Am Mittwoch wurde Volker Beck in der Synagoge Bochum mit der Otto-Ruer-Medaille der Jüdischen Gemeinde geehrt, die Laudatio hielt Richard C. Schneider: „2024 brauchen Juden in Deutschland viele Volker Becks.“
Eine Stadtgesellschaft, die feiert in einer Zeit, „in der wir der antisemitischen Attacken in diesem Land nicht mehr Herr werden“? Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, stellte vor die Frage, die sich seit 10/7, den Massakern der Hamas, jeden Tag stellt: Wer ist Wir? 19 % der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen leugneten den Holocaust oder relativierten ihn, erinnerte Lehrer an die Ergebnisse der kürzlich vorgelegten Studie „Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft NRW“, 12 % seien überzeugt, die jüdische Religion erlaube den rituellen Mord an Kindern. Und geben dies ungeniert zu Protokoll. Offenbar, so Lehrer in seinem Grußwort zur Verleihung der Dr.-Otto-Ruer-Medaille an Volker Beck, den Präsidenten der Deutsch-israelischen Gesellschaft (DiG), „haben wir etwas grundlegend falsch gemacht“.
Wir? Wer ist Wir? „Am Ende beging er Selbstmord, das war 1933.“ Mit dem ersten Satz seiner Laudatio erinnerte Richard C. Schneider daran, wie allein und verlassen Otto Ruer – vor genau 100 Jahren, am 31. Oktober 1924, zum Oberbürgermeister der Stadt Bochum gewählt – wie verlassen Ruer nach mehr als acht erfolgreichen Jahren war, nur weil er Jude war: „Wann hat es begonnen, lebensgefährlich zu werden?“ Und spätestens mit dieser Frage des langjährigen Israel-Korrespondenten der ARD, der, weil erkrankt, per Video zugeschaltet war, trat einem Hannah Arendt vor Augen: Das Problem im Jahr 1933, hatte die Philosophin 1964 im Interview mit Günter Gaus erklärt, „das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten.“ Alle, die sich dem Zeitgeist „gleichschalteten“.
Schneider zitierte Arendt nicht, sondern erinnerte Punkt für Punkt an das, was Volker Beck, 1994 bis 2017 Mitglied der GRÜNEN-Fraktion im Deutschen Bundestag, an politischer Kärrnerarbeit gegen den Geist der Zeit geleistet hat: an seinen Einsatz für jüdische Kontingentflüchtlinge aus den Staaten der untergegangen Sowjetunion, die im Renten- und im Staatsbürgerschaftsrecht verstörend schlechter gestellt werden als sog. Russlanddeutsche; an den Härtefonds, den das Bundeskabinett nach jahrelangem Gezerre eingerichtet hat, um jüdische Altersarmut in Deutschland zu bekämpfen – in „völlig unzureichender Höhe“, wie Beck seinerzeit klarstellte, „für 2500 Euro bekomme man ‚noch nicht einmal einen Grabstein‘“; an seinen Einsatz für die Erinnerung an die Shoah wie auch an die Verfolgung der Homosexuellen; an sein Engagement für eine Entschädigung der Zwangsarbeiter … „Es sollte eigentlich alles selbstverständlich sein“, merkte Beck später in seiner Respons dazu an, also warum Volker Beck ehren? Frage von Schneider, Antwort:
„Wir ehren seinen Mut.“ Nach 10/7 sei der Antisemitismus „auch in gehobenen Kreisen“ explodiert, „wer sich diesem Zeitgeist entgegenstellt, der riskiert etwas. Ich wiederhole: Wer sich diesem neuen Zeitgeist in der demokratischen Bundesrepublik entgegenstellt, der riskiert etwas“, riskiere Hass, Häme, Bedrohung, „bestenfalls wird er ausgegrenzt“. Volker Beck, so Schneider weiter, „ist ein mutiger Mensch. 1933 hätte Otto Ruer viele mutige Menschen gebraucht, 2024 brauchen Juden in Deutschland viele Volker Becks.“
Typisch für ihn, wie er in seiner Rede sofort auf die Handlungsebene zurückkehrte: Dass es, handwerklich gesehen, keine große Mühe bedeutete, jüdische Kontingentflüchtlinge rentenrechtlich gleichzustellen; dass es keine Mühe machte, einem so unerträglichen Ruf wie „Tod Israel!“ strafrechtlich zu begegnen und ebenso wenig Mühe, antisemitische Inhalte aus der Kunst- und Kulturförderung auszuschließen, so etwas ließe sich per Haushaltsordnung regeln, das sei „gar nicht so schwer“, wie es denn auch ein Leichtes sei, das Hochschulgesetz so zu ergänzen, dass jüdische Studierende an jüdischen Feiertagen keine Prüfungen ablegen oder Klausuren schreiben müssten – die Ruhr-Uni Bochum habe diesen Rechtsanspruch jüdischer Studenten „als eine der ganz wenigen Hochschulen in Deutschland“ durchgesetzt: Vorher habe Weltuntergangsstimmung geherrscht, erzählte später die Rektorin der RUB, Christina Reinhardt, „jetzt läuft es problemlos“.
Umso mehr die Frage, warum Beck nur wenige Mitstreiter wie Reinhardt gefunden hat, woher dieser zähe Widerstand, sobald es – wie in dem nun offenbar beigelegten Streit um die Antisemitismus-Resolution des Bundestages – darum geht, Antisemitismus effektiv einzuhegen? Am Ende schloss Beck an Abraham Lehrer und dessen Feststellung an, es sei etwas „grundlegend falsch“ gelaufen: „Wir müssen eine Ebene tiefer“, so Beck, dorthin, wo sich eine Denkfigur eingenistet habe, die eigene Identität nicht dialogisch, sondern in Ab- und Ausgrenzung jüdischer Identität entwickele. Eine Denkfigur, die sowohl im christlichen wie säkularen Antisemitismus grundlegend sei, grundlegend falsch.
Diese identitätspolitische Diagnose – Beck deutete sie nur kurz an; Holz/Haury haben sie zum hermeneutischen Schlüssel gemacht dafür, „Antisemitismus gegen Israel“ zu erklären – stellte ein weiteres Mal vor die Frage, wer ist wir und wer nicht. Seinen Schlusssatz formulierte Beck in der 1. Person Plural:
„Antisemitismus schaffen wir nicht aus der Welt. Aber dass ihm widersprochen wird, das können wir schaffen.“
Ein dringender Wunsch fürs neue Jahr 5785. Schana tova wünschte Grigory Rabinovich der Stadtgesellschaft, die er, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen, zum anschließenden Empfang in den Paul-Spiegel-Saal lud, an den Wänden dort die Bilder der Geiseln, die Hamas verschleppt hat.
Jüdische Gemeinde Bochum ehrt Volker Beck mit Otto-Ruer-Medaille