Wild und bescheiden, gefährlich und beschwerlich oder aufregend und komplex? Gab es richtig gutes Zeug? Hat der Bass geknallt? Unser Autor Peter Hesse hat ein Mix-Tape mit 10 Tracks aus dem Jahr 2019 zusammengestellt, die ihm eine Menge bedeuten. Zwischen Storytelling, Blues, Post-Rock, Hip Hop, flirrender Elektronik und Heavy Metal wird es so vielseitig, wie das Jahr auch war.
DEICHKIND – Richtig Gutes Zeug (DJ HELL REMIX)
Deichkind sind offen in alle Richtungen und stellen immer die richtigen Fragen. Vor zwei Jahren sagte mir Deichkind-Vordenker Porky mal im Interview für den coolibri: „Wir sind nicht so solche Klischee-Leute, die jetzt nur an einem Stil hängen – sonst hätten wir uns jetzt auch nicht von einem reinen Hip Hop Ding lösen können. Ich bin jetzt auch nicht nur ein stumpfer Rocker, der Pantera und AC/DC auflegt. Ich mag auch Jazz sehr und Afrikanische Musik. Heute morgen war ich hinterm Haus Holz hacken – und dazu lief der Soundtrack vom Film „Taxi Driver“, den der Komponist Bernhard Hermann komponiert hat.“ Deichkind haben ein Händchen dafür, die große Unsicherheit unserer Zeit in den richtigen Bass-Beton zu gießen – und mit überlebensgroßen Slogans auszustatten. Und sie holen sich die richtigen Remixer an Bord. DJ Hell hat diese Nummer noch mal besser gemacht. Ich habe kein Stück häufiger gehört in diesem Jahr, als diesen Track. Übrigens: DJ Hell tritt als drittklassiger Schlagersänger Helmut in der neuen Ruhrgebietskomödie ›Glanz, Gesocks & Gloria‹ von Filmemacher Gerrit Starczewski auf. Weltpremiere ist am 27. März im Bochumer UCI Kino. Das wird riesig!
MONOMYTH – Auster
Wochenlang habe ich das Album „Ordis Quadrantis“ von dieser holländischen Band im Auto gehabt und immer wieder in den CD-Schacht geworfen. Hier werden die Grenzen von Space-, Heavy- und Post-Rock neu gesetzt und mit viel eigener Textur ausgelotet. Und das gelingt ihnen wirklich ausgezeichnet. Angereichert mit Spookyness und noch mehr Psychedelic-Fragmenten kommt hier ein Bollwerk um die Ecke, welches dich als Zuhörer gefangen nimmt. Diese vier Songs liefern auf der kompletten Spielzeit ein wildes Wechselbad der Gefühle: ’Aquilo’ klingt, als hätte Steve Albini ein frühes Pink Floyd-Album produziert, bei ’Euros’fällt die Welt in 1.000 Stücke und wird mit Tangerine Dream-Keyboardflächen und ganz viel Heavyness zu einem facettenreichen Monster-Mosaik zusammengeschustert. Mein Favorit ist ’Auster’ – ein dynamisches und wunderschönes Panorama-Bild zwischen Session, Struktur und Allman Brothers Band.
DENDEMANN – Zauberland
Für sein neus Album „Da nich Für“ hat Dendemann im Hip Hop eine sehr eigene Marke gesetzt. Seine Samples unterfüttert er schon mal mit Werken von Hildgard Knef oder Heinz Erhard. Mit einem Vocal-Schnipsel von Rio Reiser hat er eine Art Remake von dessen Track „Zauberland“ erschaffen – nur das mit eigenen Reimen und Gedankenflüssen garniert. Dendemann ist auch im Interview ein feinfühliger und sehr aufgeräumter Gesprächspartner. Im Mai sagte er für eine bodo-Story zu mir in Richtung Claas Relotius: „Ich habe aktuell einen Weltschmerz-Peak erreicht, ich empfinde mich seit Tagen als extrem wütend. Und es bringt überhaupt nichts. Ich sage es auch ungern in Interviews, weil es immer wie ein Eigentor rüberkommt: ich bin auch unfassbar enttäuscht vom Journalismus und der dazugehörigen journalistischen Willkür. Dieser manipulativ aufgeschriebene und nach Zeichen gezählte Rotz, der schlecht abgerechnet in irgendeine Tastatur reingehauen wird – da gibt es viel zu viele Unverantwortlichkeiten.“
SAINT VITUS – 12 Years In The Tomb
Um Ostern herum spielte die US-Doom-Legende Saint Vitus im Dortmunder Club Junkyard – das ist ein ehemaliger Schrottplatz, der zu einer der schönsten Konzert-Locations des Ruhrgebiets umgebaut worden ist. Zugegeben: ich liebe Saint Vitus – und an diesem Abend hatten sie leichtes Spiel. Mit Spielfreude und noch mehr Energie zauberten die vier Rocker ein regelrechtes Feuerwerk auf der Bühne unweit der Dortmunder Actien Brauerei ab. Gitarrist Dave Chandler biss großschnäuzig irgendwann ins Griffbrett von seiner Gitarre und entlockte so seinem Instrument die unglaublichsten Sounds. Drummer Henry Vasquez ist im aktuellen Band-Line Up ein echter Killer, weil er sehr unterschiedlich und facettenreich trommeln kann: beim Song ’12 Years In A Tomb’ überzeugt sein Spiel mit schleichender Voodoo-Rhytmik auf den Floortoms, bei ’Hourglass’ kann er den jazzigen Swing-Style von Drumgott Ginger Baker sehr gut imitieren oder hackt zu Klassikern der Marke ’War Is Our Destiny’ seine Sticks zu kleinteiligen Grillanzündern. Auch Sänger Scott Reagers hinkte an diesem Abend in seiner Performance keinen Millimeter hinterher, er war gut bei Stimme und nippte zwischen den Songs an einem Becher Kamillentee. Diese Hardrock-Elder-Statesmen haben in 2019 zudem mit dem einfachen Namen „Saint Vitus“ ein tolles und vielseitiges Album vorgelegt, was sehr zu empfehlen ist.
NICK CAVE – Fireflies
Nick Cave war noch nie jemand, der seine Buchstabensuppe nur mit den vier Schriftzeichen-Nudeln „C“, „A“, „V“ und „E“ gekocht hat. Stets hat er sich neu erfunden und immer wieder gewagt, intelligent über den Tellerrand zu schauen. Der australische Sänger beschrieb seine Arbeit als Songwriter mal als ein Akt mit drei Phasen: „Anfangs will ich etwas schreiben“, so sagt Cave, „weiß aber noch nicht, wie ich es angehen soll. Dann sitze ich da und ärgere mich, dass mir nichts einfällt. Die zweite Stufe ist erreicht, wenn ich eine Idee habe. Ganz oft passiert das mitten in der Nacht, wenn ich aufwache. Die Nacht hat etwas Magisches für mich. Der dritte Teil ist dann die eigentliche Arbeit, die darin besteht, meine kleine Eingebung zu etwas Brauchbarem auszubauen.“ Urplötzlich wurde das geregelte Leben von Nick und seiner Frau Suzie vor vier Jahren aus den Angeln gehoben. Unter dem Einfluss einer großen Menge LSD stürzte sein 15jähriger Sohn Arthur am 14. Juli 2015 an der Südküste Englands ab und starb. Der Tod und die Drogen krachten real in das Leben und waren nicht nur die schwarze Maske in seinen fingierten Texten. Zwischen Storytelling, Blues, flirrender Elektronik und dunklen Chansons hat der Songwriter auch in der Gegenwart noch immer seine Berechtigung. Mit „Ghosteen“ ist Cave wieder mal ein epochales Werk gelungen. Und der Song „Fireflies“ kann wirklich Wunden heilen.
VULTURE – Beyond The Blade
Vulture sind fleischgewordener Heavy Metal. Ihr 2019er Album „Ghastly Waves & Battered Graves“ klingt wie eine Bedrohung. Sie prügeln nicht einfach in Überschall-Geschwindigkeit drauflos, sondern haben immer wieder coole Ideen, ihr Soundkorsett erfrischend aufzubocken. Natürlich haben sie Idole. Judas Priest oder Iron Maiden stehen hier als Patenonkel im Windschatten. Nur werden die alten Herren des Heavy Metal irgendwann abtreten und in Rente gehen. Und wenn Metaller in die Jahre kommen, kann es schon mal schwierig werden. Die Haare werden grau, die Songs klingen zu schnell unoriginell und tapsen zu nah am Klischee. Trotzdem glauben aber die angerosteten Silberrücken in ihrer Selbstwahrnehmung, sie hätten das Ei des Kolumbus im karierten Stiefmütterchen-Design noch einmal ganz neu erfunden. Vulture machen das besser. Sie sind jung, ungestüm und zücken das Schwert. Sie erobern sich den Platz als Heavy Metal-Thronfolger mit viel Feuer, Energie und einem wildem Speed-Gewitter. Mit mörderischem Tempo kommt die Band im Frühjahr 2020 nach Dortmund, um hier am Currywurst-Äquator ihr neues (und drittes) Album einzuhämmern. Ob sie ihre beiden Vorgänger-Alben dann noch mal toppen können? Hoffentlich!
DJ SHADOW – Rosie
„Wenn die Ironie gefallen ist, kommt das Pathos“, so ungefähr sagte Harald Schmidt mal in einem Interview vor 20 Jahren. Vermutlich wollte er nur eine Pointe setzen damals, er wusste nicht wie recht er mit seiner Aussage hatte. Die Gräuel unserer Tage hat die französische Autorin Virginie Despentes kürzlich auf den Punkt gebracht: „Die Austeritätspolitik in allen Ländern Europas ist ein Vernichtungskrieg, der alle sozialen Errungenschaften, die durch die Kämpfe der Bevölkerung im 20. Jahrhundert erreicht wurden, zerstören soll. Man will die europäischen Bevölkerungen auf das Armuts- und Elendslevel des 18. Jahrhunderts zurückfahren.“ Solche Prophezeiungen muss man als Leser erstmal verdauen und einordnen. DJ Shadow macht den Soundtrack dazu. Sein Album und der dazugehörige Titeltrack „Our Pathetic Age“ ist ein Genre-Hopping durch Abstract Hip Hop, sperrigen Soundbauklötzen, Groove, Funk, Soul und unendlich vielen Soundreisen. Wie in einer Kleingartenanlage sind diese 23 Stücke in Beeten nebeneinander angelegt, wie Radieschen, Kartoffeln, Grünkohl und Endivien-Salat. Neben diesem Querbeet-Grünfutter ist DJ Shadow ein zeitkritisches Dokument gegen den Pathos gelungen, welches den Blick glasklar nach vorn richtet und dir mit einem optimistischen Streichler auf die Schulter klopft.
OUR SURVIVAL DEPENDS ON US – Song Of The Lower Classes
Mit dem Album „Melting The Ice In The Hearts Of Men“ haben diese Herren aus dem Salzburger Land ein derbes und schwer verdauliches Brett vorgelegt. Ihr viertes Album funktioniert wie ein harter Brexit: Jedes Stück ist über zehn Minuten lang und offenbart unendlich viele Richtungswechsel. Zudem klingt hier jede Tonfolge utopisch und derbe – und niemand weiß, wie das Ganze ausgeht. Dieses schwer ausrechenbare Kollektiv hat für dieses Werk mit einem schier unendlichen Detailreichtum experimentiert. Sie jonglieren mit den Genres Doom, Krautrock, Sludge, Electronica, Folk- und Blackmetal-Einflüssen – und verarbeiten das zu einer endlos hitzigen Lava. So ist bitterböses und episches Teufelszeug entstanden. Und dieser Song funktioniert wie eine Ohrfeige in Dauerschleife, die man am liebsten abwechselnd an Tom Buhrow und Björn Höcke verteilen möchte.
DAVID HASSELHOFF – Open Your Eyes
Am 9. September 2019 veröffentlichte der Sänger und Schauspieler David Hasselhoff seine neue Single „Open Your Eyes“ mitsamt einem dazugehörigen Musikvideo. Bei dem Lied handelt es sich um ein Cover. Im Original stammt der Song von The Lords of the New Church, einer Gothic-Rock-Punk-Band aus den 1980er-Jahren. Es ist wirklich richtig gut gemacht und James Williamson (ein langjähriger Mitstreiter aus dem Iggy Pop-Inner Circle) bedient hier die Gitarre. Denn immer wenn du denkst, es geht nicht mehr – dann kommt von irgendwo ein Lichtlein her. In diesem Moment hat die Trash-Ikone eine 5.000 Wattbirne in seine Taschenlampe geschraubt. Der 67-Jährige selbst punktet mit Charme, Sympathie, Witz und einer Stimme, die weit davon entfernt ist, das Niveau-Weshalb-Warum-Gerüst runter zu reißen. The Hoff Is The Man! Ihm ist eine fleischgewordene Fusion aus Selbstironie und Ambition gelungen – auch (diese kleine abschweifende Fußnote soll erlaubt sein) wenn man doch bemerken muss, das sein sprechendes Auto einen besseren US-Präsidenten abgegeben hätte, als Donald Trump. In Arschlochjahren (und 2019 war so eins) ist Humor eine ganz wichtige Instanz, damit man die Laune nicht verliert. Dafür bekommt David Hasselhoff eine Extra-Autogrammkarte von Fips Asmussen geschenkt.
YANN TIERSEN – Tempelhof
Wie ein Weltstar sieht er nicht aus. Mit verstaubtem Parka, Hoodie und Gummistiefeln wirkt Yann Tiersen viel eher wie ein Landwirt, der gerade aus dem Stall kommt und nun sein Mittagessen mit zwei Gläsern Pastis runterspülen will. Der Bretone ist einer der wichtigsten französischen Komponisten und ganz schwer einzuordnen, weil er ständig ganz eigene und sehr individuelle Wege geht. Seit 10 Jahren ist die kleine bretonische Insel Ouessant die Heimat vom Musikschöpfer und Komponisten. Mitten im keltischen Meer liegt dieses steinerne Kleinod und etwa 650 Einwohner haben hier in alten Asterix-Steinhäusern ihr Zuhause. Es gibt auf dieser Insel einen alten Soldatenfriedhof, historische Leuchttürme, steile Küsten, Wildkräuter, sowie ein paar seltene Bienenvölker und eine leerstehende Discothek, die Tiersen zu einem Aufnahmestudio umgebaut hat. „Alles ist hier besonders, denn auf der Insel leben sehr individuelle Menschen. Und das ist das schöne für mich. Hier gibt es nichts Durchschnittliches.“ Tiersen erklärt die Bedeutung von seinem Rückzugsort: „Diese Insel ist für mich eine Miniaturwelt, denn ich finde hier beides: das unendlich Große und das unendlich Kleine.“ Ein perfekter Ort also, um kreativ zu sein. Mit viel Fleißarbeit hat Tiersen dieses ehemalige Tanzlokal zu seinem Kreativzentrum umgebaut und in ’L’Eskal’ umgetauft.
Und dort komponiert er so unfassbar schöne Kompositionen, wie diesen Song hier.