Es ist schon eine eigenartige Idee, in einem Spiel mit einer ausgedachten Figur in einer ausgedachten Welt nach festen Regeln Abenteuer zu erleben. So zu tun, als sei man wirklich dort, so zu handeln, als wäre man ein anderer. Man denkte selten darüber nach, aber so funktioniert heute die Mehrheit der Computer- und Videospiele. Ein lernfähiger Spielercharakter, eine virtuelle Welt und eine Simulation nach klaren Regeln – das macht „World of Warcraft“, aber auch „Grand Theft Auto V“ aus. Von unserem Gastautor Konrad Lischka.
Dieses Spielkonzept stammt aber nicht aus Computerspielen, es geht auf „Dungeons & Dragons“ (D&D) zurück, ein so genanntes Pen&Paper-Rollenspiel. Es ist höchste Zeit, sich die Geschichte dieser Spiele genauer anzuschauen, denn ohne sie würden Computerspiele und Onlinedienste heute wohl ganz anders aussehen.
D&D erschien 1974 und war der Beginn eines weltweiten Phänomens, einer ganzen Industrie mit hunderten Rollenspielsystemen. Diese heute etwas in Vergessenheit geratenen Spiele verliefen völlig analog: Ein paar Leute saßen an einem Tisch, der Spielleiter war ihr Computer. Er moderierte die Spiel, er wandte die Regeln an. Jeder Spieler verkörperte eine Figur, sprach als er oder sie, sprang, kämpfte oder schwamm durch die Fantasiewelt. Der Spielcharakter existierte auf einem Blatt Papier. Würfel entschieden, ob ein Spieler mit seinen Handlungen erfolgreich war oder nicht. Schaffte er den waghalsigen Sprung? Das hing von seinem Geschick ab (steht auf dem Charakterbogen), von den Wahrscheinlichkeiten (stehen im Regelbuch) und ein wenig auch vom Glück (dem Würfelwurf).
Nach diesem Prinzip spielten Mitte der siebziger Jahre zunächst ein paar Nerds im Großraum Chicago Abenteuer in virtuellen Welten.
Und die Computerspiele. Die gab es bereits, aber sie sahen zu dieser Zeit völlig anders aus. Mit der ersten Heimkonsole spielte man ab 1972 Tennis, Tischtennis oder Hockey. Am ersten Arcade-Spielautomaten „Computer Space“ schoss man sich seit 1971 durchs Weltall.
Erst nachdem „Dungeons & Dragons“ 1974 auf den Markt gekommen war, entwarfen Studenten an US-Unis (anderswo gab es kaum Computer) völlig andere Spiele: In “Pedit4”, “dnd”, “orthanc”, “Adventure” und anderen frühen Computerspielen streift der Spieler mit einem Avatar durch Verliese und Höhlen. 1978 erschienen die beiden ersten Onlinespiele überhaupt, das amerikanische „Scepter of Goth“ und das britische „MUD“. In beiden durchwanderen mehrere Spieler dieselbe Welt voller Magie, Monster und Schätze. Sie spielen Diebe, Krieger oder Paladine.
Diese frühen Computerspiele waren direkt von D&D beeinflusst. Man erkennt es an Namen wie “dnd” und am Design. Bei „MUD“ und „Scepter of Goth“ waren mehrere Spieler zusammen in derselben Spielwelt unterwegs, ähnlich wie bei „World of Warcraft“ heute. Woher kam diese Idee 1978, Zu einer Zeit, da es kaum Computerspiele gab? Natürlich aus D&D-Rollenspielrunden.
Am Küchentisch hatte die erste Generation der Gamedesigner erlebt, wie großartig es sein kann, mit mehreren Menschen gemeinsam dieselbe virtuelle Realität zu erleben. Und diese Erfahrung setzten sie zunehmend auf dem Computer um: Bei „Scepter of Goth“ konnten Ende der Siebzigerjahre bis zu 16 Spieler gleichzeitig in einer Instanz spielen, sie mussten sich dazu bei einem der Rechner einwählen, auf denen das Spiel lief. Und auch im Internet-Vorläufer Arpanet liefen bereits Online-Rollenspiele. US-Studenten wählten sich darüber jenseits des Atlantiks beim britischen “MUD” ein.
Mehrere Generationen von Computerspiel-Designern sind mit Pen&Paper-Rollenspielen groß geworden. Sie haben viele digitale Spielmechanismen aus den analogen Regelbüchern übernommen. Zwei Beispiele:
Erfahrungspunkte: In D&D war Spielercharakteren eine klare Laufbahn vorgegeben. Wer Abenteuer absolviert, wird vom Spielleiter mit Punkten belohnt. Hat man genug Punkte beisammen, steigt die Figur eine Stufe auf und wird mächtiger. Ein Kämpfer richtet mehr Schaden bei Angriffen an, ein Magier kann sich mehr Zauber merken. Dieser Punkte-und-Stufen-Mechanik bedienen sich heute selbst die banalsten Facebook-Spiele wie „Bubblewitch Saga“ oder „Farmville“, aber auch Online-Dienste wie Foursquare und Fitbit. Seit ein paar Jahren nennen Experten für sogenannte Gamification (Menschen durch Spielmechanismen zu bestimmten Verhalten bringen), „World of Warcraft“ als das Beispiel schlechthin für solche Aufstiegssysteme.
Kulturhistorisch betrachtet ist das falsch: All diese Konzepte stammen aus P&P-Rollenspielen, vor allem aus D&D.
Schadenspunkte: Vor „Dungeons & Dragons“ erspielte man sich Highscores und ein paar zusätzliche Spielminuten am Arcade-Automaten. Die Raumschiffe hatten Leben, Trefferpunkte gab es nicht. Das kam erst mit D&D: Angriffe mit Waffen verursachen eine quantifizierte Schadensmenge. Die Figur ist nicht sofort hinüber, sie kann etwas einstecken. Computerspiele wurden durch die Idee der Schadenpunkte komplexer: „Doom“ spielt man anders als frühe Actiontitel wie „Pac-Man“. Man wägt ab, wie viel die Figur noch vertragen kann, wie schnell man weiterkommt, ob man jetzt schon einen Verbandskasten einsetzen sollte. Durch Trefferpunkte werden Egoshooter taktischer.
Schaut man sich die Geschichte der Pen&Paper-Rollenspiele genauer an, tauchen viele solcher Verbindungen auf. Die D&D-Erfindern verwoben 1974 Entwicklungen aus Gesellschaftsspielen und aus der Literatur zu einem völlig neuen Spielprinzip. Ihre Ideen gehen bis auf preußische Militärspiele des 19. Jahrhunderts und die Pulp-Magazine der Zwnazigerjahre zurück.
Der Einfluss der Rollenspiele auf unsere Welt ist mit den Jahren eher größer als kleiner geworden. Heute nutzen hunderte Millionen Menschen Onlinedienste und Spiele, in denen die Mechanismen der Pen&Paper-Rollenspiele weiterleben. Noch nie war ihre Bedeutung so groß, auch wenn ironischerweise kaum jemand mehr etwas über den Ursprung von Levelsystemen, Schadenspunkten und Charakterklassen weiß.
Das Buch “Drachenväter: Die Geschichte des Rollenspiels und die Geburt der virtuellen Welt“ von Konrad Lischka und Tom Hillenbrand ist ein Crowdfunding-Projekt. Wenn genug Unterstützer zusammenkommen, wird ein prächtiges Buch mit vielen Illustrationen aus 40 Jahren Rollenspielgesichte gestaltet und gedruckt. Unterstützen und vorbestellen lässt es sich auf Startnext: http://www.startnext.de/drache
Ich bin dabei. Das will ich lesen. 🙂
Trivialer und inhaltlich inkorrekter Beitrag. Der DM/GM/Spielleiter wendet „die Regeln“ nicht nur an, sondern er muss auch Regelungen für Fälle finden, in denen es keine Regeln gibt, und wer sich auch nur annähernd mit D&D und OD&D auskennt, der weiss, dass es eben nicht für alles vorgefertigte Regeln geben kann.
Nebenbei: Ihr hättet erwähnen können, dass MUD die Kurzform für MultiUserDungeon ist.
Danke für den Beitrag!
So in Vergessenheit geraten sind sie aber noch gar nicht. Was Pen&Paper-Rollenspiele Computerspielen nach wie vor vorraus haben, ist dass ein (guter) menschlicher Spieleleiter wesentlich flexibler und kreativer auf Spielerentscheidungen reagieren kann, als ein Computer. Während selbst anspruchsvolle Computer-Rollenspiele nur eine handvoll vorbestimmter Lösungsweg anbieten, kann ein Spieleleiter auf spontane und von den Spielern selbst erdachte Entscheidungen reagieren.
[…] (Der Text erschien zuerst bei den Ruhrbaronen) […]