An der Philosophischen Fakultät der HU-Berlin möchte man selbst bestimmen können, wer Antisemit ist. Schon immer beschäftigte Berliner Professuren nämlich die Judenfrage. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.
Er ist Professor der Philosophie an der HU Berlin, also auf jeden Fall Mann des Fachs. Und da Professoren an Berliner Universitäten schon früher häufiger auffielen, weil sie sich akademisch ausgiebig mit der sogenannten Judenfrage befassten, deren Lösung man ja nicht dem Pöbel überlassen wollte, was unter anderem zum „Berliner Antisemitismusstreit“ führte, verwundert es nicht, dass man sich auch heute an der Philosophischen Fakultät bemüht, die definitorische Deutungshoheit zu behalten.
Wie man „Antisemitismus“ definieren sollte, ist eine schwierige, offene und vor allem genuin akademische Frage. Wenn Thiel meint, sie mit ausschließlich politischen Argumenten beantworten zu können, verzwergt er das Feuilleton der @faznet auf NZZ-Niveau.https://t.co/B1TGl9DfYh pic.twitter.com/zOICBJLm6h
— Tobias Rosefeldt @rosefeldt.bsky.social (@RosefeldtTobias) May 31, 2024
„Berliner Antisemitismusstreit“ war im 19. Jahrhundert. Im 20. dann kam das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, und in Folge „verlor“, wie es auf einer Seite der HU heißt, der universitäre Lehrkörper in Berlin „280 von 797 Mitgliedern“. Erinnert sei an dieser Stelle auch an die immer wieder zu vernehmende selbstbemitleidende Rede vom „Aderlass“, der Deutschland durch Ermordung und Vertreibung seiner jüdischen Intelligenzija zugefügt worden sei, so als sei Deutschland Opfer und nicht Täter gewesen und als bemesse sich der Wert eines Menschenlebens darin, wie verwertbar dieses für das deutsche Kollektiv gewesen sei.
Widerstand? Eher weniger:
„Die eher verständnisvolle Reaktion der nicht-jüdischen Kollegen gegenüber den Entlassungen belegt 1933 erneut auch den starken und kontinuierlichen Antisemitismus der Berliner Universität. Die Universität ergriff nicht Partei für ihre Amtskollegen, sondern für die deutschen Studenten und Jungakademiker, die ihre Karriere durch die jüdische Konkurrenz gefährdet sahen und sich an den Stellen der Entlassenen schadlos hielten.“
Handelte es sich, fragt man sich inzwischen, sicher um Antisemitismus? Wurde dieser Text ordentlich von Experten geprüft? Könnte es sich nicht in einigen Fällen auch um Motivationen handeln, die nicht mit Sicherheit irgendeiner akademischen Antisemitismusdefinition zugeordnet werden können?
Denn selbstredend ist es eine furchtbar schwierige und nur von Fachleuten nach Dutzenden von Meetings, Tagungen, Konferenzen und Workshops beantwortbare Frage, was Antisemitismus denn nun eigentlich sei. Solange setzt man das Wort am besten auch in Anführungszeichen. Denn offen ist die Frage ja auch, das sollte an dieser Stelle noch einmal betont werden. Deshalb braucht inzwischen auch jede Klitsche ihren eigenen, am besten in Berlin ausgebildeten, Antisemitismusbeauftragten, der dann akademisch geschult im jeweiligen Einzelfall fachlich entscheidet.
Mitunter erübrigt sich für die Experten gar die Frage selbst. So meinte Wolfgang Benz, ehemals Leiter des sogenannten Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, in seinem Buch „Was ist Antisemitismus?“:
„War Treitschke ein Antisemit? Die Frage wurde in mancher Abhandlung mit Scharfsinn behandelt und so oder so beantwortet. […] Die Frage, ob Treitschke ein Antisemit war und willentlich den Antisemitismus förderte, ist angesichts der Wirkung seiner Worte also ganz unerheblich und ebenso unerheblich ist das Mutmaßen darüber, ob Jürgen Möllemann ein Antisemit gewesen ist.“
Dass derweil diejenigen, die von Antisemitismus, egal wie er nun akademisch definiert ist, so betroffen sind, dass sie inzwischen wieder um ihr Leben fürchten müssen, ist hingegen natürlich keine Frage für die Fachleute der Akademien.
Jüngst erschien in der Jüdischen Allgemeinen und in der Welt unter dem Titel „Antisemitismus: Berlin ist gekippt“ ein Artikel von Sophie Albers Ben Chamo, in dem sie beschreibt, was es für Juden bedeutet, heute in der Stadt zu leben, in der vor gar nicht so langer Zeit die Endlösung geplant wurde:
„Immer schneller ziehen sich die Angstkreise auf jeden Einzelnen zurück. Enger und enger werden sie. Und während man dem Tinnitus lauscht, in der Hoffnung, dass er leiser wird, brüllt die Welt in Dankbarkeit, endlich wieder hassen zu dürfen. Wobei es niemanden schert, wer die Erlaubnis dazu gibt.
Während der Bewegungsradius schrumpft, wächst ein Getto, von dem die Juden dachten, dass es nie wiederkommt. Bis es nur noch die eigenen Gedanken sind, die man kontrollieren kann. Und die Macht, die bleibt, ist es, wie man auf Horror und Angst reagiert. Der nächste Schritt muss es sein zu erkennen, dass genau darin die Stärke liegt.“
Vermutlich liest man so etwas gar nicht in der Philosophischen Fakultät, und wenn, dann mit spitzen Fingern: So viel Emotionalität, Mangel an akademischem Jargon und am Ende gar auch noch auf verzwergtem NZZ-Niveau?
Zum Glück gab es auch andere, deshalb sei an dieser Stelle an Theodor Mommsen erinnert, der sich im sogenannten „Berliner Antisemitismusstreit mutig gegen Figuren wie den Herrn Prof. „Die Juden sind unser Unglück“-Treitschke stellte.
Mommsen wiederum hinterließ ein paar Jahre, bevor er verbittert starb, eine Art Testament, aus dem diese Zeilen stammen:
„Politische Stellung und politischen Einfluss habe ich nie gehabt und nie erstrebt; aber in meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommen.“
Der Text erschien bereits in der Jungle World