Fahrt vorbei am Dortmunder U, oben in den Fliegenden Bildern Kickerfiguren, schwarz und gelb unterlegt, ein kurzer Blick, verkehrsgefährdend, dann verschwinden sie hinter der Fassade eines Krankenkassenbaus. Er ist bar jeder Abstands- und Anstandsregel so nah an den alten Brauereiturm geklatscht, dass jeder Kleingärtner, der sich so mit seiner Gartenlaube an den Parzellennachbarn ranwürfe, aus dem Verein ausgeschlossen würde oder mindestens tausend Stunden Strafharken in den Gemeinschaftanlagen aufgebrummt bekäme.
Draußen vor dem Stadttheater begrüßt Adolf Winkelmann Freunde, Gäste, Kollegen und weiß nicht so recht, über welche Schulter man sich zur Theaterpremiere glückbringend über die Schulter spuckt. Drinnen fummelt Jost Krüger vergeblich an einem dieser Garderobenschränke herum. Man setzt sich, und auf der Bühne stehen nach kurzem Vorspiel Winkelmann und Krüger. Unsicher, täppisch der eine, zauselig verstrahlt der andere. Dargestellt von Axel Holst und Uwe Rohbeck.
Warum tut sich Adolf Winkelmann das an, mit 65 Jahren noch mit dem Stadttheater anzufangen? Einem Betrieb, vor dessen strikten Zuständigkeiten, Ruhezeiten- und Sicherheitsvorschriften es manchem graust, der zeitlebens frei arbeitete? Beim Film hat er im Schneideraum das letzte Wort über das Produkt, wenn er dem zuständigen WDR-Redakteur die eine Szene geopfert hat, die nur deshalb dringeblieben war, damit der arme Kerl aus Köln das Gefühl hat, kreativ mitgewirkt zu haben. Im Theater machen die Schauspieler nach der Premiere eh was sie wollen, da gibt es auch keinen zweiten Take.
Es scheint ihm Spaß gemacht zu haben, mit diesem Apparat zu spielen. Das Dortmunder Haus ist ja gegenüber einer mittelprächtigen TV-Produktion eher Kleines Fernsehspiel. Aber der Apparat läuft, und Winkelmann nutzt ihn weidlich. Ständig surrt etwas vom Schnürboden herab, da dürfte jeder Zug belegt sein und der Inspizient zwischendurch nicht zum Kaffeetrinken kommen. Da wird projiziert, funken Videobrötchen Livebilder und fahren Tische aus dem Keller auf die Bühne.
Was hätte Winkelmann machen können mit dem Abend? Er hätte larmoyant das Künstlerelend beklagen können, sich als Opfer auf die Drehbühne vom Verfolger ausleuchten lassen können. Er hätte knüppeln können, hätte leicht zu entschlüsselnde Pseudonyme für die Kreativwirtschaftler der Stadt wählen und sie niederätzen können. Das tut er nicht. Er erzählt eine wundersame Geschichte, und er erzählt die
Geschichte zweier Freunde teilweise so liebevoll komisch, dass man sich spätestens beim Abtauchen der Buddys in die unendlichen Weiten der U-Turm-Katakomben fühlt, als sei man mit Tim und Struppi unterwegs. Was kein schlechtes Gefühl ist.
Der Theaterdebütant hätte es billig machen können, Punchline an Punchline kleben können. Das soll das Kabarett machen, das können wir beim Geierabend versuchen. Bei Winkelmann entsteht der Humor beiläufig, wenn er nicht gerade den Kalauer sucht, was zwischendurch aber völlig in
Ordnung geht.
Wer das gleichnamige Buch zuvor gelesen hat, wird vieles kennen, doch bleibt vieles neu. Erst mal spürt man eine Liebe zu den Figuren und ihren Geschichten, ganz wunderbar das Verhältnis von Bühnenwinkelmann zur Produzentin. Die führt ihren Künstler manchmal verzweifelt, meist zärtlich streng durch die Geschichte. Szenen einer Ehe, deren Verwurzelung in der Wirklichkeit naheliegen.
Winkelmanns Reise ins U ist die Stadtrevue zum späten Strukturwandel, bildstark ohne viel Musik. Natürlich watscht er ab, beruft die Dortmundklischees herauf, ohne dabei jedoch banal zu werden. Dem Publikum ist das ein Riesenspaß. So landet eine Kopie von Michelangelos Davidstatue im Brauereiturm. Gefallen bei den Stadtverantwortlichen findet dieser grausame Schund allein, weil dieser David 22 Prozent größer als das Original ist und damit die größte skulpturale Darstellung eines nackten Mannes weltweit. Das Weihnachtsbaumgerümpel vom Hansaplatz lässt grüßen. Ansonsten schwankt man im Rathaus zwischen Größenwahn und Jammern über die eigene Bedeutungslosigkeit, versucht Berlin zu spielen und hofft heimlich doch nur, endlich einmal Essen abhängen zu können. Der Wunsch nach Bedeutung mündet ein in die schönste, von poetischer Traurigkeit durchsetzte Szene. Tief unterm U siebte Sohle quasi, in einer U-Stadt leben Aktenarbeiter wie einst in Metropolis und archivieren Gigatonnen städtischer Akten. Der Gedanke dahinter: Wenn das Ruhrgebiet einst versinkt, wird Dortmund die anderen Städte doch überleben, weil er ordentlich dokumentiert ist. Im Hier und Jetzt sieht es mit der Bedeutung anders aus. Da kommt ein Kurator aus Berlin, frisch vom Prenzlauer Berg entlassen, und kann Dortmund und Wattenscheid nicht auseinanderhalten. „Für uns ist das hier eh alles Düsseldorf“, vernichtet er alle Metropolenträume beiläufig.
Natürlich sind die Bosse fies, sie sind es aber weniger aus sich heraus, als vielmehr aus den Bedingungen, denen sie entwachsen. Das macht Winkelmanns Kritik fundamentaler. Da beamt der Autor die Bargeld-/Koksaffäre aus dem Büro des Oberbürgermeisters Langemeyer in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, und sie funktioniert doch. Natürlich hintertreibt „der Senator“, eine Kunstfigur aus vielen in der Wirklichkeit, Winkelmanns Pläne der Fliegenden Bilder so lange, bis sie zum Erfolg werden, um sich hernach als eigentlicher Schöpfer der Kunst zu inszenieren. Andreas Beck gibt ihn großartig barock. Sah man ihn neulich noch als Rechtsanwalt Krogstadt in der Nora-Inszenierung als einen vermeintlich freundlichen Verlierer, dessen brutale Fiesheit blitzschnell und ansatzlos aus dem Nichts kommt, so setzt er sich hier mit Lust in die Rolle, ohne zu chargieren. Wie überhaupt das Ensemble zeigt, dass es auch komisch kann.
Das Team um Kay Voges hat mit der Reise ins U gewonnen. Kam es in der ersten Spielzeit noch wie ein Einsatzkommando in die Stadt gestürmt, um mit dem rasch erfundenen „Institut für urbane Krisenintervention“ der selbstgefälligen Dortmunder Drögheit zu begegnen, wurden die Jungs von der Kreativen Klasse noch mit „Zero Tolerance! Tötet die Kreativen“ den Zombies zum Fraße vorgeworfen, gönnt man sich jetzt ein eindringlich erlebtes, sorgfältig geschriebenes und gut inszeniertes Stück, das nicht von den Invasoren stammt, sondern von einem Hiesigen, der sich trotz aller Verführungen der schönen, neuen ECCE-Welt nicht vereinnahmen lassen hat. Das Theater ist angekommen in der Stadt, und Winkelmann auf dem Theater.
Adolf Winkelmann muss 1981 die große „The Wall“-Show in der Westfalenhalle gesehen haben, jedenfalls mauert er zum Schluss den ganzen Kreativkram im Pink-Floyd-Stil ein, was ein schönes Zitat ist. Zuvor zieht sich ein schöner Satz durch das Stück, der die klandestinen Prozesse der Bürokratie aufzeigt. „Das kommt jetzt aber nicht ins Protokoll“, heißt er. Den werde ich zitieren beim Geierabend. Das habe ich Adolf Winkelmann auch gleich gesteckt, der daraufhin im Spaß Tantiemen einforderte. Scheiße, Tantiemen, Adolf. In Deiner Fensterinstallation im U steckt auch ein kleiner Satz von mir, was Du wahrscheinlich gar nicht wissen wirst. Den hast Du auch für lau bekommen. Wir wären also quitt.
Fahrt nach Hause. Das U im Schlummermodus. Oben in den Fliegenden Bildern eine schlichte Digitaluhr. 00:48:22.
„Winkelmanns Reise ins U – ein erfundener Tatsachenbericht von Adolf Winkelmann“.
Nächste Termine: 4., 16. und 31. Dezember
Sie auch: Winkelmanns Reise zum U
Die Kritik Winkelmanns auf die Dortmunder Verwaltung -anstatt im Theater- hätte ich spannender gefunden als Fliegende Bilder am U, sichtbar für jeden Bürger.
Apropos, bisher haben mich die Fliegenden Bilder inhaltlich nicht überzeugt. Sie drängen sich auf wie Werbung, nur für Nichts.
Ein solches Stück hätte man wahrscheinlich in jeder Ruhrgebietsstadt inszenieren können. Leuchttürme, die wie goldene Kälber umtanzt werden, Größenwahn und bürokratisches Chaos, finden sich in fast jeder der 53 Gemeinden des Möchtegernmetropölchens. In Gelsenkirchen heißt das „U“ z.B. Herkules, die Ecces heißen THS und die Gornys heißen Petzinka. Es fehlt quasi nichts, an zündendem Stoff für ein ähnliches Stück, nur das Gelsenkirchen leider keinen Adolf Winkelmann hat…
Links anne Ruhr (01.12.2011)…
Dortmund: Rechtsextremismus – Hausaufgaben gemacht (SPD Unterbezirk Dortmund) – Kai Neuschäfer von der SPD Dortmund wehrt sich gegen den WAZ-Kommentar Stoppt das Schönreden von David Schraven. Essen: Ex-SPD-Chef Willi Nowack k……
Die Herkules-Skulptur im Nordsternpark ist wunderbar. Da blickt ein griechischer Gott -ein zerschundener Held- über das Ruhrgebiet. Dieser Held gehört zum Ruhrgebiet.
Kunst sollte man nicht nicht nur mit Euros messen.
@Mir
Kunst ist bekanntlich Geschmackssache. Ich finde auch die Videoinstallationen von Winkelmann am U sehr gelungen. Aber es geht bei dem Theater doch um das profilneurotische dahinter und das drumherum.
Hier ein paar Infos zu Herkules, Lüpertz und Petzinka:
Ab 2004 war Petzinka Geschäftsführer der THS mit Sitz auf Zeche Nordstern. Zu diesem Zeitpunkt ist Markus Lüpertz, dem Gelsenkirchen den Herkules zu verdanken hat, Rektor der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. 2008 bekommt Petzinka eine Professur an der Kunstakademie Düsseldorf und zeitgleich bekommt Lüpertz den Auftrag für den Bau des Herkules. Ein Schelm wer böses dabei denkt 😉
Ende 2010 steht dann der Koloss. Ein gutes halbes Jahr später ist Petzinka weg vom Fenster. Zumindest von den Fenstern des neuen THS Turms auf Nordstern. Infos gab es leider keine zum unerwarteten Ausscheiden Petzinkas bei THS/Evonik. Sowohl die Treuhandanstalt als auch die Stadt Gelsenkirchen deckeln diesbezüglich. Aber die Gerüchteküche um finanzielle Ungereimtheiten und Vetternwirtschaft brodelt gewaltig und vielleicht kommen ja irgendwann einmal die wahren Umstände dieses plötzlichen Abgangs Petzinkas ans Tageslicht…
Nein. Kunst ist kein Geschmacksache, sie muss was zu sagen haben. Wer nichts sagen will oder zu sagen hat, bleibt besser ruhig oder ähnlich.
Ich möchte an dieser stelle deutlich gegen die aussage Stellung beziehen Schauspieler am Theater wurden nach der Premiere spielen was sie wollen. Ich persönlich mache nämlich auf der Bühne nichts was ich nicht auch will. So auch vor der Premiere und mein geschätzter Regisseur konnte sehr gut damit leben. Was getroffene vetabredungenen zwischen Kollegen betrifft gilt es in der Regel an theatern als unstatthaft diese nicht einzuhalten. Mfg Axel holst
@Axel Holst. Mh, mh, ja. Natürlich. Verabredungen und so, Professionalität. Unterschreibe ich. Macht ja keiner den Fehler dieses Stanislawski-Schülers, wo gerade der Opa(?) gestorben war und er meinte, jetzt mal alles aus seiner Trauer heraus geben zu können. Und lese gerade den ollen Piccoli in der SZ. Den habe ich nur einmal gesehen bei einer Bob, ich muss jetzt sagen: Bob, um Nähe zum Geschehen vorzugeben, also bei einer Bob Wilson-Inszenierung. Klar, der hätte auch nem Piccoli den kleinen Finger persönlich abgehakt, hätte der sich erdreistet, den Spreizwinkel des selben am 23. Abend um vier Grad zu verändern.
Jener vollfingrige Piccoli sagt heute also: „Beim Film ist der erste König der Autor, der zweite der Regisseur, und erst dann kommt der Schauspieler. Aber beim Theater ist, sobald sich der Vorhang gehoben hat, der Schauspieler ganz allein der König.“
Auch wenn der König manchmal von den anderen gespielt wird, setzt er doch gerne mal die Regeln.
Nein, ich ging hier vom Empfinden eines Filmregisseurs aus. Der schmeißt im Schnitt schon mal komplette Stränge oder Figuren raus, eliminiert etwas, das er für misslungen oder unpassend hält, durch einen Schnitt auf das Gegenüber, notfalls mit einem Close Up. Da hat er auf dem Theater keine Chance.
Ich unterstelle ja weder Unfähigkeit, noch Größenwahn, noch fiese Absicht. Aber ich hätte gerne mal ein Video von einer Premiere mit einem der Vorstellung vor der Dernière verglichen. Das soll sich nicht entwickeln?
Es soll keinen Abend geben, an dem einer der Kollegen mal drüber ist? Es soll nicht passieren, dass es Hänger gibt, technisch was hängt, man mal kurz überbrücken muss, es soll nicht vorkommen, dass jemand erst im Spiel eine Nuance in seiner Figur entdeckt, die in der Probe noch verborgen war? Es soll sogar fiese Arschlöcher geben, die aus niederen Beweggründen einen zu Recht verhassten Kollegen mal hängen lassen oder defokussieren.
Wenn immer alles so gleich wäre… Vor ein paar Jahren sah ich mal in einem großen Theater in Wien Arthur Schnitzlers „Der Reigen“. Hat mir gefallen. Am nächsten Tag traf ich zufällig die Hofsouffleuse (oder Geheime Staatssouffleuse, darunter tut man es in diesem Haus selten). Die brach fast in Tränen aus, als ich ihr sagte, was ich am Vorabend gesehen hatte. Da habe ich aber ein Riesenglück gehabt, das sei seit langem die beste Vorstellung dieser Inszenierung gewesen.
Also noch mal: Kein Zweifel an der Professionalität in Dortmund. Ich würde Schauspieler hassen, die das Stück jeden Abend selbstständig neuinterpretieren, möglichst ohne die Kollegen vorher zu fragen. Solange nicht irgendein Mime plötzlich in TV-Talkshows geht und mir jetzt den Nationalsozialismus, den 30-Jährigen Krieg oder Gott an und für sich erklärt, weil er gerade die passende Rolle hat, bleibe ich da auch ganz ruhig und entspannt.
Endlich erklärt mir mal einer meinen Arbeitsplatz . Ich freue mich über die kundige und ausführliche Antwort . Jedoch bin ich mir sicher das es den einen oder anderen gäbe der die Ausführungen von m. Piccoli gerne diskutieren würde. Ich persönlich liebe ranking.
LGLG