Die Kultur des Trotzdem.
Als ich in der Kultstadt Wanne-Eickel, mitten im tiefsten Ruhrgebiet, in den 60gern das einzige Gymnasium für mehr als 100.000 Menschen besuchte, wurde mir im Geografieunterricht mein Heimatort als „Stadt der 1000 Züge“ präsentiert. Ich war tief beeindruckt, denn es sollten 1000 pro Tag gewesen sein. Mindestens ein ganzer Zug alle 1,5 Minuten und das 24 Stunden lang.
Dass es nicht weniger als der Anzahl von sage und schreibe 3000 Menschen bedurfte nur um den Bahnhof meiner Stadt in Gang zu halten, war da nicht verwunderlich. Das Problem war nur, dass das keinen interessierte, der nicht in unserer Stadt lebte. Den Grund begriff ich, als ich auf Nachfragen erfuhr, dass sich der allergrößte Teil dieser Züge aus Güterwagen zusammensetzte die mit nichts als Kohle gefüllt waren.
Später hörte ich, dass den Schülern der Nachbargemeinde Gelsenkirchen ihre Heimat als die „Stadt der 1000 Feuer“ vorgestellt wurde, die im harten chemischen Kern aber nichts anderes als ihre 10 Mal Hundertfache Vergiftung bedeuteten. Mein Vater kommentierte solche Zahlen mit dem damals wie heute typischen Ruhrgebietshumor: Wer es hier schafft zu überleben, der schafft es überall. Welch herrlich böse Anspielung auf die Stadt, die schon zu seiner Jugendzeit weltweit und unbestritten als das galt, was seine und meine Heimat heute endlich auch sein möchte: eine Metropole.
Seine Worte wurde in den frühen Achtzigern auch wissenschaftlich verifiziert, als der erste deutsche Krebsatlas veröffentlich wurde. Die diesbezügliche Sterblichkeitsrate war zu dieser Zeit im Ruhrgebiet über das Doppelte so hoch als der Spitzenwert in allen anderen Gegenden Deutschlands und viel größer als in allen anderen ähnlich großen Ballungsräumen Europas. Zu der Zeit als mein Vater seinen ersten Metropolenvergleich wagte, war die relative Sterblichkeit sicher noch viel bedrohlicher. Was blieb den Menschen im Ruhrgebiet da Anderes übrig als diese Kultur des Trotzdem, die Kultur der großen Zahl, das Ausspielen der Quantität gegenüber der Qualität.
Die Magie der großen Zahl
Produktionsquantität gegen Lebensqualität, physisches Aus- und Durchhalten gegen ästhetisches Innehalten, das waren Gegensätze die schon im Ursprung dieser Industrieregion angelegt waren. Der Mensch als Restgröße der Produktion war unter den gegebenen Bedingungen nur dadurch in der Lage (s)eine räumliche Identität zu entfalten, ja überhaupt nur zu bilden, in dem er sich ihre enorme ökonomische und materielle Leistung zumindest zahlenmäßig aneignete. Sie sich selbst als Individuum und als Kollektiv im wahrsten Sinne des Wortes zurechnete. Nicht zuletzt auch weil der eigene gesellschaftlicher Wert im Wesentlichen danach bestimmt wurde. Die riesige Zahl derer, die in dieser Region ausgebeutet wurden, spiegelte sich so noch einmal im Selbstbild der großen Stückzahlen ihrer produktiven Leistung, auf die zugleich die ganze Nation angewiesen war.
Die regionalen Repräsentanten in Politik und Kultur neigen auch heute, wo sich die durchschnittliche Lebensqualität im Ruhrgebiet enorm gesteigert hat, ja die Qualitätsfrage als solche zunehmend in die Köpfe seiner Bewohner dringt, noch immer in der Mehrheit dazu, auch diese in Stückzahlen auszudrücken. Wer so viel Einwohner und so viel Quadratkilometer an Fläche wie das Ruhrgebiet hat, der kann nach ihrer Ansicht schon allein deswegen den Titel Metropole beanspruchen. Jetzt sind es aber nicht mehr die Produktions- sondern die Reproduktionszahlen aus Kultur und Freizeit die dadurch Furore machen, dass man sie als reine Menge der Veranstaltungsstätten für alle Ruhrstädte zusammenaddiert , um locker und wahlweise klassische Weltstädte wie London oder Paris überflügeln zu können.
Die Trotzdem Metropole
Dahinter aber lugt immer noch die alte Kultur des Trotzdem hervor. Wenn uns trotz dieser eindeutigen Zahlenbeweise keiner von sich aus Metropole nennt, dann bezeichnen wir uns eben selber so, in dem wir diesen Begriff sozusagen als Vornamen erfinden. Wieder taucht ein abgewandelter New York Vergleich auf. Nicht so sarkastisch und bodenständig wie der meines Vaters sondern im luftig lockeren Marketingsprech der Kulturhauptstadt 2010 der da lautete „Was hier geht, geht überall“. Dabei war das meiste was in Ruhr 2010 „gegangen“ ist nicht von hier. Auch nicht die Mehrzahl der Leute die es produziert, kuratiert, und sonst wie ans Licht der Welt gebracht haben.
Das muss nicht schädlich sein. Im Gegenteil. Weltstädtisch ist es aber auf keinen Fall. Metropolen setzen und kreieren Trends, sie kopieren sie nicht. Was bei ihnen geht, geht deswegen keineswegs überall. Wo es bei ihnen noch Publikum gibt, das die Produktion zumindest im Off-Bereich ohne Subventionen finanzierbar macht, gibt es woanders nur fast bis ganz leere Säle. Ausreichende öffentliche materielle Unterstützung gibt es auch nicht sondern das schlichte Nichtexistieren bzw. vor sich Dahinvegetieren bestimmter innovativer, zumindest aber nicht am Mainstream orientierter Veranstaltungen und Veranstalter. Die Totalsubvention einiger woanders schon anerkannter avantgardistischer Highlights ist dabei nur die Kehrseite der gleichen Medaille und beides gibt es in der selbsternannten Metropole Ruhr zu Hauf.
So herum betrachtet ist die Aussage „was hier geht, geht überall“ bei näherer Betrachtung, und ganz gegen die dahinter stehenden Vermarktungsabsichten, erschreckend wahr. Man muss nur die Aussagefolge umkehren: Was überall geht, das geht auch hier. Korrekter, nur was überall geht. Aber wer will sich in meiner Heimat schon mit solchen Dekonstruktionsergebnissen der Lila-Laune-Sprüche von hochbezahlten Wortdrechslern anfreunden. Außer denen, die täglich mit diesem Ruhr-Dilemma als Kulturmachende und -veranstalter konfrontiert sind. Die die wirklichen Zahlen kennen. Die betrüblich kleinen nämlich hinter den selbstgefälligen großen. Die, auf deren Quantität man nicht stolz sein kann.
Die Marketingzahl als Autosuggestion
Um diese zu vergessen oder besser zu verdrängen, gibt es für die Öffentlichkeit als kompensatorischen Ersatz die sogenannten Marketingzahlen. Eine Art unternehmerische Kultur der selbst erfundenen oder gefälschten großen Zahl. Was früher im Ruhrgebiet wahrhaft groß war, geradezu, wenn man die Umweltfolgen mit betrachtet, von erschreckend realer Gigantomanie, wird heute in ebenso gigantomanischer Weise schlicht erlogen. Eine Art postmoderne Form der Kultur des Trotzdem. Wenn nicht genug zu unseren Veranstaltungen kommen, dann behaupten wir das einfach. Oder wir verramschen die Karten so günstig, dass man unsere Angebote als Schnäppchen einfach mitnehmen muss.
Natürlich musste am Ende der Kulturhauptstadt die höchste Besucherzahl aller bisherigen Austragungsorte stehen. Natürlich hatten schon bei den nicht mit einer Katstrophe endenden Loveparades im Ruhrgebiet die Raver zahlenmäßig die Millionengrenze locker gesprengt. Obwohl jeder der die Veranstaltungsorte vom Augenschein her kannte, wusste, dass diese Zahlen absolut unmöglich waren. Aus dem Prinzip der möglichst hohen realen Zahl durch gemeinsame Anstrengung ist das Prinzip der unmöglichen Zahl durch gemeinsamen Selbstbetrug geworden. Vom real überwältigenden Industriegebiet zur Metropole als Selbstüberwältigung. Zur Metropole als Autosuggestion, als selbst erfundene Superzahl.
Dispersion und Provinz als Realität
Dabei ist das Ruhrgebiet nachwievor überwältigend. Überwältigend groß, überwältigend vielfältig, überwältigend multikulturell, und vor Allem überwältigend dezentral und dispers. Diese hochkomplexe Ausgedehntheit, ja Überdehntheit räumlich zu bewältigen ist beim aktuellen Zustand des öffentlichen und privaten Nahverkehrs dagegen eine permanente Sisyphusaufgabe. Sowie ihre touristische Vermarktung, die bei realistischer Betrachtung eigentlich unmöglich ist. Dispersion-City liegt nämlich nicht direkt am Meer, verfügt nicht reihenweise und kompakt über tausendjähriges und zugleich geschichtsträchtiges Gemäuer, besitzt nach massiver Kriegszerstörung und ihrer eiligen städtebaulichen Ausbesserung kaum Altstadtgassen, hat keine klassische Hochhausskyline und keine weltberühmte Brücke, ist nie Hauptstadt gewesen und wird auch nie eine werden. Ja sie hat nicht einmal in sich selbst ein großes allüberragendes Zentrum.
Die Ruhrgebiet verfügt also als Stadt nicht oder nur sehr begrenzt über das, was zum Standard der Reichen, Schönen und Mächtigen gehört? Nicht dass es hier auch im herkömmlichen Sinne schöne Orte gibt. Reichlich sogar. Aber sie kommen selten im Zusammenhang zur Wirkung, verstecken sich oft im nie endenden Straßen-, Häuser und Landschaftsge- und verwirr. Was Karl Ganser einmal für sein Verhältnis zu diese Ballungsraum treffend als Liebe auf den zweiten Blick bezeichnet hat, ist in einer Dekade des allgemeinen medialen Aufmerksamkeitskrieges, in der kaum Zeit für den ersten Blick bleibt, nur bedingt hilfreich. Erst recht wenn dieser weltweit hervorgerufen werden soll.
Die Selbstpräsentation dieser Stadt tut das Ihrige dazu, denn sie ist bis in die Knochen provinziell. Nicht das die Provinz auch ihre guten Seiten hat, die sich obendrein exzellent und sogar international vermarkten lassen. Im Ruhrgebiet sammelt und verdichtet sich jedoch, was die Außenwirkung betrifft, personell und organisatorisch mehrheitlich ihre engstirnige Seite. Nicht dass es hier, wenn auch eher vereinzelt, äußerst kluge, ja weltgewandte Bürgermeister und Dezernenten gibt, oder hochbegabte politische und journalistische Rhetoren oder Kulturschaffende von Weltrang. Von den unternehmerischen Globalplayern, von denen es nur in der Ruhrstadt Essen mehr gibt als im gesamten Großraum Berlin, ganz zu schweigen.
Das Konzert aller Kräfte hat es, trotz Kulturhauptstadt 2010, in Ermangelung eines dazu fähigen und zugleich charismatischen Dirigenten jedoch nur zu angestrengtem Mittelmaß gebracht. Der Kommunalverband Ruhr ist, trotz der erneuten Stärkung durch die Landesregierung immer noch ein Schatten dessen, was er einmal war: Ein starker Zusammenschluss aller Ruhrgebietsgemeinden. Die Städte selbst, fast alle verschuldet bis an und über den Stehkragen, sind immer noch versessen auf eine kommunale Planungs- und Verwaltungshoheit der mittlerweile jede materielle Basis abhanden gekommen ist.
Woody Allen und die Ruhrstadt
Wo also wäre das Vorbild zu suchen, dass in einer solchen Situation Orientierung bieten könnte. Eine andere Stadt oder städtische Agglomeration kann es kaum sein, denn als solche ist das Ruhrgebiet weltweit einmalig. Leitlinien für den weiteren systematischen Selbst- und Fremdbetrug gäbe es zwar, zumindest methodisch, beim Stadtmarketing zu holen, aber Potemkin soll ja in die Verbannung geschickt werden. Bleiben also als Vorbild nicht Orte, sondern Menschen die in ihrer natürlich gegebenen Ausstattung nicht zu den Schönen aber trotzdem oder gerade deswegen zu den Erfolgreichen gehören. Davon gibt es gar nicht mal so wenige, aber da es um Aufmerksamkeit und das heißt heute um Medialität geht, wäre eine Person aus der Filmbranche von besonderem Interesse. Am besten eine, die sowohl Schauspieler als auch Drehbuchschreiber als auch Regisseur ist.
Mir fällt da, nicht um diesem Menschen wegen seines Äußeren Übel zu wollen, sondern weil er mir als menschliche Bezugsgröße geradezu ideal für das Ruhrgebiet erscheint, eigentlich nur Woody Allen ein. Er hat als Vorbild obendrein den Vorteil, dass ihn fast alle Leser dieser Zeilen kennen. Nicht persönlich sondern eben in seiner hier relevanten Dreifaltigkeit von Ideengeber, Konstrukteur und Ausführender eines der wichtigsten Produkte unserer Zeit, dem Film. Und genau darum geht es mir im Folgenden: um einen neuen Film vom und mit und über das Ruhrgebiet.
Wobei in naher Zukunft für dieses Produkt auch das Gesetz der äußerst knappen Budgets gelten wird. Alles zusammen passt auf den frühen Woody Allen, und die beiden Fragen, die er sich damals beantworten musste sind die gleichen, die sich endlich auch das Ruhrgebiet stellen sollte: Welche kulturellen Produkte respektive Filme produziert man, wenn man kein Geld und so gut wie keine Superstars hat und trotzdem als Regisseur gegen Hollywood antreten will. In welchen Filmen spielt man mit, wenn man auf den ersten Blick so aussieht wie Woody Allen in seinen jungen Jahren und was bzw. wen verkörpert man darin um trotzdem weltweit Anklang zu finden?
Das Woody Allen Prinzip als alternative Marketingstrategie
Schauen wir uns die erste Filmgeneration dieses genialen Mannes an, die die Basis seines späteren weltweiten Erfolges darstellen, zu denen eben auch schon international Bestseller wie „Manhattan“, „Mach´s noch einmal Sam“ usw. gehörten, und die er alle in seiner Heimatstadt gedreht hat. Nicht nur, aber vor allem: um Geld zu sparen. Deswegen ist er auch selbst der Regisseur und einer der Hauptdarsteller. Die anderen sind (noch) keine Stars. Frei nach dem Motto Teddy Roosevelts während der Zeit der großen Krise und des New Deals: Do what you can, where you are, with what you have! Einen Satz, den sich das Ruhrgebiet schon seit längerem auf die Fahnen hätt schreiben sollen.
Es gibt aber noch einen anderen mindestens so wichtigen Grund für diese Vorgehensweise. Woody Allen versuchte erst gar nicht Hollywood zu toppen sondern setzte und setzt immer noch gegen die bis heute unübertroffenen Meister des schönen Scheins von Anfang an auf sich selbst, d.h. auf Authentizität und geradezu gnadenlose Offenbarung der eigenen Mängel. Frei nach der anarchistischen Parole. Du hast keine Chance, also nutze sie. Er setzt gegen den systematischen Fake auf die weltweite Glaubwürdigkeit menschlicher Schwächen und des diesbezüglichen Humors, die er zu Anfang seiner Karriere beide bis zum Irrwitz als Schauspieler auch selbst verkörperte.
Bis heute kosten Woody Allen Filme in der Regel nicht mehr als eine einzige Explosionsszene in Bruce Willis Filmen. Aber mittlerweile haben auch Superstars mit dem gleichen Bekanntheitsgrad wie eben dieser Willis in seinen Filmen mitgespielt bzw. würden sie es gerne tun. Was also macht die offensichtlich enorme, wenn auch nicht massenhafte Attraktivität eines typischen Woody Allen Films für Zuschauer und Schauspieler aus? Und was könnte das Ruhrgebiet daraus lernen?
Was das Ruhrgebiet von Woody Allen lernen könnte
Ich bin kein Film- und Theaterwissenschaftler. Trotzdem glaube ich, dass die folgende Elemente bis heute eine wesentliche Rolle in seinen Werken spielen:
- Der Plot und nicht die Ausstattung ist entscheidend.
- Selbst das Tragische ist immer auch komisch, wenn nicht sogar idiotisch.
- Intellektualität und Intelligenz sind kein Grund zur Überlegenheit sondern immer Teil vergeblicher Selbstüberschätzung.
- Selbstüberschätzung und Selbstmitleid sind zwei Seiten der gleichen Art sich lächerlich zu machen.
- Es gibt keine Siege sondern einen ewigen Wettlauf um Platz 2-3 und niedriger.
- Das Absurde ist genauso Teil des Alltags wie das Banale.
- Die überzeugendste Form der Selbstkritik ist die Selbstironie und die Fähigkeit über sich selbst lachen zu können.
Über alledem liegen zwei unausgesprochene, aber doch in allen Elementen sich widerspiegelnder Leitsprüche, die wohl auch das emotionale und geistige Selbstbild des Regisseurs bestimmen:
- Das Spektakuläre und spannende liegt nicht in der Größe und Breite sondern in der Tiefe.
- Wer nicht stark und schön ist, hat die heilige Pflicht wenigstens intelligent und witzig zu sein.
Ruhr 2011 – Es wird höchste Zeit für die Wahrheit
Mit der Umsetzung dieser beiden Leitsätze könnte und sollte das Ruhrgebiet sofort anfangen. Denn gerade 2011 ist das Jahr, das sich hervorragend dafür eignet. Es ist der Beginn eines neuen Jahrzehnts, direkt gelegen nach einem Jahr in dem Erfolg und Selbstbetrug oft ganz nahe beieinander lagen. Es liegt 9 Jahre vor dem als nächste anvisierten Marketing-Großereignis, das den ominösen Namen Expo tragen soll und mit Sicherheit was mit dem Klimawandel zu tun haben wird. D.H. 10 Jahre ohne medial verschärften Zwang am laufenden Band weltweit Erfolgsmeldungen liefern zu müssen. Zeit also der Wahrheit Raum zu geben, Zeit die echten Zahlen zu nennen. Auch zu Ruhr 2010. Und zuerst und vor allem zur Lage der Schulden und Verbindlichkeiten.
Aufbruchsstimmung lässt sich damit aus dem Stehgreif nicht erzeugen. Das ist aber auch gar nicht nötig. Dauernde Euphorie ist auch klinisch eher ein Krankheitsbild als Zeichen von Gesundheit. Stattdessen geht es um eine neue Form der Selbstsuggestion. Dass man es nämlich aus einer schwierigen Lage nur dann heraus schaffen kann, wenn man sie genau kennt. Wenn man weiß wie schlimm es wirklich ist. Welche Mängel und Schwächen man beheben und über welche man sich nur unverfroren lustig machen kann. Welche zur eigenen unveränderbaren Identität gehören und welche einen daran hindern eine neue zu finden bzw. sie zu verändern.
Erst auf dieser Basis werden Stärken zu Kraftzentren anstatt zum Ausgangspunkt für die für Kenner schnell durchsichtige Kraftmeierei. Auf diesem Boden werden Zahlen wieder zur echten Maßstäben und aussagekräftigen Vergleichsgrößen, egal wie niedrig oder hoch sie sind. Zumindest für einen selbst. Im Übrigen würde Zollverein nicht dadurch weniger beeindruckend sein, dass die Gegend in der es sich befindet nicht mehr Metropole heißt oder besser sich so nennt. Die Besucherzahlen werden sehr wahrscheinlich die gleichen bleiben.
Wieder das ängstliche Setzen auf die sichere Bank
Die Anwendung des Woody Allen Prinzip heißt aber auch die Menschen, Organisationen und Veranstalter zu fördern die im Ruhrgebiet immer schon nach diesem Produktions- und Vermarktungssystem vorgehen. Nicht nur aus Not sondern auch aus Überzeugung und mit Erfolg. Als Künstler steht dafür wohl niemand mehr und zugleich prototypischer als Helge Schneider. Aber auch im nicht künstlerischen Bereich gibt es Modellpersonen und Firmen die hier bislang viel zu wenig Aufmerksamkeit und öffentliche Unterstützung gefunden haben.
Das ängstliche Setzen auf die sichere Bank ist im Ruhrgebiet nachwievor dominant. Es kombiniert sich bestens mit der Magie der großen Zahl bzw. mit den großen Summen die man bereit ist dafür auszugeben während man selbst kleinste Geldmengen für riskante Dinge scheut. Sowohl von privater als auch von staatlicher Seite. Sprich, Woody Allen hätte bis heute in seinen Anfängen im Ruhrgebiet niemals eine öffentliche Subvention noch privates Sponsorengeld bekommen bzw. erst dann, wenn er es nicht mehr gebraucht hätte.
Das heißt nicht, dass das Ruhrgebiet auf die große Zahle völlig verzichten sollte. Dass es nicht auch weiterhin große Nummer zu stemmen versuchen sollte. Das Ruhrgebiet ist einfach zu groß, als dass es darauf gänzlich verzichten könnte. Noch nicht wieder an ökonomischer Kraft und Dynamik aber immer noch, was seine schiere Ausdehnung und Menschenansammlung und seine kulturelle Potenz betrifft. Es sollte nicht nur deswegen auch weiter große Ambitionen haben. So wie sie auch Woody Allen immer hatte und sie in den Filmen der letzten Jahre auch im tragischen Fach bewiesen hat.
Die Magie der großen Zahl vom Kopf auf die Füße stellen
Das Stillleben A40 während Ruhr 2010 z.B. hatte zwar nichts mit Kunst, sehr wohl aber etwas mit eben dieser Magie der großen Zahl zu tun. Sie bedurfte dabei auch nicht ihrer Erfindung in Form reiner Marketingzauberei sondern einfach nur eines Flugzeugs, das den Event von oben dokumentierte, um die Strahlkraft der puren Menschenmenge und -dichte zu erzeugen, die einer sehr großen Stadt würdig ist. Verbunden mit der plastisch dargestellten Selbstironie, dass sich im Ruhrgebiet der größte Platz nicht im historischen Zentrum sondern auf einem Highway befindet. Dass die lineare Straße, also der Weg und nicht das Ziel das zentrale Medium der hiesigen Urbanität ist.
Wie bedauernswert für die Romantiker der alten europäischen Stadt. Wie interessant für Menschen, die offen für neue Formen urbanen Lebens sind. Wie identitätsstiftend für die Bewohner des Ruhrgebietes die immer schon wussten, dass sie in Wahrheit in einer Millionenstadt wohnen. Auch wenn sie meistens wie ein nie endendes Dorf aussieht und von dutzenden von Bürgermeistern regiert wird, die sich auch entsprechend verhalten anstatt endlich ein Ruhrparlament einzuführen bzw. zuzulassen, dass alle diese Menschen präsentiert und vor allem von ihnen auch direkt gewählt werden kann.
Nur so könnte die alte Tonnenideologie, die Kultur der großen Zahl endlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Wir sind viele und die Welt kann das ruhig wissen, weil wie uns auf die reine Menge nichts mehr einbilden. Nichts dagegen, wenn uns Leute von außen deswegen Metropole nennen. Wir selbst werden es auf jeden Fall nicht mehr tun. Stattdessen wollen wir die spannendste Provinz der Welt werden. Unter dem machen wir es einfach nicht.
Der Text erschien in ähnlicher Form in dem Buch:
„PHÖNIX FLIEG! – Das Ruhrgebiet entdeckt sich neu“
24,95 Euro, Klartext Verlag, Essen
Disclaimer: Mit Arnold Voss und mir sind zwei Autoren dieses Blogs mit zusammen drei Beiträgen in dem Buch vertreten.
Hallo Herr Voß. Das einzige Gymnasium für mehr als 100.000 Menschen in Wanne-Eickel? Haben Sie vielleicht den weiblichen Anteil an der Bevölkerung vergessen? Ich war ungefähr zu dieser Zeit auf dem Jungengymnasium in Wanne-Eickel und parallel dazu gab es auch noch das Mädchengymnasium an der Gerichtsstraße. Oder habe ich da was falsch verstanden? Kann ja sein, im Alter vergisst man ja leicht etwas …..
Hallo Martin, heute ist die Koedukation Standard. Die jüngeren Leser können sich in der Mehrzahl gar nicht mehr vorstellen, dass das mal anders war. Und da ich den Text Ende 2010 geschrieben habe, habe ich sozusagen aus zwei nichtkoedukativen Gymnasien ein koedukatives gemacht. Es gab aus heutiger Sicht faktisch nur 1! Gymnasium für 100.000 ! Einwohner. Und das genau wollte ich deutlich machen.
Den Text hätte diese Erklärung nur zusätzlich kompliziert und da ich keine unbegrenzte Zeilenzahl zur Verfügung hatte, er war ja für ein Buchprojekt mit sage und schreibe 99 Autoren, habe ich mir diese Vereinfachung erlaubt.
Um mein Langzeitgedächtnis müssen sie sich also keine Sorgen machen. Es funktioniert nachwievor perfekt. Trotzdem danke für ihren Hinweis.
Großartiger Text. M.E. Pflichtlektüre für alle in den politischen Parteien, die sich mit hiesiger Kommunalpolitik befassen bzw. ihres Aufstiegs wegen befassen müssen.
[…] Arnold Voss schlägt in einem aktuellen Artikel bei den Ruhrbaronen eine neue Identität für das Ruhrgebiet vor. Sein Ansatz folgt nicht etwa dem herkömlichen Weg eines Vergleichs mit anderen Regionen. Nein, er befreit sich vom raumplanerisch gelernten Werkzeug der konventionellen Leitbild-Erstellung und sucht Antworten im Vergleich anderer Menschen und der personifizierten Ruhrstadt. Das Ruhrgebiet als Woody Allen! Fernab von Illusionen der großen Zahl und mit dem Motto des New Deals: “Do what you can, where you are, with what you have!” Arnold Voss zeigt auf großartige Weise auf, wie dieses seltsam klingende Beispiel funktionieren kann. Hier ein kleiner Ausschnitt des sehr lesenswerten Aritkels: […]
[…] Was das Ruhrgebiet von Woody Allen lernen könnte (Ruhrbarone) – […]
Langweiliger Artikel, hat weder Esprit noch Verve, Schade.