„Die Sparrunden der Verlage in der Vergangenheit haben unverhältnismäßig stark die Redaktionen getroffen und dazu geführt, dass zum Beispiel das Netz der Lokalredaktionen immer mehr ausgedünnt wurde. Das war ein Fehler“, sagte Julia Becker, Chefin des Funke-Verlags, zu dem auch die WAZ gehört, selbstkritisch bei der Eröffnung des European Publishing Congress 2022 am Montagmorgen in Wien.
Auch mit der Zusammenstellung vieler Redaktionen ist die Funke-Verlegerin nicht zufrieden. „Wir haben allzu häufig versäumt, uns in den Redaktionen so bunt aufzustellen, wie unsere Gesellschaft heute ist. Auch wenn die digitale Revolution weiblich ist, haben wir noch immer zu wenige Frauen in den Redaktionen unserer Tageszeitungen und Plattformen, vor allem in Führungspositionen. Bei uns arbeiten zu wenige Menschen mit Migrationshintergrund. Wir stellen nur wenige Menschen mit „unbürgerlichen“ Biographien ein – Abitur, Studium, Journalistenschule, Volontariat sind noch immer die Normalität, obwohl vielleicht der Weltenbummler oder die engagierte Studienabbrecherin oder der Kollege, der schon mal in einem „richtigen“ Beruf gearbeitet hat, die interessanteren, weil lebensnäheren Geschichten zu erzählen hat. Wir müssen diverser im umfassenden Sinne werden, um nahe bei den unterschiedlichen Zielgruppen zu sein – und, ganz wichtig, um junge Menschen als Leserinnen und Leser zu gewinnen“, sagte Becker.
Kritisch sieht Becker auch die „Klick-Logik“ vieler Redaktionen, bei der exakt gemessen wird, wie viele Menschen einen Text aufrufen, wie lange und bis zu welchem Absatz sie ihn lesen, ob er Abos generiert hat und wie er in den unterschiedlichen Kanälen „trendet“. Leserverhalten wird damit transparent und auf den Dashboards sichtbar gemacht. „Dieses datenbasierte und datenorientierte Arbeiten verändert natürlich vieles. Die Interessen der Leserinnen und Leser finden ganz neue Berücksichtigung“, sagte die Funke-Verlegerin. In dieser Entwicklung liegt jedoch auch eine Gefahr der Boulevardisierung, Skandalisierung und „Blaulichtisierung“. „Datenorientiert arbeiten ist auf jeden Fall sinnvoll, datengetrieben ganz bestimmt nicht“, sagte Becker.
Vom Staat fordert die Funke-Verlegerin einen Verzicht auf die Mehrwertsteuer. Angesichts Leistungen, die Medien für die Gesellschaft erbringen, und angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen Verlage stehen, wäre ein derartiger Schritt eine wirkungsvolle Investition in die Demokratie. „Wer es schafft, innerhalb weniger Wochen Steuern auf klimaschädliche Treibstoffe zu reduzieren und tatenlos dabei zuschaut, wie Ölkonzerne Teile der Steuerreduzierung als Gewinn abschöpfen, wird es wohl auch hinbekommen, journalistische Produkte als „Treibstoff der Demokratie“ geringer zu besteuern“, sagte Becker.
Nach zwei Jahren Pandemie-bedingter Pause sind knapp 300 Chefredakteure und Führungskräfte europäischer Medienhäuser nach Wien gekommen, um ihre Konzepte und Strategien auszutauschen. Der European Publishing Congress endet heute Abend mit der Ehrung der besten Medienmacherinnen und -macher Europas. Diese kommen in diesem Jahr aus Portugal, Spanien, Belgien, Norwegen und aus der Schweiz. Unterstützt wird dieser größte europäische Medienkongress unter anderem durch den Verband der österreichischen Zeitungs- und Zeitschriftenverleger, durch die Bundeszentrale für politische Bildung in Deutschland und Readly aus Schweden. Veranstalter sind der Medienfachverlag Oberauer und der deutsche Zeitungsdesigner Norbert Küpper.