Die britische Labour-Partei ist gespalten. Die Blue-Labour-Bewegung hofft, dass einer Niederlage bei den Unterhauswahlen eine Neuorientierung folgt. Von unserer Gastautorin Sabine Beppler-Spahl.
Wenn am frühen Freitagmorgen in Großbritannien die Wahlergebnisse bekannt gegeben werden, dann wird sich der Blick besonders auf die Hochburgen der Labour Partei richten. In zahlreichen dieser Regionen, zu denen z.B. auch das „Black Country“ gehört, stimmte die Mehrheit 2016 für den Brexit. (In dem Ballungsgebiet Black Country, nördlich von Birmingham, dessen Namen an die Kohleförderung erinnert, waren es sogar 67 Prozent.) Doch gerade hier muss die Partei, die mit dem Versprechen, ein neues Referendum abzuhalten, in den Wahlkampf gezogen ist, um jede Stimme bangen. Viele, so die Prognosen, wollen entweder die Konservativen (Tories) oder die Brexit-Partei wählen. Auch mit einer hohen Wahlenthaltung wird gerechnet, was ebenfalls keine gute Nachricht für Labour ist.
Woran krankt die Partei? Da ist zunächst die Forderung, ein neues Referendum über den EU-Austritt durchführen zu wollen. Viele Wähler sehen darin zu Recht einen Versuch, das Ergebnis von 2016 rückgängig zu machen. Es sind die Gegner des Brexits, die den sogenannten „People’s Vote“ unterstützen. Dabei lebt eine Demokratie davon, dass die unterlegene Seite das demokratisch ermittelte Wahlergebnis anerkennt. Doch an den Auseinandersetzungen über das Referendum werden lediglich die tiefen Gräben, die die Partei durchziehen, nur noch deutlicher sichtbar. Labour ist gespalten: Auf der einen Seite befindet sich die mobile, urbane EU-freundliche Mittelschicht. Mit einer Politik, die dieser Schicht entgegen kommt – global, marktliberal und ökologisch – konnte die Partei 2017 bei der letzten Unterhauswahl in einigen Gegenden punkten, die zuvor fest in der Hand der Tories waren (z.B. in Londons Kensington oder der Universitätsstadt Canterbury). Auf der anderen Seite befinden sich diejenigen, die zum eher traditionellen Wählermilieu gehören und die EU skeptisch betrachten. Diese Seite hat sich schon 2017 merklich von der Partei abgewandt, weshalb die Tories schon jetzt einige der Wahlkreise im Black Country regieren.
Der britische Politologe Maurice Glasman beschäftigt sich seit Jahren mit dem Niedergang seiner Partei in ihren alten Hochburgen. Im Jahr 2009 prägte er den Begriff „Blue Labour“ für eine Politik, die sich wieder stärker an den Werten derer orientiert, die sich von ihrer Partei nicht mehr repräsentiert fühlen. Ohne die vielen Stimmen aus der Arbeiterschaft sei das Brexit-Votum für die Austrittsgegner nicht zu gewinnen gewesen, meint er. Mit dem Votum habe eine große Gruppe Wähler, die lange Zeit nicht sehr ernst genommen wurde, daran erinnert, dass sie noch da ist und von ihren Politikern mehr demokratische Rechenschaftspflicht eingefordert.
Die Auseinandersetzungen über den Brexit treffen den Kern der Frage, was heute noch progressiv oder links ist. Glasman, der aus einer britisch-jüdischen Familie stammt, vertritt Werte wie Zugehörigkeit, Familienzusammenhalt, gesellschaftliche Solidarität, Patriotismus und Stabilität. Ungeachtet der Tatsache, dass ihm gelegentlich vorgeworfen werde, er sei konservativ, wisse e,r dass dies die fundamentalen Gründungswerte von Labour waren, sagt er. So begann die Labour-Bewegung mit der Bildung von Bestattungsinstitutionen, die sicherstellen sollten, dass Mitglieder der Arbeiterklasse ein würdiges Begräbnis bekommen – und nicht im Massengrab für die Armen landeten. Dann wurden die Baugesellschaften gegründet, mit denen Wohnraum errichtet wurde. Immer ging es um ein Zuhause und eine Gemeinschaft, die man mit anderen teilte: „Die Menschen bündelten ihre Ressourcen, um ihr Leben zu verbessern.“
Das Ideal der heutigen neuen Labour-Linken, die einer grenzenlosen, globalisierten Welt anhängen und nur sich selbst sehen, hat mit dieser gewachsenen Solidarität gebrochen. Glasman geht es um eine realistische Einschätzung dessen, was der Kapitalismus tut: Er zwinge Menschen, die Orte zu verlassen, die sie kennen und in denen ihre Familien leben. Globalisierung basiert auf der ungehinderten Bewegung von Menschen, Kapital und Dienstleistungen. Damit aber würden Menschen zur einer Ware gemacht – auf einem Markt mit stark variierenden Preisen. Gekoppelt sei dies mit der Behauptung, man könne gegen die globale Wirtschaft ohnehin nichts ausrichten. Dazu gehöre auch eine tiefe Skepsis gegenüber der Nation, die doch erst die Institutionen der Solidarität und die Demokratie möglich gemacht habe. Paradoxerweise habe diese Politik das Individuum nicht gestärkt, sondern geschwächt und isoliert.
Die EU steht für diese neuen globalen Werte, die Glasman mit dem breiteren Begriff des Liberalismus umschreibt. Mit Labour aber habe dies nichts zu tun, denn schließlich habe sich die Partei historisch ganz bewusst als eigenständige Bewegung etabliert und nicht den Liberalen angeschlossen. Die Ablehnung der EU ist eine Rückbesinnung auf das demokratische Recht, die Politik selbst zu bestimmen und eigene Fehler zu machen.
Glasmans „Blue Labour“ war das Ergebnis seiner Erfahrungen nach dem großen Finanzcrash von 2009, der in Großbritannien die untere Mittelschicht hart traf. Der Crash spiegelte die unkritische Haltung von Tony Blairs New Labour gegenüber der Marktwirtschaft wider. Einer der am wenigsten wahren Sätze der Politik sei es, dass die Dinge immer nur besser werden könnten – für Glasman eine Art optimistische Teleologie, die zu dem selbstgerechten Gefühl führe, immer auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Als der Crash kam, habe Labour ihm nichts entgegensetzen können, weil die Partei keine eigene Wirtschaftspolitik mehr hatte. Somit erschienen die Schwierigkeiten, die viele Menschen hatten, nur noch als Ausdruck ihres ganz persönlichen Scheiterns. Die Spannungen zwischen Blair – dem überzeugten EU-Unterstützer und Brexit-Gegner – und der Blue-Labour-Bewegung prägen die Partei bis heute.
Gute Politik besteht für Glasman darin, das zusammenzuführen, was unvereinbar wirkt. Patriotisch zu sein, die gewachsenen sozialen Institutionen im Land zu verteidigen und trotzdem international zu denken, ist für ihn kein Widerspruch. Internationalismus sei die Solidarität mit anderen, die unterdrückt und ausgebeutet werden. Dazu gehört z.B. die Solidarität mit Flüchtlingen oder den bedrängten Kurden, die so viel zum Kampf gegen ISIS beigetragen haben. Die Arbeiterklasse in Großbritannien habe schon sehr, sehr früh den Wert der Toleranz (z.B. der religiösen Toleranz) und das Recht auf freie Meinungsäußerung hochgehalten. Globalisierung und Internationalismus aber seien Gegensätze. Eine globalisierte Welt, in der jeder nur als Individuum für sich kämpfen kann, biete keine Grundlage für eine echte internationale Solidarität.
Ursprünglich habe es Grund zur Hoffnung gegeben, dass Jeremy Corbyn, der Parteivorsitzende von Labour, den Weg zu einem demokratischen Brexit finden könne. Doch dagegen sprechen die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Partei, die unterdessen stark von der privilegierten, identitätsgetriebenen Mittelschicht geprägt ist. Vielleicht, so Glasman, trauere Corbyn tief in seiner Seele der verpassten Chance nach, sich an die Spitze der Brexit-Bewegung zu setzen. Unabhängig davon, wie die Labour-Partei bei der Wahl abschneiden wird – die internen kulturellen Konflikte werden nicht verschwinden. Die Blue-Labour-Bewegung aber, die nicht zuletzt auch durch den Brexit-Prozess gestärkt wurde, hat einen wichtigen Beitrag zur Debatte geleistet. Ob Labour jemals wieder zu einer Kraft werden kann, die die Interessen ihrer herkömmlichen Wählerschaft ehrlich repräsentiert? Glasman hofft, dass eine Niederlage zur Neuorientierung und Besinnung führt. Er ist Optimist.
Der Artikel erschien bereits auf Novo
Tja. Und wer hat verhindert, daß sich die EU eine Sozialcharta gibt? Grossbritannien.
"Woran krankt die Partei?"
Am Antisemitismus, der mit Corbyn in die Partei eingezogen ist und sie mittlerweile regelrecht übernommen hat. Es vergeht keine Woche, ohne dass jemand von denen in Sachen Judenhass auffällt. Zuletzt mal wieder Corbyn als er in einem Interview mit einem iranischen Sender das Existenzrecht Israels bestritten hat.
Die englischen Juden sind nicht die einzigen, die sich deswegen von Labour abgewendet haben.
Corbyns Haltung gegenüber Israel und den Juden ist einfach nur widerlich.Ich bezweifele allerdings, dass diese Haltung groß am Wahlergebnis etwas ändert. Hinterm Komma vielleicht, aber mehr auch nicht.
Beim Mehrheitswahlrecht kommt es weniger auf landesweite Prozente an, als auf jede Stimme in jedem Wahlkreis. Außerdem ist Corbyn ein geistig in den 70ern stecken gebliebener Linker. Das schreckt selbst einige Linke ab. Die Mitte erst recht.
Es ist beeindruckend, wie gut Sie alle Jeremy Corbyn kennen. Hier ein Urteil von jemandem, der ihn sehr lange kennt:
https://youtu.be/LopTs0u45ac
Das Interview, das angeblich aktuell sein soll, stammt aus dem Jahr 2011. Und selbst AchGut traut sich nicht zu behaupten, Corbyn habe dabei das Existenzrecht Israel in Frage gestellt, dort wird – was ja selten dort vorkommt – vorsichtig formuliert:
"Britische Social-Media-Nutzer haben ein Video aus dem Jahr 2011 ausgegraben, in dem Corbyn, damals noch einfacher Abgeordneter, mit dem staatlichen iranischen Auslandsfernsehsender „Press TV“ spricht und das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen scheint."
Die Angst scheint sehr groß zu sein.
Niemand hat behauptet, dass das Interview aktuell ist, außer in dem Sinn, dass es der neuste bekannt gewordene Vorfall dieser Art ist.
“I think there is a bias towards saying that Israel is a democracy in the Middle East, that Israel has a right to exist, that Israel has its security concerns.”
Aha, es gibt also eine Voreingenommenheit zu sagen, Israel sei eine Demokratie und habe ein Recht zu existieren…
Es gibt ein Wort für Leute, die sowas für sagen: Antisemiten!