Mikita Likhavid ist 21 Jahre alt. Er hat kurzes helles Haar. Seine Augen sind umgeben von dunklen Augenrändern. „Ich schlafe zu wenig und rauche zu viel“, sagt er. Bei Mikita stimmt etwas nicht. Bereits seit einem Jahr.
Der 19. Dezember 2010 war ein schicksalsträchtiger Tag im Mikitas Leben. Die Ereignisse jenes Sonntags haben sich in seinem Gedächtnis eingebrannt. Er wacht gegen 14 Uhr auf. Ein Freund von ihm klingelt an der Tür. Die beiden gehen zum Wahllokal um abzustimmen. An diesem Tag findet die Präsidentenwahl in Belarus statt. Auf dem Weg zurück treffen sie eine ehemalige Mitschülerin, plaudern eine Weile mit ihr. Es ist windig und frostig. Die Jungs gehen nach Hause Fußball gucken. Gegen 19 Uhr brechen sie auf: Der Freund nach Hause und Mikita zum Oktoberplatz, auf dem eine Demonstration gegen die Wahlfälschung stattfinden soll. „Ich wollte nur kurz gucken, was passieren wird, und bald zurückkommen“, sagt Mikita. Er wird seinen Freund das nächste Mal erst neun Monate später sehen.
An diesem Abend sind nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 3 und 40 Tausend Menschen ins Zentrum von Minsk gekommen. Mikita mischt sich unter die Menschenmenge, geht mit, schreit mit: „Zhyve Belarus.“ Es lebe Belarus. „Ich spürte den Atem der Stadt. Die Menschen holten gleichzeitig Luft und schrien dann aus aller Kraft. Es war toll“, erzählt Mikita. Er wird sich später oft an dieses Gefühl erinnern. Im Gefängnis.
Am Oktoberplatz stiegen die Präsidentschaftskandidaten aufs Podest der Lenin-Statue und riefen von dort aus Parolen. Die Lautsprecher wurden auf dem Weg zur Kundgebung von der Polizei beschlagnahmt. Der Platz war zu klein, um alle Demonstranten aufzunehmen. Nur wenige konnten sehen und hören, was in der Mitte des Platzes geschah. Mikita schon. Er war die ganze Zeit nah dran. Was er nicht sah: Die Kolonnen von unzähligen Männern mit Helmen rückten dem Oktoberplatz immer näher. Die Spezialeinheiten kesselten die Gruppen von Demonstranten ein, schnappten willkürlich Menschen aus der Menge und steckten sie in Polizeibusse. Zurückblieben gerissene weiß-rot-weiße Fahnen und Blutflecken auf Schnee.
Am Morgen danach sahen die Belarussen andere Bilder im Fernsehen: Wodkaflaschen und Äxte auf dem verschneiten Oktoberplatz. Der Moderator berichtete: Die betrunkenen, von westlichem Geld angestachelten Rowdies wollten in der Nacht das Parlamentsgebäude stürmen. Mikita konnte es nicht sehen. Er war einer von mehr als 600 Demonstranten, die in die Polizeibusse geworfen und in Untersuchungshaft gebracht wurden.
Dort verbrachte er drei Monate, bevor das Gericht ihn Ende März wegen Teilnahme an Massenunruhen zu 3,5 Jahren Haft verurteilt hat. Im Arbeitslager Navapolatsk machte er sich schnell bei der Anstaltsleitung unbeliebt. Er weigerte sich, ein Schuldeingeständnis zu unterschreiben. Er folgte den Befehlen und Aufforderungen nicht. Beim namentlichen Aufruf fügte er jedes Mal hinzu: Mikita Likhavid, der illegal Verurteilte. Für die Frechheit wurde er mehrmals zu einer mehrtägigen Einzelhaft in einer Strafzelle verurteilt. Insgesamt verbrachte Mikita 81 Tage in der Einzelzelle ohne Möbeln und jeglichen Kontakt zu Menschen. Dort „feierte“ er im Mai seinen 21. Geburtstag.
Am 14. September wurde Mikita aus dem Gefängnis entlassen. Der Präsident Alexander Lukaschenka begnadigte ihn. Eigentlich wollte Mikita das Gefängnis nicht verlassen. Er wollte keine Ware im Handel zwischen Minsk und Brüssel werden. Wirklich frei sei er draußen sowieso nicht. Er würde ständig überwacht. Trotz Überwachung nimmt Mikita weiterhin an den Veranstaltungen der Opposition teil. Von seinem Jura-Studium wurde er beurlaubt. Was er tagsüber so macht? „Ich faulenze“, sagt Mikita und lächelt.
Die kritischen Zeitungen in Belarus bezeichnen ihn als „Held der düsteren Zeit“. Die Passanten auf Minsker Straßen schießen mit ihren Handys Fotos von ihm. Die Autos hupen ihm hinterher. Mikita verstehe diesen Hype um ihn nicht. Er sagt, er sei ein ganz normaler Mensch. Die Zeit im Gefängnis habe ihn nicht verändert, außer dass er 17 Kilo leichter geworden ist. Die Belarussen haben sich aber nach Mikitas Meinung im Laufe des letzten Jahres verändert. Sie haben angefangen, mit ihrem eigenen Kopf zu denken. Seine Oma und Opa hatten früher immer für Lukaschenka abgestimmt. Seit dem 19. Dezember 2010 werden sie das nie mehr tun. „Es war also nicht umsonst“, sagt Mikita.