ironie sprechen, was leicht nachvollziehbar sein dürfte.

„Er sah aus wie ein gebrochener alter Jude…“

Es folgen detaillierte, bei der Lektüre vielleicht niederdrückend wirkende Beschreibungen der fortgesetzten staatlichen Angriffe gegen Biermann in den Jahren von 1965 bis zu seiner Ausbürgerung im Jahr 1977. Klaus Höpke, seinerzeit Kulturredakteur des Neuen Deutschland, schleuderte im Parteiblatt das Diktum eines Biermanns herum, der „nichts so fürchte wie Verantwortung“ (S. 166). Dies könnte an die Ideologie des nationalsozialistischen Vorgängerstaates vom „arbeitsscheuen Gesindel“ erinnern. Wer die DDR als verbesserungswürdig ansah – was seinerzeit Biermanns Position war – , gehöre nach Ansicht der DDR-Oberen gesellschaftlich und kulturell ausgeschlossen. So wurde Biermann auch aus den Mitgliederlisten seines PEN ausgeschlossen, was an die Ausschließungspolitik der nicht-jüdischen Psychoanalytiker gegenüber ihren jüdischen Berufskollegen in der Nazizeit erinnern könnte (vgl. Kaufhold & Hristeva 2021).

Der „Zyniker Herrmann Kant“ (S. 170) triumphierte ob der Ausschließungs- und Vernichtungsmaßnahmen, Hermlin hingegen blieb ambivalent und zögernd. Sein jüdischer Freund Stefan Heym spürte nach Gesprächen mit der Staatsführung die Bedrohung, was Biermann in dieser eindrücklichen Weise erinnert:
„Heym ging gebeugter als sonst, sein Mantel und sein Jackett offen, er sah aus wie ein gebrochener alter Jude, der seinen Leuten hinterherläuft auf der Rampe. Dieser Anblick machte mir Angst.“ (S. 170)

Havemann, aber auch Manfred Krug blieben der wichtigste Bezugspunkt für Biermann. Aus Angst teilte Heym seinem früheren Freund Havemann telefonisch mit, dass er nun jeden Kontakt mit ihm abbreche.

Biermann blieb unerschütterlich, ließ sich nicht einschüchtern. Der Gestus der unverwüstlichen Unerschrockenheit durchzieht das gesamte Buch. Unter dem Totalverbot brach er immer wieder zu neuen Leben auf, schrieb weiter, sang, wenn auch nur vor wenigen Freunden. Ein ganzes Jahrzehnt lang durfte er in der DDR nicht mehr öffentlich als Liedermacher auftreten. Seine Werke veröffentlichte er in Westdeutschland, dort war man an ihm sehr interessiert. Und er reagierte auf die unfreundlichen Staatsfunktionäre, etwa in dem Poem Populärballade, mit den Zeilen:

„Ach Sindermann, du blinder Mann / Du richtest nur noch Schaden an / Du liegst nicht schief, du liegst nur quer! / Du machst mich populär.“

Und wenige Zeilen später:

„Und sperrt ihr mich im Eisschrank ein / – ich fühl mich wohl dabei / Ich spür bei jedem Kältegrad / Die Obhut der Partei / Bei jedem Kübel Dreck spür ich / Die Liebe des ZK / Zum ganzen 11. Plenum sag / Ich zwölfmal: Ja! Hurra!“ (S. 179)

Das dialektische Denken ließ er sich auch nicht von den stalinistischen Staatskommunisten verbieten.

Wenig später verfasste er seine berühmte Ballade von der Ermutigung, die unauslöschlich in der Erinnerung Vieler eingebrannt ist:
„Du, lass dich nicht verhärten / In dieser harten Zeit / Die all zu hart sind, brechen / Die all zu spitz sind, stechen / Und brechen ab zugleich“ (S. 183).

1974: Abgelehnte Ausreiseangebote

Dann Biermanns Freundschaft mit Joan Baez, die ihn aus den USA in Ostberlin besucht.

Biermanns Gedichtebuch Mit Marx- und Engelszungen erscheint 1968 in West-Berlin, wie auch seine Schallplatten, die er über Freunde immer wieder nach Westdeutschland schmuggelt.

Die „Maßnahmepläne“ gegen ihn werden immer schärfer, in den Stasiakten kann er diese 25 Jahre später nachlesen. Trotz alledem beschreibt Biermann dieses Schreckliche aus der Perspektive einer spitzbübischen Unerschrockenheit. Unterkriegen lassen, das ist nicht seine Sache. Und in der DDR möchte er weiterhin leben, solange er noch im Westen zu publizieren vermag.

Seine antiautoritären Freunde aus der Bundesrepublik, wenig später die alternative Szene, waren in ihrer Unkalkulierbarkeit eine große Unterstützung für Biermann. Vor ihnen, auch vor Dutschkes Hang zu „improvisierten Provokationen“ (S. 278), hatten die DDR-Staatsoberen besondere Angst. Mit sozialdemokratischen Genossen hingegen vermochte man zu verhandeln, Kongresse über friedliche Koexistenz abzuhalten. Da funktionierte das Machtspiel. Die Entspannungspolitik, wie immer man sie im historischen Rückblick bewerten mag, verstärkte die Position der Autoritären, der am Machterhalt Interessierten. Damit vermochte die SED besonders gut zu leben. Die Antiautoritären hingegen waren der Stasi so fremd wie dieser der Kommunist Biermann fremd und bedrohlich war und blieb.

Biermanns berühmte, von Wanzen durchsetzte Wohnung in der Chausseestraße 131 blieb sein Refugium, welches er mit wechselnden Lebenspartnerinnen und immer neuen Kindern belebte.

Regierungsamtliche Ausreiseangebote, etwa im Jahr 1974, lehnt er hingegen ab. Und Reiseanträge zu Preisverleihungen werden nur sehr selten genehmigt. Trotz aller täglichen Ohnmacht macht und schreibt Biermann weiter. Und er nimmt weiterhin und „dennoch“ Teil am Schicksal oppositioneller Freunde und Kollegen wie Jürgen Fuchs, Utz Rachowski, Bettina Wegner und Thomas Brasch.

Der preussische Ikarus und Nazimethoden

Sein legendäres Kölner Konzert im November 1976 erinnert Biermann in einem eigenständigen Kapitel. Überschrieben ist es mit  Der preussische Ikarus, einem Song, den Biermann im Sommer 1976 verfasst und der wenige Monate später den Abschluss seines Kölner Konzertes bildet. Im Vorfeld, als er die Ausreisegenehmigung für sein Kölner Konzert erhalten hatte, diskutiert er mit engen Freunden, u.a. mit Havemann, durchaus die Gefahr, dass die DDR-Herrschenden ihn nicht mehr einreisen lassen könnten. Havemann hält das für höchst unwahrscheinlich. Als er drei Tage später bei seiner Fahrt zu einem Auftritt im Radio von seiner Ausbürgerung erfährt ist er einfach nur noch fassungslos. Biermann spürt seine Entwurzelung: „Ich war fassungslos. Und auch ratlos. Ich hoffte, die DDR-Führung würde sich besinnen und mich doch wieder reinlassen. (…) Solche Methoden waren  Nazi-Methoden. Ich war im tiefsten Sinne des Wortes ent-täuscht.“ (S. 333)

Dieses abgrundtiefe Entsetzen zeigt seine seinerzeit weiterhin existierende Identifikation mit einer Grundorientierung, gemäß dem „der Kommunismus“ durchaus möglich sein müsse. Er hat sogleich ein Netz von Prominenten – Böll, Wallraff, einflussreiche Journalisten etc. – um sich die seinen Neubeginn im Westen entschieden erleichterten.

Der Prozess in der DDR nach dessen Ausbürgerung, in dessen Folge sich, zu seiner eigenen Überraschung, letztlich etwa 100 DDR-Kulturschaffende öffentlich für Biermann aussprachen – von denen Viele wenig später gleichfalls die DDR verließen bzw. verlassen mussten – wird detailreich beschrieben, wie auch das Netz von Westdeutschen, die ihn unmittelbar danach im Auftrag der DDR observieren. Das bekannteste Beispiel ist Dehm (vgl. S. 475f.), über den man lieber erst gar nicht schreiben sollte – solche Abgründe des politischen und moralischen Grauens, die bis heute fortbestehen, öffnen sich…

Biermann hebt im Rückblick hervor: „Meine Ausbürgerung erschütterte das ganze Land. Die Neuigkeiten aus dem Osten verblüfften uns alle.“ (S. 33) Erst Jahrzehnte später, nach dem Ende der DDR und der Öffnung der Akten, verstand er dass seine Ausbürgerung von den DDR-Herrschenden schon lange beschlossen worden war. Sie wollten Biermann loswerden, egal was dies politisch koste.

Der „In-die-Heimat-Vertriebene“ – diese galante Formulierung stammte von Heinrich Böll – braucht Jahre, um sich innerlich von der DDR und von der Illusion eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu verabschieden, wie er in aufrichtiger, heiterer Weise beschreibt: „Es dauerte Jahre, bis ich im Westen wirklich angekommen war.“ (S. 345)

In den ersten Jahren beteiligt er sich in der Bundesrepublik noch an den „üblichen“ linken Bewegungen und Parolen, insbesondere gegen FJ Strauß, schreibt entsprechende Gedichte und Songs. „Was für ein Agitprop-Schrott! Was für ein hochmütiger Stumpfsinn! (S. 356) resümiert er 40 Jahre später. Es waren innere und politische Weiterentwicklungen, die die Schar seiner linken Kritiker in der Bundesrepublik erhöhte und deren Wut auf den „Renegaten“ Biermann verstärkte.

1982: Der Tod Robert Havemanns

Den Tod seines Freundes Robert Havemanns im Jahr 1982 beschreibt Wolf Biermann eindrücklich, der Schmerz des Verlustes bleibt beim Lesen spürbar. Immerhin gestatteten ihm die DDR-Behörden einen Abschiedsbesuch an dessen Sterbebett. Ein Besuch beim französischen „Renegaten“ Manès Sperber, der entillusioniert wie nur Wenige bereits in den 1930er Jahren in radikaler Weise mit dem Kommunismus gebrochen hatte, erleichtert ihm seinen eigenen schmerzhaften Entillusionierungs- und Trennungsprozess. Schrittweise wird ihm bewusst, dass seine seelische Anhänglichkeit an die DDR vor allem seiner „Kinderliebe zu meinem ewigen jungen Vater“ geschuldet war (S. 377). Diesem widerständigen kommunistischen Vater, dessen Leben 1943 in Auschwitz geendet hatte, blieb er über Jahrzehnte innerlich schuldbeladen verbunden. Dessen Auschwitz-Asche bleibt in ihm, klopft an sein Herz, rührt sein Schuldgefühl. Die Asche von Auschwitz hatte jedoch nichts mit der Realität der DDR zu tun. Von seinem kommunistischen Kinderglauben vermochte er sich über Jahrzehnte nicht zu trennen. Manès Sperbers vehementen Einwände leiten diesen Trennungs- und Reifungsprozesse ein.

Ballade von den verdorbenen Greisen

Biermanns Ballade von den verdorbenen Greisen, seine persönliche Abrechnung mit DDR-Oberen wie Krenz, Hager, Mielke, von Schnitzler und Honecker, welche er erstmals im Dezember 1989 in Leipzig vorträgt und die sehr umjubelt wurde, gehört gewiss zu seinen lakonisch-fröhlichsten Abrechnungen mit den ideologisch verblendeten Peinigern, die nun Greise geworden sind…

Seine Ballade beginnt in dieser Weise:

„Hey Krenz, du fröhlicher kalter Krieger
Ich glaube dir nichts, kein einziges Wort
Du hast ja die Panzer in Peking bejubelt
Ich sah dein Gebiss beim Massenmord“.

Biermann, der seine Stasiakten gelesen hat, plädiert nun, nach dem Scheitern der stalinistischen Greise, nicht für Rache, für Abrechnung, indem er singt:

„Wir wollen dich nicht ins Verderben stürzen
du bist schon verdorben genug
Nicht Rache, nein, Rente!
im Wandlitzer Ghetto
und Friede deinem letzen Atemzug“

Annäherung an Eretz Israel

An die Stelle der Versuchung nach Rache tritt – hiermit überspringe ich mehrere Buchkapitel – seine Annäherung an Israel und an die jüdische Widerstandsgeschichte. Seine zwei Jahre beanspruchenden Übersetzungen der Werke des großen jüdischen Dichters Jizchak Katzenelson in lyrische deutsche Worte erfüllen ihn mit einem Gefühl der Sinnhaftigkeit.

In sehr persönlichen Worten beschreibt er seine Reise nach Israel, zu dem Kibbuz der Warschauer Ghettokämpfer im Kibbuz Lochamej und seine Treffen mit Uri Aloni und Simcha Stein. Biermann beschreibt diese Annäherung an Israel in dieser Weise:

„Nach dem Gesetz der Juden, der Halacha, bin ich überhaupt kein Jude. Und religiös bin ich schon gar nicht. Doch der lebendige Stoffwechsel mit all diesen Juden hat mich im allerbesten Sinne mehr und mehr „verjudet“. Mir war, als würden diese Menschen das nachliefern, was mir meine ermordete jüdische Familie in Hamburg nicht hatte liefern können – egal mit oder ohne Gott: die Kultur der Jüdischkajt.“ (S. 492)

Mit ausgelöst wurde dies durch den 1991er Golfkrieg und das Erschrecken Vieler über die Gefühllosigkeit und Ignoranz, in der gerade viele „Linke“ terroristische Angriffe gegen Israel teils bejubelten, auf jeden Fall entschuldeten – aber zugleich die israelische Gegenwehr als unverhältnismäßig, wenn nicht sogar terroristisch brandmarkten. Biermann, zutiefst erregt – so schreibt er selbst – „haute einen Artikel raus“ (457), der in der ZEIT erschien und mit dem er eine eindeutige Scheidung von “fortschrittlichen“ deutschen Friedensfreunden in unmissverständlichen Worten zelebriert: „Bindet euer Palästinensertuch fester, wir sind geschiedene Leute.“ (S. 457) Daraufhin bekommt er „Kriegskörbe voll Post“ (S. 458), findet mit dem Soziologen Gunnar Heinsohn, Klaus von Münchhausen und Magnus Enzensberger jedoch auch neue Weg- und Kampfgefährten.

Als Folge hiervon erhält Biermann jedoch auch etliche Einladungen nach Israel. 1990 fliegt er erstmals nach Eretz Israel, das rasch zu seiner neuen, zweiten seelischen Heimat wird: „Dieser Besuch hat unser Leben verändert. Das Land war stärker und lebendiger, westeuropäischer und arabischer, als ich erwartet hatte. Seither fliegen wir jedes Jahr zu unseren Freunden dort.“ (S. 460)

Intensiviert wurde diese enge Beziehung noch durch seinen Sohn Felix Eliyah, der gemeinsam mit seiner Frau Jenny zum Judentum konvertiert und nach Israel übersiedelt.

In sehr persönlicher Weise berichtet er auch detailreich über seine Zusammenarbeit mit Arno Lustiger, dem Chronisten des jüdischen Widerstandes, den er sich zu einer „jüdischen Wahlverwandtschaft“ wählt. Überschrieben hat er dieses Buchkapitel mit Ich bleibe, was ich immer war: halb Judenbalg und halb Goj (S. 487ff).

Ein guter Renegat und treuer Verräter

In seinem imposanten, leicht zu lesenden, niemals langweilig werdenden Buch, insbesondere auch in seinem letzten Buchkapitel – Nur wer sich ändert, bleibt sich treu – legt er eine versöhnliche Bilanz vor: Er genießt die Auszeichnungen – 2006 wird er zum Berliner Ehrenbürger ernannt – , sein zehntes Kind, sucht die verschollenen familiären Gräber auf, freut sich, dass sein Vater, „der Kommunist Dagobert „Israel“ Biermann“ einen Sohn hat, „der Lieder und Gedichte geschrieben hat, die an ihn erinnern.“

Er mag seine verbliebene Lebensenergie nicht mehr im Streit „mit den falschen Genossen“ (S. 526) verplempern sondern genießt seinen „Bruch mit der Illusion Kommunismus“ (ebd.). Nun ist er aus Überzeugung ein guter Renegat und treuer Verräter.

In seinem abschließenden Gedicht Heimweh spricht er von der „heilen Heimat Utopie“ die er verloren habe: „Dafür und ganz kaputt die halbe Welt gewonnen / Als Kommunistenketzer ward ich neu geboren / Als Mann erst ist mein Kinderglaube mir zerronnen.“ (S. 527)

Wolf Biermann (2016): Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiografie, Propyläen Ullstein Verlag, 544 S., 16,99 Euro, Bestellen?

Literatur

Kaufhold, R. (2021): „Es kriecht noch heute die Scham in mir hoch“. Stella Leders familiäre Autobiografie, in: haGalil, 23.12.2021: https://www.hagalil.com/2021/12/stella-leder/

Kaufhold, R. & G. Hristeva: „Das Leben ist aus. Abrechnung halten!“ Eine Erinnerung an vertriebene jüdische Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen, in: Psychoanalyse im Widerspruch Nr. 66: Vernichtung, Verschwörung, Verleugnung Nr. 66, 2021, Heft 2, S. 7-66; eine sehr stark gekürzte Version findet sich auf haGalil 3/2022:  https://www.hagalil.com/2022/03/vertriebene-juedische-psychoanalytiker/

Der Artikel erschien bereits auf Hagalil

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nussknacker56
nussknacker56
1 Jahr zuvor

Danke für den Beitrag. Macht ziemlich viel Lust, Biermanns Autobiografie zu lesen. Von „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ bis „Als Mann erst ist mein Kinderglaube mir zerronnen“ – Biermann hat eine Menge schöner Texte geschrieben.

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