Wann werden die Menschen in Russland gegen Vladimir Putin aufbegehren? Unter anderem dieser Frage ist die „Nowaja Gaseta Europe“ in einem großen Interview mit einem intimen Kenner der russischen Politik nachgegangen. Sie hat mit Abbas Galliamow gesprochen, der drei Jahre lang Redenschreiber von Putin war und heute als politischer Analyst die russische Seele erklärt.
Laut Galliamow habe die russische Elite durch Krieg und Sanktionen zwar viel verloren, sie habe aber weiterhin Angst vor dem Machthaber: „Zwei Jahrzehnte lang haben sie zugesehen, wie Putin seine Feinde massakriert hat. Sie haben sich daran gewöhnt, dass Putin stark ist und immer gewinnt.“ Diese Angst sei in der Tat der einzige Grund für die Loyalität der Eliten. Sie würden derzeit warten, und zwar so lange, bis sie dass das Risiko für akzeptabel halten, bis sie eine Chance auf Erfolg sehen. Stabilität und Vorhersehbarkeit seien schließlich die beiden einzigen Gründe, die Eliten einem Herrscher gegenüber loyal machen: „Bislang galt die eiserne Regel: Halte dich an die von Putin aufgestellten Spielregeln, und alles wird gut. Aber die positive Grundlage der Loyalität ist völlig verloren gegangen. Alles, was blieb, war die Angst.“
Galliamow betont aber auch, dass die Eliten es nicht schaffen würden, sich vernünftig zu organisieren. In Küchengesprächen, in kleinen Runden würden sie Putin bereits als „verrückt“ bezeichnen.
Der wichtigste Faktor für den Erfolg in der Politik sei nicht die Quantität, sondern die Fähigkeit, sich zu organisieren und geschlossen zu handeln. Eine gut organisierte Minderheit werde fast immer eine unorganisierte Mehrheit schlagen. Galliamow ist überzeugt davon, dass die Eliten auch deshalb keine Ahnung von Politik haben, weil sie sich nie intensiv mit Politik beschäftigen mussten. Alles wurde ihnen abgenommen, sie mussten sich einzig um die Prosperität ihrer Firmen kümmern.
In Unternehmen sei die Hierarchie klar – hier der Chef, dort der Mitarbeiter: „Aber die Organisation einer politischen Koalition erfordert Dialogfähigkeit. Horizontal, nicht vertikal. Sie müssen in der Lage sein, die Interessen Ihres Partners zu respektieren. Und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten.“ Die russischen Eliten seien heute mit amerikanischen Raubrittern am Ende des neunzehnten Jahrhunderts vergleichbar: „Und es ist doch klar, dass ein unmoralischer Mensch andere der Unmoral verdächtigt. Aus diesem Grund vertrauen sie einander nicht besonders. Sie argumentieren in etwa so: Ich mag nicht glücklich sein, mein Nachbar mag auch nicht glücklich sein, aber ich weiß genau, dass er, wenn er es für vorteilhaft hält, gehen und mich aufgeben wird.“
Galliamow glaubt, dass das Murren in der Gesellschaft vor den Wahlen 2024 beginnen könnte: „Die Aussicht, dass Putin weitere Jahre das Land führt, kann die Gesellschaft zum Explodieren bringen.“ Für die Eliten wäre dann die Zeit gekommen, sich gegen Putin zu stellen: „Wie nehmen die Eliten die Tatsache wahr, dass es dem Amtsinhaber nicht gelungen ist, ruhig und überzeugend und ohne Protest wiedergewählt zu werden? Als seine Schwächung. Nun, da der Feind geschwächt ist, kann er versuchen, anzugreifen.“
Der Russland-Experte vertraut dabei den Oligarchen der 1990er Jahre: „Schließlich sind diese Menschen unabhängig. Sie alle sind irgendwann einmal Risiken eingegangen, haben viele Kriege mitgemacht und waren im Allgemeinen einmal vollwertige politische Subjekte. Deripaska, Fridman, Khan, Potanin sind allesamt Kämpfer, im Gegensatz zu Putins Generation“, so Galliamow. Die Oligarchen aus Putins Generation seien meist Opportunisten, die sich nur mit Kusshand aus einem Job herauswinden können: „Zwar sind die Oligarchen aus den 90er Jahren offensichtlich zu fett und wahrscheinlich zu nichts mehr fähig, aber es ist nicht auszuschließen, dass eine kritische Situation sie zwingt, sich an ihre Jugend zu erinnern. Dann werden sie auch politisch handlungsfähig sein.“
Aber welche Stimmung herrscht heute in Russland? Wenn man sich an die Umfragen vor dem Krieg erinnere, werde man feststellen, dass es seit mehreren Jahren keine sichere Mehrheit an der Macht gibt: „In den vergangenen Jahren war das Verhältnis in etwa so: etwas mehr als ein Drittel der Wähler ist loyal, etwas mehr als ein Drittel ist oppositionell, und der Rest ist unentschlossen oder unpolitisch. Die Entscheidung über den Sieg wird davon abhängen, in welche Richtung die Unentschlossenen schwanken. Diese Unentschlossenen haben sich also in den letzten Jahren im Durchschnitt immer mehr der Opposition zugeneigt. Sie waren noch nicht bereit, einen radikalen Protest zu unterstützen, aber im Allgemeinen wurden sie immer weniger loyal“, ist Galliamow überzeugt.
Genau das sei der Grund, warum Putin den Krieg brauchte. Um das langsame Abgleiten in die Opposition zu stoppen, habe er einen militärischen Kontext geschaffen und versuche, alle Unzufriedenen als Kollaborateure des Feindes darzustellen: „Es ist, als ob Putin die Unentschlossenen zu einer Entscheidung zwingt, damit sie sich auf seine Seite schlagen. Er möchte, dass die neutralen Bürgerinnen und Bürger jetzt entscheiden, bevor ihre Proteste so stark sind, dass sie sich endgültig in die Reihen der Opposition einreihen.“ Putin versuche jetzt wie ein Feuerwehrmann das „Feuer mit einem Gegenfeuer“ zu stoppen.
Die Bewertungen Putins weisen eine interessante Regelmäßigkeit auf: Seine Werte beginnen zu steigen, wenn es einen Feind gibt und Putin diesen Feind mutig bekämpft: „Diese Legitimität eines militärischen Anführers ist eine sehr alte Sache, im Grunde uralt. Die Zustimmung für Putin begann 2010 zu sinken.“ Damals habe es keine Feinde im eigentlichen Sinne gegeben, die Situation war friedlich. „Medwedew wollte die Beziehungen zu Obama wiederherstellen und hier dort etwas verbessern. In dieser Situation begann Putin irgendwie überflüssig zu erscheinen. Wirtschaftliche Erfolge waren nicht erkennbar, es gab Probleme mit dem Lebensstandard. Das war der Zeitpunkt, an dem Putins Ansehen zu sinken begann.“
Rechtzeitig vor den Wahlen in Russland solle nun ein Feindbild geschaffen werden, deshalb der Krieg gegen die Ukraine: „Jetzt tauchte der bekannte Kontext wieder auf: Es gibt einen Feind und Putin ist ein militärischer Führer, der ihn bekämpft. In dieser Situation erkennen die Zauderer, die zu denken begannen, dass Putin bereits der Vergangenheit angehört, dass sie sich geirrt haben. Er scheint wieder einmal der Situation gewachsen zu sein: Er hat nicht gezögert, er zieht in die Schlacht. Und die Wankelmütigen kehren zu ihm zurück.“
Wer auch die Wankelmütigen, die Frauen und Männer, die immer noch zaudern, von Veränderung im Staat überzeugen möchte, müsse es geschickt anstellen: „Es muss so aussehen, als ob die Menschen gegen das Fehlverhalten der Behörden protestieren, aber nicht versuchen, die Behörden zu stürzen. Damit der Unentschlossene nicht das Gefühl hat, die Oppositionellen würden ihn am Nacken packen und rufen: „Entscheide dich“ oder „Mach mit“.“
Für Galliamow ist „dieses Regime ist nicht haltbar. Sie hat eine zu klare Trennlinie gezogen: Auf der einen Seite der Barrikaden stehen Menschen mit Subjektivität, Mut, Initiative und Widerstandsfähigkeit, auf der anderen Seite überwiegend Opportunisten und, im wahrsten Sinne des Wortes, Feiglinge.“
Und was ist mit dem russischen Militär? „Die Militärs hätten einen sehr starken Grund für ihren Unmut: Ihnen wurde ein leichter Sieg versprochen, aber in Wirklichkeit wurden sie in einen mörderischen Fleischwolf geworfen. Generell könnten die Militärs jetzt beruhigt sagen: „Putin hat einen politischen Fehler gemacht, er hat sich verkalkuliert, er hat uns als Parade hingeschickt, dadurch sind wir in einen Krieg hineingezogen worden, auf den wir nicht vorbereitet sind.“ Im Allgemeinen würden sie alles auf Putin und die Tschekisten, die Geheimpolizei, schieben: „Sie haben diese Menschen schon immer nicht gemocht.“
Alles in allem sei ein neuer Faktor in unserer Politik aufgetaucht: „Jemand muss jetzt für das Scheitern verantwortlich gemacht werden. Dies ist ein starker Riss, der zum ersten Mal in den Beziehungen zwischen den Sicherheitsdiensten und der Armee auf der einen Seite und der politischen Führung auf der anderen Seite entstanden ist. Wenn wir also über die Handlungsmöglichkeiten der Eliten sprechen, müssen nicht nur die Wirtschaft und die zivilen Verwaltungsstrukturen bewertet werden, sondern auch die Geheimdienste und das Militär.“
Galliamow ist überzeugt: „Putins Lebenswerk ist in sich zusammengebrochen und sein Bild von der Welt ist zerbröckelt. In einer solchen Situation kann sich jede Krankheit verschlimmern, wir wissen, wie gefährlich Stress ist, und Putin ist kein Junge, er wird in drei Monaten siebzig. Deshalb ist eine Revolution zu erwarten, ein Militärputsch.“