Wenn das Salatdressing shitegal ist: Ulf Poschardt rekalibriert den Zeitgeist in Shitbürgertum

Ulf Poschardt Foto: Martin U. K. Lengemann/WELT Lizenz: Copyright


Lange erwartet, kurzes öffentliches ans Bein Pinkeln, stramme Trotzigkeit eines scharfen Denkers, nun gibt 
Ulf Poschardt sein neues Werk „Shitbürgertum“ einfach im Eigenverlag heraus. Eine Übersprungshandlung, wie ich meine. Unabhängig davon dekonstruiert er gekonnt verschiedene gesellschaftliche Milieus, von der selbstgerechten Universitätslandschaft bis zur politischen Sphäre von verblendeten Eitelkeiten.

Das „Shitbürgertum“, das sich durch mangelnde Ambition, übertriebene Selbstdarstellung und eine merkwürdige Mischung aus Karrierismus und Moralismus auszeichnet, wird von einer gefälligen Lauch-Bourgeoisie flankiert, die auch so gern möchte, aber doch nicht kann. Kulturanalytisch bewegt sich der Autor keck zwischen High und Pop Culture, nutzt Referenzen aus Soziologie, Psychologie und zeitgenössischen Diskursen. Polemisch sei das Buch, dieser arrogante Springer-Typ in grüner Bomberjacke eh, aber was genau ist polemisch daran?

Der Himmel bewahre mich vor einer Vernichtung auf X, dass ich als ehemalige Studienrätin mit Lastenrad ausgerechnet eine Rezension zu Poschardts Text wage – und es trotzdem gut finde. „Oberlehrer:in“ hin oder her, weil was genau soll unsachlich an dem quietsch grüngelben Blättlebündel sein? Stimmen die genannten Fälle aus Literatur und Bildender Kunst, dem Pop-Alltag, dem Zeitgeist der Berliner Bubble und v.a. aus der Odenwald Schule etwa nicht? Erschreckend, dass von Hentig immer noch bei jungen Fachkollegen als Zitat in ihren UTB-Büchern vermeintlich ahnungslos vorangestellt wird. Sie sitzen auf fetten W3-Dotierungen, aus Steuergeldern plus Zulagen.

Wir wissen doch alle, wie nicht nur an den Exzellenzuniversitäten der Hauptstadt, sondern auch in der Pampa „Kolleg:innen“ in Prorektorate gelangen, bei denen man eine wissenschaftliche Güte im ORCID-Register lange suchen kann. Genderquoten haben zusätzlich alles verwässert, was in Spitzenpositionen an anständigem Kompass und Fachlichkeit hätte walten müssen. Studenten (m/w/x) sind „Meister:innen“ im Beißen per öffentlichem Brief, weil Fleiß, Dedication und Leistung sind cringe.

Poschardt, sich selbst als „Zögling, Günstling und langjähriger Nutznießer des Shitbürgertums“ einführend, schreibt: „Der Mangel an Ambition ist Avantgarde neudeutscher Gemütlichkeit geworden.“ Ist es nicht eher so, dass Ambition zu genüge vorhanden ist, viele Präpotente darunter, mit Problempony und Nasenpiercing ein Puschelminimikro in den Fingern und ein iphone 11 drauf haltend?

Auf schlanken 160 Seiten genieße ich, ja werte Frauen steinigt mich, Poschardts Duktus. Ich finde es sogar sexy. An mehreren Stellen lese ich seine Argumente, assoziiere den Faden weiter und prompt nennt er genau das, was ich bei einem quick Expresso mit ihm hitch-hiken würde. Yesss, it’s the way of Dexter baby und im traditionellen Ruhrbarone-Poll 2024 legte ich noch eins drauf. Ulf Poschardt genoss zuletzt in Jonathan Guggenbergers Erstlingswerk „Opferkunst“ als Pierre eine Widmung. He is definitely something, if you like him or not.

Poschardts Büchlein arbeitet drei Kernbereiche heraus:

  • Kritik an der Selbstdarstellungskultur über Moral moderner Gesellschaften
  • Analyse der Identitätspolitik und ihrer Auswirkungen
  • Dekonstruktion von Machtstrukturen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen

Zu Beginn wird auch ohne Vorwissen über das Verlagshickhack evident, dass Poschardts Programmatik zu Ärger führte. Es gibt ein Vorvorwort.

Der Autor verlangt dem Leser schon auf Seite 2 komplexe Theoriegebäude ab, wenn er Klassiker wie Schumpeter oder Foucault als Aufschlag nutzt; fehlt nur noch Derrida-Blabla. Wie soll Micky Beisenherz, hallo ein Semester Sozialwissenschaften, da hinterherkommen – und ich habe nicht mal Deleuze, Guattari und my beloved one 😍 Luhmann addiert.

Im Vorwort dann gewiss der erste Stein des Anstoßes: Poschardt bezieht sich, um einen historischen soziologischen Aufriss in gegenwartsdiagnostischer Absicht über Welt- und Selbstdurchdringungen zu spannen, auf the Red Flag politischer Korrektheit Otto von Bismarck. Seine Herleitung des deutschen Wesens über die Verdrängung des nationalsozialistischen Erbes und die vielen Erniedrigungen in den Kriegen zuvor seien die Gründe, warum aus heutiger Sicht Nazis immer nur die anderen sind, bringt mich zum Nachdenken.

Ist das typisch Deutsch? Oder vielleicht typisch Mensch? Zuletzt in Gent, ja habe mir den Altar mit VR-Brille gegönnt, weil das Lamm ein Symbol kunstgeschichtlicher Virtuosität darstellt und überdies während des Zweiten Weltkriegs vor der Vernichtung geschützt wurde, sagte mir eine italienischstämmige Belgierin, dass ich mich als Deutsche doch heutzutage nicht verantwortlich für die Geschichte fühlen müsse. Schließlich sei nur Hitler schuld. „Nein, es waren auch die Menschen.“

„Die Naivität, ja, das Kindliche macht das Shitbürgertum oft rührend,

 aber in einer Welt komplexer Abgründe umso gefährlicher.“

Poschardt geht sofort in die Vollen, setzt voraus, dass man weiß, was das Kompositum aus Shit, der oder das (laut Duden), und Bürgertum zu bedeuten habe. Auf Seite 16 folgt sodann die Erklärung zum Titel des Buches: unflätig und rüde, so wie der libertäre Milei, der kurzum den korrupten aufgeblähten Staatsapparat in Argentinien halbierte, trifft auch Poschardts Naturell. Unkultiviert ist Poschardt aber ganz und gar nicht. Im Gegenteil stammt er selbst aus dem bürgerlichen Kulturkreis als promovierter Kulturanalyst, mit oszillierendem Röntgenblick zwischen High und Pop Culture. Bestimmt 30 Jahre her, Qualität bleibt.

Poschardt führt aus, dass das Shitbürgertum sich robuster Methoden der Denunziation und medialer Schauprozesse bediene. Zuletzt habe ich das live beim geförderten Literaturfestival durch den noblen Kreis von PEN Berlin erlebt. Auch an Hochschulen werde laut angeklagt und ohne Prüfung des Sachverhaltes verurteilt. Das führt, nein kein Konjunktiv an der Stelle, nicht nur zur stillen Immigration, sondern auch zur Emigration, lessons learned my dear.

Jedoch hält Poschardts Ritt von Toqueville über 1945 bis 1989 und zack zur Ampelregierung eine steile Auslassung bereit, falls er nur rot-grün meint, dass erst dadurch das Shitbürgertum an die Hebel der Machtzentrale geraten sei. Seine Porsche-Partei ist doch das beste Beispiel dafür: Wo Liberale draufsteht, ist nicht annähernd ein theoriegesättigter und handlungsauthentischer Liberalismus drin. Vorder- und Hinterbühne à la Goffman machen Winke-Winke, wenn Poschardt die kognitiven Dissonanzen des Elfenbeinturms als Psychogramme plausibel erklärt.

Politiker jeder Couleur beziehen ihre Gehälter, wie das Shitbürgertum auch, nun mal aus Steuergeldern. Die Regenbogenfahne von Peace, Love and Diversity (DEI) wurde nicht allein von den Grünen vor sich hergetragen.

Leider gäbe es, so Poschardt, kaum Untersuchungen in der Soziologie, wie sich dieses bürgerliche Milieu konstituieren und öffentliche Debatten dominieren konnte. Mounk und Hübl, aber auch Schröder oder Scheller finde ich da aber schon kluge Köpfe, die die Mechanismen und Strategien der postkolonialen Schwurbelei auch in einer globalen Interdependenz zu verorten verstehen. Gewarnt wurde früh.

Wichtig ist, dass Poschardt historisch und kulturell versiert genug ist, um sich nicht einer Schwafelei über das Gute im gebildeten Menschen hinzugeben. Ich mag seine stabile Haltung Israel gegenüber. Und das allein kotzt nun mal viele (Linke) an. Dafür muss es nicht erst Musk in seiner Zeitung geben.

Fantastisch auf den Punkt ist Poschardts Beschreibung von NPC, Non-Player Character, als Synonym für die Lauch Bourgeoisie. Sie tritt finanzstark auf und befördert in Schaltpositionen die Agenda des Shitbürgertums aus Gründen einfachster Persönlichkeitsstrukturen.

Am lautesten lache ich, als er ausspricht:

„Wie kein anderer Teil der Umerziehung hat die identitätspolitische Rabulistik das menschliche Geschlecht von jedweder biologischen Determination zu befreien versucht, das Grundvertrauen der Menschen in die Sprache und deren Beherrscher zu zerstören riskiert. Wer die Frage ‚Was ist eine Frau?‘ nicht mehr beantworten kann, ohne in absurde Kategorien zu schlittern, sollte als Exot glücklich werden.“

Wenn „Neu-Feminist:innen“, fanatischer sind noch die Prenzelberg-Cis-Männer, die sich als Feminist in ihrem Twitter-Profil bezeichnen, irgendwas nicht sind: tolerant gegenüber allen Frauen. Wenn Queere irgendwas nicht sind: tolerant gegenüber allen Liebes- und Lebensweisen. Wenn „Multikulturalist:innen“ irgendwas nicht sind: tolerant gegenüber allen Islamisten, Erdoganisten oder Putindeutschrussen in der Kita-Gruppe ihrer Prinzen und Prinzessinnen.

Zu meinem Bedauern, und da bleibe ich streng, finde ich die Sache mit dem Selbstverlag aus wissenschaftlicher Perspektive und critical friend view kindisch. Psychologisch gesehen war das eine Kurzschlussreaktion, natürlich wird es als neues Unternehmertum vom Herausgeber und Autor gefeiert.

Will Poschardt wirklich auf einer Ebene mit Personen in der Berliner Bubble agieren, die zwar mit einem zugeteilten akademischen Titel im Capital Club ein- und ausgehen, kurzerhand bei ihrer Solvenz, worauf diese auch immer zurückzuführen ist, einen Selbstverlag gründen, weil sich ihre Bücher bei etablierten Verlagen nun mal nicht verkauft haben, Ghostwriting höchstwahrscheinlich nicht ausgeschlossen. Ein Ulf Poschardt hätte das nicht nötig gehabt und paar Tage später einen anderen Verlag gefunden, einen besseren. In einem Jahr mit bissle Abstand wird er über sich selbst die Augen rollen, was da mit der Selbstkontrolle des blitzgescheiten Heißsporns los war.

Ähnlich wie Michel Friedman fordern solche lustvollen Streiter wie Ulf Poschardt ihr Gegenüber heraus, statt nur mit dem Kopf zu nicken. Und am Schluss entdecke ich neben dem geschätzten Nassehi noch einen Dank an den Raimund. Der treibt sich auch überall herum, Kuss & Gruß.

 

Das Buch ist auf Amazon per click erhältlich, ab sofort auch als eBook.

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