Zunächst: Alex W. ist ein Mörder, und zwar einer mit rassistischem und kulturalistischem Hintergrund. Nun beginnt der Prozess gegen diesen Mann, der vor knapp vier Monaten in einem hiesigen Gerichtssaal Marwa El Sherbini mit einem Messer getötet hat, vor den Augen ihres dreijährigen Kindes, sie im dritten Monat schwanger. Die Dresdenerin hatte ihn verklagt, weil er sie unflätig beschimpft hatte. Ihr Mann wurde direkt nach der Tat von einem Polizisten angeschossen. Nun berichtet die deutsche Presse – auf rassistische Weise?
Der Verdacht keimt bei der Lektüre der WAZ auf. In der letzten Woche hatte ich hier eher beiläufig, aber keinesfalls unernst, über die Probleme unrassistischer Berichterstattung über (potentiell) rassistisch motivierte Aktionen und Texte geschrieben. Nun also folgende Zuschreibung für Alex W.: "Russlanddeutscher". In der Süddeutschen dieselbe Formulierung, aber auch "der aus Russland stammende Deutsche". Ich frage einen älteren Herrn am Nebentisch, was ein "Russlanddeutscher" sei. Er sagt: "Na, das kennt man doch von den Sudetendeutschen (mag sein dass das hier auch in Anführungszeichen gehört – Anm. d. V.). Das sind Deutsche, die in Russland leben." Ich verstehe was er meint, er meint Russen mit deutschem Migrationshintergrund, man könnte auch deutschlandstämmige Russen dazu sagen. ("Ethnisch deutsche bzw. deutschstämmige Minderheit in Russland" sagt das Online-Standardlexikon.)
Nun ist es offenbar schwierig, gerade für Begriffe einfach mal übernehmende Journalist/innen, bei der Beschreibung von Rassismus nicht in selbigen zu verfallen, zumindest sprachlich. Denn was besagt "Russlanddeutscher"? Es sagt "in erster Linie deutsch, in zweiter russisch". (Beispiel: Eine Beutelratte ist eine Ratte und kein Beutel.) Aber gibt es Texasdeutsche? Japandeutsche? Man will es gar nicht erwähnen, stammt die Bezeichnung doch ganz klar aus Zeiten eines Expansionsdranges nach Osten, durchaus auch einfach durch Migration – wie auch in Teilen meiner Familie. Meine verstorbene Großmutter mütterlicherseits würde ich z.B. als "Russlanddeutsche" bezeichnen, aber nicht weil ihre Vorfahren zum Teil aus Deutschland kamen, sondern weil sie (die meiste Zeit ihres Lebens) eine aus Russland stammende Frau mit deutschem Pass war. Wahrscheinlich ist sie also ein "ähnlicher Fall" wie Alex W.
Meine Großmutter hatte z.B. keine doppelte Staatsangehörigkeit. Auch so etwas ist ja denkbar. Denn wenn jemand "Russlanddeutscher" (nach Lexikondefinition) ist und gleichzeitig "aus Russland stammender Deutscher" (also anscheinend Deutscher mit russischem Migrationshintergrund), dann wäre diese Person laut Süddeutscher beides. Leider hat diesen Artikel eine Frau mit zur Hälfte deutschem und zur anderen Hälfte ägyptischem Namen geschrieben, in der taz übrigens ein Mensch mit rein ägyptischem Namen, hier findet sich der Begriff "deutsch-russisch". Die Frage stellt sich also immer wieder und auch für mich: Wie Rassismus richtig begegnen, auch sprachlich, wenn über ihn verhandelt wird – ohne ihn zu übernehmen.
Alex W. steht vor einem Gericht Deutschlands (nicht Russlands – und auch nicht Ägyptens). Es heißt, Rassismus sei hier geächtet – auch wenn eine solche Tat in einem Gerichtssaal voller nicht oder falsch einschreitender Menschen möglich ist. Und auch obwohl der Polizist, der ohne Grund auf Marwa El Sherninis Mann schoss, kaum mehr Thema ist. Deutschland sollte vielleicht besser aufpassen, seine Überheblichkeit in Bezug auf Menschenrechte und Fortschrittlichkeit nicht schon in seiner Sprache als rein taktisches Manöver zu entlarven. In Ägypten würde dieser aus Russland stammende Deutsche, dessen Vorfahren einen deutschen Migrationshintergrund hatten, für seine Tat womöglich am Strick aufgehangen. Seine letzten Worte vor der Tat im Gerichtsaal waren übrigens: "Haben Sie überhaupt ein Recht in Deutschland zu sein? Sie haben hier nichts zu suchen! (…) Wenn die NPD an die Macht kommt ist damit Schluss. Ich habe NPD gewählt." Dann stürzte er sich auf die schwangere Frau und versetzte ihr 18 Stiche in einer halben Minute. Prozessbeginn ist heute, die Medien werden weiterhin berichten, zum Glück auch außerhalb Deutschlands. (Illustration: jumedia)
„…Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. bekennt sich zur „Charta der Deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950.
Sie versteht sich seit ihrer Gründung als Interessenvertretung, Hilfsorganisation und Kulturverein aller Russlanddeutschen in der ganzen Welt…“
(siehe: https://www.deutscheausrussland.de/ziele.htm )
Auf der erwähnten net-Seite wird auch an anderen Stellen der Begriff Russlanddeutsche genannt. Der Verein heißt allerdings „Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.“, s.o..
Wenn es für diese Mitbürger ein problematischer Begriff wäre, dann würde man doch selbst wohl den Gebrauch des Begriffes vermeiden. Oder?
„Alex W. ist ein Mörder“
Angeklagter wäre der passende Begriff.
@Angelika: Ich sehe es halt als Problem, dass diese völkischen Definitionen für viele kein Problem sind. Sie sind sozusagen Ausdruck mangelnder Integration, dabei Identitäts stiftend und folgen eben traditionellen Bildern von Rasse und nicht Staatsangehörigkeit. (Wobei ich Staatsangehörigkeit auch nicht hoch hänge; dies zur Beschreibung der Herkunft und des Lebensmittelpunktes von Menschen – und ihren Vorfahren – zu benutzen, ist halt das kleinere Übel.)
@Micha: Ich dachte mir schon, dass der Vorwurf einer „Vorverurteilung“ kommen wird. Ich persönlich sehe aber keinen anderen Täter und auch keinen Selbstmord. Möge der Rest des Artikels darüber nicht untergehn. Danke.
@Jens: Russlanddeutscher ist keine Rasse – der Satz erklrt die Herkunft die ist bei einigen Delikten ein durchaus interessante Information. „Russlanddeutscjer fährt U-Bahn ohne zu zahlen“ ist blöd, „Russlanddeutscher ermordert aus rassistischen Gründen Ägypterin“ ist eine relevante Information. Ohne die Herkunftsangaben wäre die Geschichte: „Mann bringt Frau um“ – und da fehlen dann doch ein paar Infos (Wobei: Mann/Frau – ist da nicht sexistisch Sollte man nicht „Menschen bringt Menschen“ um schreiben) Stopp: Das ist ist Homozentristisch) Ich habe es: Wesen tötet Wesen. Ach, PC ist schon kompliziert…
@Stefan:
Na klar, meine Frage ist ja auch, was uns diese Information eigentlich über Deutschland, Russland und die Medien und Sprache in (u.a.) Deutschland sagt. Wenn jemand mit völkischen Vokabeln gegen Rassismus vorgehen will, dann ist das ganz klar unzureichend. DASS ein völkisch orientierter Mensch seine Taten (also die Beleidigungen und den Mord) nicht an für ihn zu seiner „Rasse“ zugehörigen Menschen verübt hätte, das ist halt ein Ergebnis genau dieser Art von Kultur. Und Kultur spiegelt sich in Sprache wieder und hat Einfluss gerade durch diejenigen, die Diskurs und politische Kultur bestimmen. Dass diese Einsicht mal als „PC“ verunglimpft wurde (und sich dieser Backlash nahezu durchgesetzt hat), das sagt auch etwas über diese „demokratische“ Diskurskultur. Nämlich: Wirkt liberal, funktioniert aber oft einfach nur sozialdarwinistisch.
In Klammern: Da braucht sich auch die Webcommunity bitte nichts vormachen. Sie kommt aus derselben geistigen Schule – auch in der Art, wie sie Tradiertes und Strukturen zum Großteil unhinterfragt übernimmt. Aber das ist ein anderes Thema, Verzeihung. Dies hier oben ist so ein typischer Mediawatching/“reale Hintergründe bitte nicht vergessen!“-Artikel.
PC? Ich finde es erschreckend, wie sorglos manche Schubladen von Journalist/innen zementiert werden, anstatt sie aufzulösen. Ob Mann/Frau und arm/wohlhabend bei der Tat z.B. auch eine Rolle gespielt haben, das ist dann auch schwierig öffentlich zu verhandeln, ohne gleichzeitig die klassischen -ismen (auf Seite der Lesenden) zu bestärken. Es gibt ja für viele Lesarten die verschiedensten Medien, gern auch sortiert nach Spezialinteressen. Aber Sorgfalt beim Schreiben und ein Überprüfen der (eigenen) Sprache sind derzeit überhaupt nicht en vogue, ich weiß.
Abschließend: Es dürfen all diese Spezialdiskurse nicht vom Eigentlichen ablenken, einem letztlich rassistisch motivierten Mord. Es mag aber Sinn machen, hin und wieder klar zu stellen, was Rassismus eigentlich bedeutet und dass er in vielerlei Formen existiert.
Passend dazu:
https://www.spiegel.de/spiegel/vorab/0,1518,657102,00.html
„In einer einstündigen Audiobotschaft legt Scheich Ihab Adli Abu al-Madschd in Deutschland lebenden Muslimen nahe, den Angeklagten von Marwa zu töten und stellt dafür Gottes Lohn in Aussicht.“
https://www.sz-online.de/nachrichten/artikel.asp?id=2296850
Interessant:
„Die Ägypterin Marwa El-Sherbini und ihr Ehemann Elwy Okaz (linkes Foto) wurden am 1. Juli im Dresdner Landgericht Opfer einer Hassattacke. Dabei erstach ein 28-jähriger Spätaussiedler die Frau und verletzte ihren Mann schwer.“
War ihr Mann denn nicht von einem Justizbeamten angeschossen worden?
Oder sucht man jetzt den Universal-Sündenbock?
Universalsündenbock? IMHO wurde al-Schirbini zuerst von W. verletzt, als er versuchte, seine Frau zu beschützen, _danach_ wurde er durch den Polizisten angeschossen. Zwei Tatbestände, zwei Verfahren. Im akuellen Verfahren spielt die Fahrlässigkeit des Polizisten keine Rolle, also nix mit „Universalsündenbock“.
@Jens:
Du wirfst der Presse Rassismus vor, hälst dich aber selbst – aus persönlichen Gründen – nicht an allseits annerkannte Regeln.
„Ein Spätaussiedler aus Rußland“(u.a. die SZ), kommt der Sache des PC nahe. Und wird irgendwann vom „Zuwanderer aus …“ geläufige Redensart, dann ist der Rassismus, den das alte Staatsbürgerrecht in sich trug, das Recht, welches die Staatsbürgerschaft nicht über das Land der Geburt, sondern über das „Blut“ bestimmte, das „Jus Sanguinis“, überwunden sein.
Ist der „Rassismus geächtet“? Richtig ist, er ist vorhanden, wird aber zum einen als nicht existent bezeichnet und zum anderen bei Bedarf bedient. Ächtung des Rassismus würde bedeuten, daß von Roland Koch über Jürgen Rüttgers bis hin zu Thilo Sarrazin, die ganzen kleinen und größeren Rassisten nicht bedient würden. Oder, wie es der konservative Journalist Don Jordan im Falle Möllemann formulierte: „Es gibt in den USA Rassisten in allen Schichten. Leidet aber ein Mann des öffentlichen Lebens am antisemitischen Mundgeruch und belästigt damit die Bürger, dann ist er politisch tot“.
wenn mich nicht alles täuscht, stammt der Angeklagte, aber aus Tadschikistan, warum wird er dann als „Russlanddeutscher“ bezeichnet.
Ich habe noch nie in der Zeitung bei den Totenanzeigen, gelesen, Herr XY (88), geboren in Nazideutschland ist gestern verstorben….
Es ist auch erstaunlich wie die Medien da manipulieren, ist ja nicht das erstemal, es wurden auch oft genug Weissrussen, als Russen ausgegeben, einfach nur aus Dummheit? oder steckt doch absicht dahinter?
@Nachfrager:
Ich kann mich ja irren, aber für mich liegt Perm immer noch in Russland und diese Stadt ist IMHO der Herkunftsort von W.
Woher also die Information, er sei Tadschike (wenn das mit dem Einwand gemeint gewesen sein sollte)?
Es ist auch keine Dummheit, wenn ein „Weissrusse“ mit deutschen Vorfahren als „Russlanddeutscher“ bezeichnet wird, sondern schlicht und ergreifend eine Nomenklatur.
Es gibt hier ganze Menge Information zum Thema Ruslanddeutsche: https://www.ahsgr.org. In Texas einen Russlanddeutschen nennt man German from Russia. Das ist erstauntlich, wie wenig Leute darueber wissen…
@Jens #3
Das Strafgesetzbuch kennt noch andere Tatbestände für die Tötung eines Menschen außer Mord. Das Mordmerkmal ist hier nicht so wirklich weit weg, aber selbst wenn klar ist, dass jemand einen anderen Menschen getötet hat, ist „Mörder“ immer noch eine Vorverurteilung.
Heute habe ich mich bei der Zeitungslektüre dann noch gefragt, ob der Sachverhalt „Schizophrenie“ im (Rest-)Kommunismus eigentlich immer noch eine andere Bedeutung hat als im (hiesigen) Kapitalismus. (Hintergrund siehe z.B. hier: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,660519,00.html)