Wenn Politiker Verse schmieden

Franz Müntefering auf der Frankfurter Buchmesse 2018. Foto: Ptolusque, Lizenz: Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0


Franz Müntefering hat einen epochemachenden Gedichtband vorgelegt. Eine hermeneutische Interpretation von unserem Gastautor Stefan Wirner.

Es gibt Politiker, die sich nach einer langen Karriere partout nicht zur Ruhe setzen wollen. Der wohl bekannteste unter ihnen dürfte ein gewisser G. Schröder sein, der sich nach einer überaus erfolgreichen Zeit als Friedenskanzler ganz um den demokratischen Fortbestand Europas und die Energiesicherheit Deutschlands verdient gemacht hat.

Einen etwas anderen Weg schlug der nicht ganz so erfolgreiche frühere amerikanische Präsident Jimmy Carter ein. Er überraschte seine Freunde und Kritiker 1995 mit dem Gedichtband „Always a Reckoning“ (deutsch: „Angesichts der Leere“, Weidle Verlag). Ihm verdanken wir unvergessliche Zeilen wie diese aus seinem Gedicht „Forellen“: „Die Einsamkeit,/ Befreiung von Sorge,/ enttäuschter Zweifel/ an unserer Angelkunst –/ all das bleibt denen, die Forellen fischen.“

Ganz auf den Spuren Carters wandelt nun ein anderer, weltbekannter Sozialdemokrat: der frühere Bundesminister und SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. Nicht nur, dass er nach seiner politischen Laufbahn mehrere Jahre Vorsitzender der Bagso, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, war, nein, im stillen roten Kämmerlein griff er eines Tages zum Griffel und begann zu dichten. Nun ist im Verlag J.H.W. Dietz sein erster Lyrikband erschienen. Schon der Titel ist vielversprechend: „Nimm das Leben, wie es ist. Aber lass es nicht so.“

Lesen wir hinein in dieses wundersame Werk. Das erste Gedicht trägt den Titel: „Hat das Leben einen Sinn?“ Es beginnt: „Keine Frage,/ wär doch schlimm/ wenn es keinen,/ oft auch feinen,/ hätte./ Wir hätten uns doch unterdessen/ längst vergessen.“ Keine Frage, hier werden schon im ersten Poem die großen Fragen der Menschheit behandelt. Es geht um nichts weniger als um den Sinn des Lebens und die Stellung des Menschen im Kosmos. Dabei fühlt sich Müntefering ganz der Moderne verpflichtet, etwa wenn es im Stile Rimbauds mit Versalien mitten im Gedicht weitergeht: „Ja. OK. Ich kenne die Frage.“ In „Beim Richtfest der Erde“ heißt es: „–SCHÖPFUNG DER WELT genannt – / Waren nur wenige Menschen dabei./ Adam und Eva blieben bekannt –“. Hier beherrscht jemand sein lyrisches Handwerkszeug. Etwa auch die allerfeinste Ironie: „Ach so, was mit dem Schöpfer ist?/ Zu seinen Gunsten nehm‘ ich an:/ Es gibt ihn nicht, den Allmachts-Mann.“

Ein Wortspiel jagt bei Müntefering das andere: „Aber dumm, nein./ Dumm bleiben wäre dumm!“ Dann wieder heißt es minimalistisch ganz wie bei August Stramm: „Hass und Ignoranz/ Hohn und Spott/ Raketen und Bomben/ Schläge und Schüsse/ Mord und Totschlag“. Auch Experimentelles lässt sich finden. Das Gedicht „Entbehrliches Erlebnis“ beginnt so: „…/ … /… “ Es gibt auch überaus kurze Gedichte wie etwa „Begegnung“: „Sie lacht so/ spricht so/ blickt so/ geht so/ vorbei.“ Dieses erinnert ein wenig an Eugen Gomringer und sollte keinesfalls an die Wand einer Kunsthochschule geschrieben werden.

Andere wiederum, vor allem aus dem Kapitel „Vom Gelingen der Demokratie“, erinnern zuweilen an die große Rosa Luxemburg: „Freiheit denken ist immer möglich –/ Gedanken sind frei.“ Eines mit dem avantgardistischen Titel „CNE – Chance Neue Erde“ widmet sich einem im Sinne des Wortes brandheißen Thema, dem Zustand unseres Planeten: „Als Laie sag‘ ich: Gut, eine zweiter Stern,/ doch der Planet darf niemandem gehör‘n,-/ kein qm.“

Nein, kein qm. Alles ist da bei „Münte“, wie er in Anspielung auf Grassens „Fonty“ (Fontane in „Ein weites Feld“) genannt wird.  Alle „Elemente der Lyrik“, die der Literaturwissenschaftler Walther Killy („Deutscher Kitsch“ u.a.) einst beschrieben hat: Addition (bei Müntefering: „Was ahnen./Was suchen./ Was erfahren.“); Mythologie („Und SISYPHUS WAR EIN GLÜCKLICHER MENSCH.“); Allegorie („Wie Rapunzel, ja./ Ist das Haar feuerfest? Machen wir den Feuertest!“).

Und iterum ab initio die ganz großen Fragen der Menschheit: „Kann es ein Nichts geben?/ Sprachlogisch: Nein. Denn das wäre ja ein Etwas. Kein Nichts.“ Seit Heraklit hat sich wohl kein Philosoph mit derartiger Chuzpe an das Mammutprojekt der Weltdurchdringung gewagt. Es geht um nichts Geringeres als um Gott und die Welt und die Bedingungen unseres Daseins. Was ist dagegen schon eine Pipeline.

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