Wer will „Paro“ kennenlernen?

 

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Foto: Cristóbal Márquez

Ein Interview mit Julian Gerhard zum Projekt „Die Vergessenen“ von Lu Rieland

Paro ist die Robbe, die man auf dem Bild sieht. Ich sage: eine! der Hauptattraktionen von Julian Gerhards neuem Projekt am Mo, den 28.11.16 in der Stadtbücherei in Bochum. Nachdem man zuletzt im Zusammenhang mit leuchtenden Würfeln auf dem Bochumer Rathausvorplatz (Projekt „Lighthouse Square“) und integrierter, authentischer Arbeit mit Flüchtlingen von Julian Gerhard hörte, bietet der Absolvent „Szenischer Forschung“ Interessierten nun gemeinsam mit einem Künstlerkollektiv eine intensive Auseinandersetzung zum Thema Demenz in Form eines Szenischen Essays zum Mitfühlen an. Mitfühlen deshalb, weil eine großes Augenmerk auf den individuellen Erfahrungen und Perspektiven der Erkrankten selbst liegt, aber auch deren Angehörige spielen eine Rolle. Nach dem Erfolg von „Vater“ im Schauspielhaus bin ich mir sicher, dass sich auch durch „Die Vergessenen“ unsere Wahrnehmung im Hinblick auf diese komplexe Krankheit erweitert.

 

Ja, es ist ja noch nicht so lange her, dass wir uns das letzte mal über ein Projekt von dir unterhalten haben. Also, sei erneut gegrüßt. Das allerwichtigste: Gib mir die Robbe während wir reden.

Lacht. Ja hier gerne. Mal sehen, ob sie dich beim Gespräch beeinflussen wird.

Paro ist jetzt am Mo., den 14.11.16 bei dir eingezogen. Was hat es mit der Robbe auf sich? Ich hörte, dass sie in Japan schon der Renner sei.

Roboter, sprich auch Paro, sind dort nicht so negativ konnotiert wie hier. Der demografische Wandel der Gesellschaft ist in Japan weiter fortgeschritten, die Gesellschaft ist noch stärker überaltert als unsere – Demenz hat noch mal eine höhere Dringlichkeit. Die Robbe wurde mir dankbarerweise von einer Forschungseinrichtung in Duisburg geliehen. Sie ist extrem streitbar, weil mit ihr nichts Geringeres als der „Austausch“ von Zuneigungen vorgespielt wird. (Anmerkung der Autorin: Robbe Paro quietscht die ganze Zeit und wackelt auf meinem Schoß rum. Julian nimmt jetzt Paro an sich, hält sie dann im Arm wie ein Baby, das ein Bäuerchen machen soll.)

Warum ist dir das Thema Demenz so wichtig?

Mich hat es nie losgelassen, da ich selbst in der Dementenbetreuung eines Altenheims meinen Zivildienstes gemacht habe. Es handelt sich um eine enorm relevante Thematik und doch verschließt man mehrheitlich die Augen davor und lagert die Betroffenen an die Ränder unserer Gesellschaft aus. Das sollte man kritisch hinterfragen. Es gibt immerhin ein Recht auf Inklusion – gleichzeitig scheint es aber immer normaler zu werden, Menschen in abgeriegelte Areale zu verschaffen, wo sie praktisch keinen unmittelbaren Kontakt mehr zur Gesellschaft haben. Zu denken, dass das schon irgendwie okay sei, ist eine krasse humanitäre Fehlentwicklung. Des Weiteren liefert Demenz so viele Ebenen zum Nachdenken und zeigt schlichtweg einmal mehr auf, wie hart das Leben sein kann. So freuen sich viele auf das Alter und darauf, endlich eine schöne Zeit fern des Berufsalltags mit dem Partner verleben zu können und dann passiert es eben.. Jeder könnte dement werden. Ich habe den Wunsch, dass man einmal darüber nachdenkt, wie man dann selbst leben will, wenn es mit einem passieren würde. Über unsere Art, szenisch zu arbeiten, erhoffe ich mir für die Gäste die Möglichkeit eines besonderen emotionalen Zugangs zum Thema. (Robbe schläft scheinbar.)

Erzähl mir von den Menschen, die bei „Die Vergessenen“ mitmachen. Wieso liegt deinen Kollegen das Thema am Herzen?

Ach, jeder hat dazu seine eigenen Gedanken und Gründe und die muss ich gar nicht im Detail wissen. Mir ist wichtig, dass man Freude bei der Auseinandersetzung mit einem Thema mit gesellschaftlicher Relevanz hat. Wir haben ja viel dabei: Animationsfilme, Live-Musik, Schauspiel, Bühnenbild.. Alles beeinflusst sich gegenseitig. Jeder muss da auch mit seinen Ängsten in Berührung kommen, um wirklich künstlerisch arbeiten zu können. (Julian legt seinen Kopf auf Paro ab.) Jeder muss sein eigenes Sujet entwickeln, seinen eigenen Plan während dieses Prozesses – das ist das Wichtigste. Es zählt da weniger die eigene Meinung, sondern die Kunst die daraus resultiert und der Raum, den sie sich als autonome Ideenwelt verschafft.

Du hast mir ja schon vor Monaten von deiner Begeisterung für „Vater“ am Schauspielhaus erzählt. Hat dich die Inszenierung in deiner eigenen Kreativität beeinflusst?

Das ist schwer zu sagen. Ich hatte die Anträge schon vor der ersten Aufführung geschrieben und kannte das Stück zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht. Also bewusst glaube ich nicht, dass es mich beeinflusst hat, sonst müsste ich jetzt echt lügen. Ich denke aber, dass bei „Vater“ eine adäquate Form gewählt wurde, um dem Thema zu begegnen. Man hat ja bspw. versucht mit Zeitsprüngen zu verdeutlichen, wie es um den Protagonisten bestellt ist, man sollte seiner Lebensrealität näher kommen und das hat funktioniert. Ich habe versucht anders zu arbeiten: Es handelt sich um verschiedene Medien, die miteinander in Bewegung geraten. Wir blicken nicht auf einen bestimmten Charakter, sondern auf das Phänomen insgesamt, am Ende blickt man auf sich ganz persönlich als potentiell Betroffenen. Das Thema wird auf verschiedenen Ebenen beleuchtet, auch werden Behauptungen aufgestellt, an denen man sich reiben darf. Wissenschaftler streiten sich permanent – vor allem in der Demenzforschung – aufgrund der Behauptungen, die sie tagtäglich von sich geben. Künstler sollten selbstbewusst zum Behauptungsjungle beitragen, niemand darf den Eindruck erwecken, nur er allein wüsste was zum Beispiel „Würde“ im Zusammenhang mit Demenz bedeutet. Wir können nicht in den Nebel der Demenz treten und wieder zurückkehren, um zu berichten. Eine abgeschlossene Wahrheit darüber kann es in „dieser Welt“ gar nicht geben.

Ist das Projekt vielleicht für Berufstätige im Altenpflegebereich besonders interessant?

Unser Projekt ist nicht für jemand Bestimmtes gemacht. Menschen sind so verschieden. Ich würde mich aber auch vor niemandem verschließen, wenn uns jetzt z.B. eine Einrichtung einladen würde, würde mir das gar nicht mal schlecht gefallen. Ich freue mich über Ansichten derer, die tagtäglich ganz direkt mit Demenz zu tun haben. Mir ist aber auch aufgefallen, dass hier Meinungen oft festgefahren sind und manche denken, das Thema komplett verstanden zu haben. Häufig haben sie bei ihrem vermeintlichen Erkenntnisprozess gleichzeitig einen gewissen Missionierungszwang entwickelt. Auch sind mir immer wieder solche begegnet, die gerne detektivisch unterwegs sind – die stochern dann beim Schwätzchen mit den Angehörigen in den Biografien der Betroffenen herum und kommen so ernsthaft auf die Lösung, warum Erna denn nun genau immer wieder die Vorhänge abzureißen pflegt. Das ist manchmal sehr abenteuerlich und erinnert an esoterische Traumdeutungsversuche, in denen das eine immer für das andere steht – eine glasklare Antwort garantiert! So sind Menschen aber nicht. In „Die Vergessenen“ ist jedenfalls nicht glasklar, sogar milchig wäre da etwas zu viel versprochen.

Ja, ich freu mich darauf. Was möchtest du unseren Lesern noch sagen?

Mir ist am wichtigsten, dass die Menschen, die zu unserer Aufführung kommen, nicht denken, dass es sich um eine Infoveranstaltung handele. Auch ist es kein klassisches Theaterstück, sondern halt ein Szenisches Essay – eine andere, nicht etablierte Form des thematischen Umkreisens. Mein Wunsch ist einfach, dass das was die Zuschauer über Demenz zu wissen meinen, mit dem was wir präsentieren in Berührung kommt und dann vielleicht zu kämpfen oder tanzen beginnt. Wenn man meint Demenz zu kennen, dann weiß man immer nur um spezifische Beispiele, aber sie unterscheiden sich alle untereinander immens. Des Weiteren bin ich immer interessiert an Erfahrungsberichten – das Stück soll auch nach der Premiere offen für neue Impulse bleiben.

Herzlichen Dank.

Ja, sehr gerne. (Kuschelt immer noch, Paro gibt einen merkwürdigen Laut von sich).

 

Performance: Raphael Souza Sá, Muhammad Fakher

Live-Musik: Gisbert zu Knyphausen

Animationsfilm: Julia Zejn

Bühne: Wiebke Strombeck

Audio-Dokumentation: Stefanie Heim

Buch, Inszenierung: Julian Gerhard

Datum: 28. November 2016, 19 Uhr. Zentralbücherei Bochum

Link zur Facebook-Veranstaltung: https://www.facebook.com/events/272437583150364/?active_tab=discussion

Unterstützt von: Kulturbüro Bochum, NRW Kultursekretariat, Kunststiftung NRW

Karten: tickets.die.vergessenen@gmail.com (10€)

 

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