Warum die AfD in Deutschlands ärmster Stadt nicht das Problem ist!

Läuft nicht wirklich in Gelsenkirchen Foto: Michael Voregger

Über rechte Kulturkämpfe und die Probleme einer armen Stadt. Vor einigen Wochen kursierte in den sozialen Medien die Meldung, dass die AfD in Gelsenkirchen einen Stimmenanteil von über 30 Prozent erreicht habe. Das wurde von vielen noch als Spekulation ohne Grundlage abgetan. Inzwischen liegt die Partei in Umfragen für NRW bei 15 Prozent, das wäre eine Verdreifachung des Ergebnisses der Landtagswahl 2022, bei der sie mit 5,2 Prozent nur knapp den Einzug ins Parlament schaffte. In Gelsenkirchen wählten damals knapp 11 Prozent die AfD. Bei einer Verdreifachung wären das mehr als 30 Prozent. Schon heute ist die Stadt die Hochburg der AfD im Westen. Eine aktuelle Umfrage des Erfurter Meinungsforschungsinstituts INSA bestätigt nun die vermeintliche Spekulation. Demnach würde der Bundestagsabgeordnete Markus Töns (SPD) sein Direktmandat im Wahlkreis 123 an die AfD verlieren.

In diesem Text soll es nicht um eine Partei gehen, die keine Lösungen für die Probleme der ärmsten Stadt Deutschlands anbietet, nicht um den geführten Kulturkampf, nicht um die fehlende Klimapolitik und auch nicht um die fehlende Präsenz im Alltag der hier lebenden Menschen. Es wird auch nicht darum gehen, dass eine demokratisch gewählte Partei nicht demokratisch sein muss. Es wird darum gehen, warum so viele Wählerinnen und Wähler trotzdem ihr Kreuz bei dieser Partei machen oder es sich überlegen.

Die Menschen in den bürgerlichen Stadtteilen hatten schon zu Beginn der Regierungszeit von Oberbürgermeisterin Karin Welge (SPD) und der Gelsenkirchener GroKo nicht mehr viel Vertrauen in die Kommunalpolitik. Verfolgt man die Gespräche in den Stadtteilen und die Postings in der digitalen Welt, ist das bisschen Vertrauen inzwischen komplett aufgebraucht. Das Entsetzen über die Handlungsunfähigkeit der Verantwortlichen wird zur vorherrschenden Haltung: „Vertrauen verschwindet nicht von heute auf morgen. Es wird strapaziert wie ein starkes Tau, das erst porös wird und schließlich reißt“, schreibt die „Zeit“-Redakteurin Anita Blasberg in ihrem Buch „Der Verlust“. Dazu haben die politischen Eliten in Stadt und Land beigetragen.

Was jetzt die bürgerlichen Schichten erreicht, haben Geringverdiener und Haushalte, die von staatlichen Transferleistungen leben, längst hinter sich. Das Vertrauen in den Gestaltungswillen der Politik ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Das zeigt auch das Ergebnis der letzten Oberbürgermeisterwahl in Gelsenkirchen mit einer Wahlbeteiligung von 41,5 Prozent. Oberbürgermeisterin Karin Welge erhielt rund 30.000 Stimmen. Bezogen auf die Zahl der Wahlberechtigten entspricht dies einem Stimmenanteil von knapp 15 Prozent. Die erste Bürgerin der Stadt hat bisher zu wenig getan, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Die Probleme sind unübersehbar und jedem, der sehen will, bekannt: Armut, Arbeitslosigkeit, Armutszuwanderung, Bürgerbeteiligung, Bildungsarmut, dysfunktionale Verwaltung, soziale Brennpunkte, Kriminalität, Leerstand, Lehrermangel, Müll, Politik mit der Abrissbirne, Schrottimmobilien, Sanierungsstau, Schulabbrecher, Verschuldung und Verelendung.

Das Drama begann mit der rot-grünen Agenda-Politik und der Einführung von Hartz IV im Jahr 2003. Die Politik des „Förderns und Forderns“ hätte in einer so von Arbeitslosigkeit gebeutelten Region wunderbar funktionieren müssen. Das Gegenteil war der Fall. Die Agenda hat die Stadtgesellschaft nachhaltig zerstört und viele Stadtteile in die Verelendung getrieben. Das hat der SPD in der Folgezeit geschadet und die Partei hat sich von diesem sozialen Kahlschlag bis heute nicht wirklich erholt. Die Grünen kamen glimpflich davon, weil ihre Wählerschaft nicht betroffen war und Sozialpolitik nicht zu ihren Kernthemen gehört. Allen Beteiligten hätte klar sein müssen, dass die gezielte Schaffung des größten Niedriglohnsektors Europas, die Durchsetzung von Hartz IV und die Einführung von Minijobs Armut fördern.

Heute leben 50 Prozent der Gelsenkirchener Kinder in Armut. Das ist lange bekannt und daran hat auch die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung in Stadt und Land nichts geändert. In einigen Stadtteilen muss man die dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen schon als Verelendung bezeichnen. Die Stadt hat kein Geld und ist mit rund 1,7 Milliarden Euro verschuldet. Für große Maßnahmen bleibt da nicht viel übrig. Daran hat auch die Regierungsbeteiligung der Genossen in NRW und im Bund nichts geändert. Eine Übernahme der kommunalen Schulden wurde immer wieder angekündigt, passiert ist bis heute nichts. Verstärkt wird der Vertrauensverlust durch die ignorante Politik auf Bundesebene: „Nach innen war die deutsche Politik der letzten Jahrzehnte industriehörig, nach außen ist nicht nur die SPD vor Autokraten wie Putin und Xi Jing Ping eingeknickt“, kritisiert der Historiker Stefan Grönebaum. „Entgegen allen Sonntagsreden waren Bildung, Digitalisierung, Agrar-, Energie- und Verkehrswende, der globale Süden, grüne Technologien, Klimaschutz nur Randthemen.“ Die 16 Jahre mit der „schwäbischen Hausfrau“ Angela Merkel seien verlorene Jahre gewesen. Die soziale Spaltung der Gesellschaft und die Interessen der Wirtschaft seien vorangetrieben worden.

Die Zukunftskoalition an der Spitze der Bundesregierung hat das in sie gesetzte Vertrauen bereits verspielt. Die Grünen sind aus den sozialen Bewegungen der Republik hervorgegangen und inzwischen im parlamentarischen System angekommen. Getragen werden sie vom akademischen Bildungsbürgertum in den Städten, die sogenannten „kleinen Leute“ gehören nicht zu ihrer Zielgruppe. So ist auch zu erklären, dass die „Realos“ an der Parteispitze die sozialen Probleme des Landes in der Gesetzgebung pragmatisch ignorieren. Die Begeisterung der Hauptstadtmedien über die „neue und frische“ Kommunikationsstrategie von Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte nur eine kurze Halbwertszeit. Die Grünen wirken strategisch schlecht aufgestellt und in vielen Bereichen fehlt es auch an Konzepten. „Die Unzufriedenheit der sogenannten kleinen Leute, die jetzt für die Folgeschäden und Kosten jahrzehntelanger Versäumnisse bezahlen sollen, ist vorprogrammiert“, sagt Grönebaum. „Und damit wohl auch das Versagen der politischen Eliten wie der weitere Aufstieg der Populisten.“ In den Stadtteilen macht sich Enttäuschung darüber breit, dass die Probleme der Stadt jahrzehntelang ignoriert und nicht benannt wurden. Inzwischen gibt es so viele Baustellen, dass man leicht den Überblick verliert. Doch in einem Punkt treffen sich die Erwartungen der Gelsenkirchener, unabhängig von sozialem Status und Herkunft. Es ist die Bildung der Kinder. Seit jeher gilt, dass Aufstieg durch Bildung dem Einzelnen und der Gesellschaft eine bessere Zukunft ermöglicht. Die sozialen Voraussetzungen in den Familien sind so unterschiedlich, dass die Chancen immer ungleicher verteilt sind. Selbst Kinder mit hoher Bildungsmotivation werden durch marode Schulen und einen überdurchschnittlichen Lehrermangel ausgebremst. Es gibt nicht viele Gründe für Pädagogen, in Gelsenkirchen zu arbeiten. Die unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen können nicht ausgeglichen werden.

Bereits 2017 hat sich der Soziologe Wilhelm Heitmeyer mit der Situation im Ruhrgebiet und dem Aufstieg der Rechtspopulisten beschäftigt. Er führte von 2002 bis 2012 eine Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ durch. Seine Empfehlung an die Politik war damals eindeutig: „Es muss sichtbare Veränderungen geben, gerade in den Stadtteilen von Gelsenkirchen, Duisburg oder im Essener Norden. Das müssen sichtbare Investitionen sein, wie die Sanierung von Schulen und so weiter. Das muss sichtbar sein und darf nicht nur in irgendwelchen nebulösen Versprechungen enden. Die Quartiere müssen entlastet werden. Aber ich muss sagen, da habe ich wenig Hoffnung“.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form schon im Stadtmagazin isso erschienen.

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vormals SvG
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1 Jahr zuvor

@ Autor: In Ihrer Aufzählung stimmt m.M. etwas nicht: Die hohe Kinderarmut ist bedingt durch die Armutseinwanderung sowie der illegalen Immigration. Diese wirken dann uA in die Schulen hinein. Wenn ich z.B. eine Klasse mit 90prozentigem Ausländeranteil, vielen Schülern ohne oder nur mit geringen Deutschkenntnissen unterrichen sollte; dazu Respektlosigkeit, Gewalt, Frauenfeindlichkeit, Drohungen von Schülern und deren Eltern in meinem -vielleicht sogar- Traumberuf erleben müßte, würde ich auch woanders hingehen. Ansonsten gehe ich mit Ihnen mit. Viele Bürger wählen die AfD oder überlegen dies zu tun, weil die veröffentlichte Meinung und die Darstellung der BRD durch die Politik wenig bis nichts mit der Wirklichkeit gemein haben. Alles ist geregelt, aber nichts funktioniert. Dem Schutz der Fledermäuse an der Ramedetalbrücke z.B. wird Vorrang vor dem Schutz der Bürger vor krankmachendem Verkehr,Lärm und schelchter Luft eingeräumt. Nur ein Beispiel von tausenden, die in der Summe die Bürger an diesem Staat verzweifeln lassen,

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