Ich habe zwei Söhne. Zwei wunderbare Söhne. Ich liebe sie – mehr als alles andere. Und durch diese Liebe mache ich mir Sorgen um sie, will dass es ihnen gut geht, möchte Gefahren von ihnen fernhalten, die sie selbst nicht von sich fernhalten können. Das macht für mich u.a. Elternsein aus, deswegen habe ich meinen Großen impfen lassen. Was ist daran falsch?
Natürlich nichts. Eltern sollten ihre Kinder lieben. Eltern sollten auch einander lieben. Liebe ist ein Gefühl – das ist so trivial wie zutreffend. Dieses Gefühl schafft Gutes. Wir Eltern denken nicht sowas wie: „Naja, der 2jährige ist schwer krank. Aber wir haben ja noch den 8jährigen. Also, was soll es, wieso in den Kleinen noch Zeit und Geld investieren? Das wäre doch irrational und nur von Gefühlen gelenkt.“ Genau das wird aber derzeit von Politikern gefordert. Weil es halt nicht um unsere Kinder geht.
Gefühle können produktiv und destruktiv sein. (Und ja, an die geschätzten Mitpsychologen: Gefühle und Emotionen sind nicht dasselbe; ich werde es aber hier trotzdem synonym benutzen. Ihr könnt mir dafür dann gerne, einen pointierten, überheblichen und gepfefferten Kommentar mit unterschwelliger Abwertung da lassen.) Wut und Hass sind destruktive Gefühle. Sie führen zu Aggressionen, zur Abwertung, zu Gewalt. Niemand findet diese Handlungen toll, weil sie wiederum Leid über Menschen bringen, und das wiederum löst Mitgefühl – ebenso ein Gefühl – aus. Das unreflektierte Ausleben von Gefühlen ist eben nicht immer gut. Es zeichnet uns Menschen aus, dass wir generell in der Lage sind, nicht jedem emotionalen Impuls nachzugeben, sondern ihn zu reflektieren.
Aber: das Gefühl ist die Ausgangsbasis. Was uns emotional nicht bewegt, löst nur selten bewusstes Handeln aus. Gefühle entstehen durch eine erste, schnelle, Bewertung einer Situation. Sie können aber auch nachhaltig sein. Wir Menschen haben insgesamt ein ausgeprägtes Gefühl davon, wenn etwas gut oder böse ist. Wir finden Vergewaltigungen immer falsch, oder die Ermordung von Kindern, selbst das Quälen von Tieren – „selbst“ deswegen, weil wir es dabei mit andere Spezies zu tun haben. Das ist keine rationale Entscheidung. Es sind Gefühle.
Oft hört man derzeit, dass wir uns mit Blick auf den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine nicht „von unseren Gefühlen leiten“ lassen dürfen. Wieso eigentlich nicht? Und wovon, wenn nicht von unseren Gefühlen? Wenn sich Menschen vor Ort einen Eindruck machen, vom Schrecken, von den Kriegsverbrechen der russischen Soldateska, dann löst das natürlich Gefühle aus: Abscheu, Ekel, Wut, Hass, Trauer, Mitleid. Man kann im Übrigen die These vertreten, dass Wut aus Trauer erwächst, aber das ist ein anderes Thema. Diese Gefühle bestehen zurecht. Es sind genau die richtigen Gefühle zu dem russischen Grauen, das über die Ukraine gebracht wird – sie sind Ausdruck von Empathiefähigkeit.
Und was sollte der grundsätzliche Maßstab von Handeln sonst sein? Hat man nicht jahrelang geglaubt, aus – vermeintlich – rationalen Einschätzungen gut zu fahren, was den Schlächter im Kreml angeht? Hat man sich nicht auch da von einem Gefühl, von Überlegenheit und Sicherheit, einlullen lassen?
Was hier nicht gesagt werden soll: gib jedem Gefühl nach. Aber es ist eben falsch, abzustreiten, dass bewußtes menschliches Handeln aus Gefühlen erwächst. Ja, diese Gefühle sind in Abwägung zu bringen, und nicht ungebremst auszuleben. Ich habe auch weder von Michael Roth, Agnes Strack-Zimmermann, von Anton Hofreiter, oder gar von Andre Melnyk, oder Wolodymyr Selenskyj eine rein emotional bedingte Forderung, wie die Bombardierung von Moskau, aus Wut und Vergeltung, gehört.
Was ich aber gehört habe ist eine generelle Abwertung emotionaler Zustände. Vielleicht ist es eine typisch deutsche Eigenart: die Überzeugung, dass das beste Handeln kalt sei. Dass Abwägungen und Entscheidungen am besten sind, wenn sie unabhängig menschlicher Gefühle gefällt werden. Wenn man mit ihnen, unabhängig persönlicher Gefühle, einem höheren Ziel zuarbeitet. Diese Haltung hat viel Leid über Menschen durch deutsche Hand gebracht, und es führt derzeit Leid weiter.
Aber: diese Abwertung von Gefühlen fällt eben auf fruchtbaren Boden in diesem Land. Es hilft dabei, Menschen wie Melnyk nicht ernst nehmen zu müssen – wie kann er nur etwas fühlen, was die Ukrainerinnen, die Ukrainer, die ukrainischen Kinder angeht? Gerade als Diplomat sollte er sich davon lösen können!
„Gefühle“ und „Denkfähigkeit“ werden dann gegeneinander ausgespielt, so als wären dies unvereinbare Gegensätze. Wir sollten uns nicht in dieses Narrativ drängen lassen.
Ich liebe es, frei zu sein. Auch das ist ein Gefühl. Objektiv, rein rational, kann eine Diktatur Vorzüge haben. Entscheidungswege können schneller sein – wir haben das bei China und den Corona-Maßnahmen erlebt. Und? Wieso wollen wir dann nicht alle wie Chinesen leben? Weil es sich eben falsch anfühlt. Weil wir Unterdrückung, weil wir staatliche Willkür, weil wir die Einschränkung persönlicher Freiheit, die nicht demokratisch ausgehandelt wird, falsch finden. Weil sich das falsch anfühlt. Weil wir fühlen, dass die Würde eines jeden einzelnen Menschen unantastbar ist.
Nochmal: das ungebremste Ausleben von Emotionen ist letztlich schädigend, für den Einzelnen, für die Gruppe, vielleicht manchmal sogar für die gesamte Welt. Das Versagen, die pauschale Abwertung von Gefühlen ist aber vor allem eines: un-menschlich. Und genauso wirken (und sind?) dann diejenigen, die eben dies fordern: frei von Gefühlen zu entscheiden.