Die jüngsten Ereignisse in Chemnitz liefern in der Tat einigen Grund zur Sorge. Gar keine Frage. Auch mich haben die vor Hass und Wut strotzenden Bilder aus der vergangenen Woche entsetzt. Wirklich überraschen kann einen diese Entwicklung jedoch grundsätzlich nicht.
Zudem sehe ich in den quer durch die gesamte Republik emotional diskutierten Aufnahmen aus Sachsen keinen Beleg für eine deutliche Zunahme von Rechtsradikalismus. Viele sehen das vielleicht anders. Rechtes Gedankengut hat es in der deutschen Gesellschaft aber doch immer schon in erheblichem Masse gegeben. In Alltagsgesprächen entdeckt man das recht häufig, wenn man sich mal die Mühe macht und darauf achtet, bei seinem Gegenüber mal ein wenig zwischen ‚den Zeilen‘ liest.
In einer Gesellschaft in der der erwirtschaftete Wohlstand jedoch möglichst gerecht verteilt ist, da ist dies im Regelfall dann aber im Alltag kein wirklich großes Problem, da es sich um eine klare Minderheit handelt, die die Gesellschaft durchaus aushalten kann und meiner Meinung nach auch muss.
Sind die Leute mit sich und ihrem Leben weitestgehend zufrieden, dann neigen sie meiner Erfahrung nach nämlich deutlich weniger zu radikalen Sprüchen und Handlungen.
Daher bereitet mir in diesem Zusammenhang auch eine andere Meldung der letzten Woche in ihrer Konsequenz und Tragweite deutlich mehr Sorgen, als die jüngsten Nachrichten aus Sachsen. So schlimm diese einzeln betrachtet ja seien mögen.
Denke ich an die langfristige Entwicklung in diesem Lande, dann finde ich es viel bedenklicher, dass die Anzahl der befristeten Arbeitsverhältnisse, und das wurde nur vergleichsweise nebenbei berichtet, aktuell ein neues Rekordniveau erreicht hat. Denn da besteht aus meiner Sicht durchaus ein direkter Zusammenhang zu den erschreckenden Bildern aus Chemnitz.
Arbeitnehmer, die hierzulande eine neue Stelle antreten, wurden in 2017 in 41% der Fälle lediglich mit einem zeitlich befristeten Arbeitsvertrag ausgestattet. Ein neuer Höchstwert. Gerade junge Menschen unter 25 Jahren sind demnach mit 46 Prozent besonders häufig von einer Befristung ihres Kontrakts betroffen.
Zusätzlich zu bedenken gilt es in diesem Zusammenhang ja auch noch die grundsätzliche und schon länger andauernde Tendenz in diesem Lande hin zu immer mehr Niedriglohnjobs, zum inzwischen fest etablierten Mindestlohn.
So werden auf Dauer eben Lebensbedingungen für Millionen von Menschen geschaffen, die eine langfristige Zukunftsplanung zumindest deutlich erschweren, die den Aufbau des eigenen, einigermaßen abgesicherten Lebens vielfach gar unmöglich machen.
Wer es, und sei es nur kurzzeitig, einmal selber in der eigenen Familie miterlebt hat, der wird das leicht nachvollziehen können. Die Leute verändern sich, wenn ihnen die Sicherheit im Alttag, die Teilnahme an Freizeitaktivitäten und Perspektive genommen wird.
Ich bin fest davon überzeugt, dass diese gesellschaftlichen Entwicklungen, die es ja schon seit Jahren zu beobachten gibt, am Ende sogar die Hauptursachen dafür sind, dass solche Auswüchse wie sie kürzlich in Chemnitz zu beobachten waren, in diesen Zeiten scheinbar immer häufiger auftreten.
Die Leute sind in großer Mehrheit gar keine überzeugten Nazis. Viele haben schlicht Angst vor der Zukunft. Sie glauben, sie müssten das wenige was sie haben gegen andere Verteidigen, die noch weniger haben. Sie sind lange schon neidisch auf die, die scheinbar auf der anderen Seite der Gesellschaft stehen. Seien es Politiker oder auch ‚die Medien‘, bei denen sie sich mit ihren Ängsten und Bedürfnissen nicht entsprechend ernst genommen und vertreten fühlen.
Diese Menschen fühlen sich vielfach schlicht vom Leben um ihre faire Chancen betrogen. Das schafft viel Wut und Unsicherheit. Ein Weg diese zu äußern, wenn natürlich auch ein völlig falscher, ist der jetzt in Chemnitz auf erschreckende Art und Weise dargebotene.
Denkt man an die fatalen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, dann finden sich da durchaus etliche Parallelen.
Um den Einfluss rechter Fanatiker und Scharfmacher in Zukunft wieder deutlich zu reduzieren, dazu dürfte es mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterhelfen, die Gesellschaft hierzulande wieder deutlich gerechter aufzustellen.
Die aktuell in Auflösung befindliche Mittelschicht, die noch in den 1960er bis 1980er-Jahen so bestimmend für das Klima in Deutschland war, die muss dringend gestärkt werden. Die viel zitierte ‚Schere‘ in unserer Gesellschaft darf nicht noch weiter auseinandergehen. Denn das würde die Radikalisierung am politischen Rand nur weiter verstärken, dann irgendwann zu einer tatsächlichen Bedrohung für uns alle werden.
Ein erster Schritt wäre es, und da schließt sich der Kreis für mich dann wieder, die Arbeitswelt baldmöglichst spürbar gerechter zu machen. Ein Teil davon wäre eine deutliche Reduzierung der Anzahl von befristeten Arbeitsverträgen. Viele Leute würde alleine das merklich beruhigen und am Ende zudem entradikalisieren. Davon bin ich felsenfest überzeugt.
In Chemnitz hat mich primär betroffen gemacht, dass ein Mensch durch Messerstiche getötet wurde. Ferner gab es 2 weitere Personen mit schweren Verletzungen.
Dieser Sachverhalt geht aktuell zu oft unter!
Das ist ein Sachverhalt, der natürlich auch viele andere Menschen betroffen macht, und sie suchen einen Weg ihre Trauer/Angst zu zeigen.
Diese Stimmung wurde dann genutzt, um ein politisches Programm oder einfach nur Gewalt auszuüben. Dass hierbei die Fußballchaoten vorne dabei sind, sorgt bei meinem Schubladendenken schon gleich wieder für das passende Bild.
Erschreckend ist für mich, dass es eigentlich immer noch wenige belastbare Fakten aus Chemnitz gibt:
– Grund der Messerstecherei
– Historie der Inhaftierten
– Umfang und Art der strafbaren Handlungen während der Demos bzw. in deren Umfeld
Für mich gab es viele Gründe, weshalb Chemnitz in den letzten Tagen ständig in der Presse ist. Ein großer Grund ist für mich, dass die Polizei einfach sehr schlecht aufgestellt ist.
Hat die Zahl die befristeten Jobs damit zu tun?
Vermutlich eher marginal. In einer Gesellschaft, in der man einfach neue Jobs bekommt, ist es egal, ob Verträge befristet sind. Aktuell ist dies zumindest in meinem Umfeld der Fall. Der Zustand ist bekannt. In Dortmund gibt es Unternehmen, die suchen. Natürlich oft zu Bedingungen, die nicht optimal sind. Aber wo ist das aktuell der Fall?
Bestandskunden/Bestandsarbeitnehmer interessieren nicht. Nur Neue sind interessant und erhalten tolle Angebote. Dieser Situation muss man sich anpassen.
Dies zeigt für mich eher, dass das große Thema "Fachkräftemangel" wohl nicht wirklich angekommen ist und dass der Mensch immer noch nicht interessiert.
Die Arbeitswelt und das Thema Arbeitskräfte ist kaum noch nachvollziehbar.
Heute gab es im Focus einen Bericht über einen Berliner Wirt, der seine Existenz bedroht sieht, weil seine Köche von Abschiebung bedroht sind.
https://www.focus.de/politik/deutschland/in-moabit-berliner-wirt-bangt-um-seine-existenz-weil-koeche-von-abschiebung-bedroht-sind_id_9471148.html
Wie passt das alles zusammen?
Dann gibt es noch die vielen Selbständigten, die mit Kleinstunternehmen abhängig aktiv sind.
"-Grund der Messerstecherei"
Eine Messerstecherei ist eine Auseinandersetzungzwischen mehreren mit Messern bewaffneten Personen. Das ist hier nicht passiert. Die einzigen, die bewaffnet waren, waren die zehn Angreifer.
Laut Ortner-Online war es ein Raubmord. Die drei Opfer wurden überfallen als sie Geld holten.
Zur Vergangenheit des Haupttäters musste sich sogar die Tagesschau äußern. Und laut DLF Interview mit dem Chefredakteur des Chemnitzer Morgens ist bei der sog Hetztjagd sehr viel weniger passiert als die Massenmedien berichten. Was diese nicht daran hindert den Begriff weiter zu benutzen. Mann will sich ja nicht seine Meinung über Sachsen von Fakten kaputt machen lassen.
@2 Gerd:
Der Begriff Messerstecherei passt und wird auch in anderen Fällen verwendet.
https://de.wikipedia.org/wiki/Messerstecherei
Sachsen hat die Möglichkeit, Fakten zu veröffentlichen und die Bevölkerung zu informieren. Das tun sie zurzeit nicht. Hiebei interessieren Infos über die wohl noch flüchtigen anderen Tatbeteiligten der Messerstecherei und die Straftaten im Umfeld der Demos. Dabei wird es auch darum gehen, dass die Polizei nicht eingegriffen hat.
Der Umgang mit den Ostdeutschen war bis weit in die Nachwendezeit eine einzige Demütigung. Sieht man wie sog. Flüchtlinge gepudert werden, wie man ihnen Neubauwohnungen zur Verfügung stellt, die vom Land gefördert werden, wie man plötzlich im Außenbereich ( die heilige Kuh im Baurecht) für Flüchtlingsunterkünfte Baugenehmigungen erteilt, wie plötzlich modernste Architektur bei Mini und Microhäuser für Flüchtlinge umgesetzt wird – während man "uns" Jahrzehnte sagte, dass das nicht geht. Die "Ossis" hat man Jahre in sinnlosen 1€ Jobs dahinvegetieren lassen, man hat "anständige" Leute in Jobcentern gedemütigt, man hat sie auf die unterste soziale Stufe gedrückt – den Mainstream hat das so gut wie nicht interessiert. Die Großzügigkeit mit der die Bundesregierung jetzt agiert – diese Milliarden wurden "uns" in den letzten 20 Jahren abgepresst – und sie werden es noch heute.
In Kommentar #4 lässt sich eine interessante Entdeckung machen: Schrödingers Ostdeutscher, bezieht Leistungen und wird gleichzeitig dabei (natürlich wegen der Flüchtlinge, das obligatorische "sogenannte" darf sich der rechtspopulistisch geneigte Leser natürlich selber dabeidenken) vom Staat ausgenommen.
Mal zum Thema: Der Anteil echter befristeter Beschäftigung – also ohne Verlängerungs- oder Übernahmeoptionen – an der Gesamtbeschäftigung ist seit den Achzigern, als die Liberalisierung des Arbeitsmarktes zwecks Abbau der Arbeitslosenzahlen stark erweitert wurde, mit einem Abschwung um die Jahrtausendwende auf ungefähr gleichem Niveau (zwischen 5 und 8 %), ändert sich also als konkrete Zahl linear mit der Gesamtbeschäftigungsquote:
https://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_121.pdf
http://www.statistiker-blog.de/archives/zeitvertrage/4852.html
Dass sich in neuen Industrien und Wirtschaftszweigen, die die meisten *neuen* Jobs generieren, die Einstellungs- und Beschäftigungspolitik der Unternehmen grundsätzlich wandelt, ist bekannt, aber nicht abhängig von Themen wie Niedriglohn oder Pseudo-Zeitarbeit. Wer in der Politik die befristeten Jobs eindämmen will, verlagert die Problematik aber wieder in den Zeitarbeitssektor. Niemand wird das Rad der Zeit so radikal zurückdrehen können, dass die Unternehmen wieder nur "auf Lebenszeit" einstellen werden, dazu sind auch die anderen Bestandteile unserer
Lebensgestaltung viel zu individuell geworden und entsprechen nur noch zu marginalen Anteilen dem ehemaligen Ideal von Lehre, Job, Heirat, Häuslebau und Rente möglichst an einem Ort.
Dass sich Arbeitnehmer in der westlichen Welt sehr viel intensiver mit ständigen Veränderungen, beruflicher Weiterbildung und beruflichen Wechseln inkl. Umzügen befassen *müssen*, ist aber auch schon seit 30 Jahren auf eigentlich jeder Agenda in Schulen und Ausbildungsstätten ganz oben aktiv. Und ich sehe in meinem Umfeld nicht unbedingt die Sorge um den Verlust des *eigenen* befristeten Jobs, sondern mehr um den Verlust ganzer Branchen und Wirtschaftszweige, so dass man mit einer linearen Ausbildung kaum noch Chancen auf Anschlussjobs hat – siehe Bergbau.
Aber klar – das Thema wird aktuell natürlich politisch ausgeschlachtet, was ich persönlich nicht unbedingt als zielführend betrachte. Allein schon die Fragestellung der Linksfraktion und die von der Bundesregierung gelieferten Zahlen bieten statt Antworten nur noch mehr Fragen.