„Wir gehen bis an die Grenze“ – Kurden auf der Straße für Kobane

IMG_20141007_124801Am Montagabend war es soweit, der „Islamische Staat“ (IS) drang in die syrisch-kurdische Stadt Kobane ein. Nach dreiwöchiger Belagerung durch die IS-Kämpfer können die kurdischen Verteidigungskräfte dem Druck der Islamisten nicht mehr standhalten. Auch für tausende Kurden in Deutschland beginnt damit der Horror. Verwandte und Freunde leben in Kobane oder haben sich den kurdischen Verteidigungskräften angeschlossen. Schon in den letzten Wochen waren deutschlandweit immer wieder Kurden auf die Straße gegangen, um auf die drohende Katastrophe in Kobane aufmerksam zu machen. Doch die Forderungen nach mehr Unterstützung verhallten ohne Konsequenzen. Eine Reportage über kurdische Aktivisten, die im Ruhrgebiet für Kobane demonstrieren.

Seit dem späten Montagabend sind die Kurden in Deutschland ohne Pause in Aktion. Bahnhofsbesetzungen, Demonstrationen und andere Aktionen in beinahe jeder deutschen Großstadt. Harun gehört zu den deutschen Kurden, die die Aktionen planen und durchführen. Er ist 35 Jahre alt und politisch aktiv, „seit ich denken kann“. Mitte der 1980er Jahre kam Harun mit seinen Eltern nach Deutschland. Im Alter von zwölf Jahren wurde er das erste Mal bei einer Demonstration festgenommen, er trug das Symbol einer PKK-nahen Organisation. Am Montagnachmittag saß Harun am Schreibtisch, um 15 Uhr verschickte er eine Erklärung zu einer Besetzung der CDU-Geschäftsstelle in Dortmund. Junge Kurden, aus der Studentenorganisation YXK (Verband der Studierenden aus Kurdistan e.V.), betraten das Gebäude der Partei, setzten sich im Foyer auf den Boden und forderten ein Gespräch mit dem Dortmunder Bundestagsabgeordneten. Dieser war nicht zu sprechen, immerhin nahm sich das Ratsmitglied Sascha Merz Zeit für die kurdischen Aktivisten. Nach einer Stunde war die Aktion beendet. Harun, der in seiner Studentenzeit bei YXK aktiv war, hilft dort nur noch ab und zu aus, wenn es wie am Montag um die Pressearbeit geht zum Beispiel.

IMG_20141006_234122Am Montagabend erreichte die Weltöffentlichkeit die Nachricht, dass die IS-Milizen nach Kobane eingedrungen sind. Die kurdischen Aktivisten hatten sich auf diesen „Tag X“ vorbereitet. In Dortmund treffen sie sich gegen 22 Uhr an der Reinoldikirche, einem zentralen Platz in der Innenstadt. Auch Harun ist wieder dabei. Die Menschen stehen in kleinen Gruppen zusammen, einige haben Angehörige in Kobane, ihnen ist das Entsetzen in die Gesichter geschrieben. Nach einer halben Stunde brechen die Kurden auf, in einer lauten Demonstration ziehen sie in den Hauptbahnhof. Dort halten sie eine Kundgebung in der Eingangshalle ab. Immer wieder hallen deutsche und kurdische Parolen durch den Bahnhof. Der EU wird vorgeworfen, beim Massaker in Kobane zuzusehen, die Türkei wird als Unterstützer des „Islamischen Staates“ gegeißelt. Die Polizei ist über die spontane Demonstration überrascht und lässt die Menschen gewähren. Harun sagt, „Wir werden heute die ganze Nacht demonstrieren!“. Die ganze Nacht demonstrieren die Kurden dann aber nicht, um 0 Uhr ist Schluss. „Manche von uns fahren jetzt noch nach Köln, und morgen früh demonstrieren wir in Düsseldorf.“, sagt Harun zum Abschied.

IMG_20141007_105912Der Dienstag ist ein kalter, regnerischer Tag in Düsseldorf. Hinter dem Hauptbahnhof befindet sich der Bertha-von-Suttner-Platz. Wie ein Platz sieht dieser jedoch nicht aus. Hohe Bürogebäude, an deren Rändern es nur schmale Durchgänge gibt, lassen den Platz eher wie einen Innenhof erscheinen. Die Deutsche Bahn hat hier ihre Zentrale für Nordrhein-Westfalen, und das Generalkonsulat der USA liegt am Platz. Vor diesem wollen die Kurden am Morgen demonstrieren. Um 10 Uhr sind weniger als 20 Aktivisten vor Ort. Die Stimmung ist wie das Wetter, eher gedrückt. Nach und nach versammeln sich allerdings immer mehr Demonstranten an der Botschaft. Die selben Parolen wie am Vorabend werden gerufen, nur diesmal mit einem Schuss mehr Kritik an den USA. Harun erklärt, dass man dem amerikanischen Generalkonsul gerne ein Protestschreiben überbringen möchte. Dies scheint nicht möglich, am Ende wird das Schreiben in den Briefkasten der Amerikaner geworfen. In Düsseldorf ist die Polizei nicht so unvorbereitet wie in Dortmund am Vorabend. Deswegen ist es auch kein Problem, als die Kurden eine Demonstration zum nordrhein-westfälischen Landtag anmelden. Ein Polizist erklärt, als sich eine Passantin über die Demonstration aufregt, dass er das Anliegen der Demonstranten gut verstehen könne und auch gegen den „Islamischen Staat“ sei, dies aber nur seine private Meinung sei. Die Demonstration der Kurden zieht auf ihrem Weg zum Landtag auch an den Räumen eines nationalistischen Vereins aus der Türkei vorbei, ein Ort der Potential für Ausschreitungen bietet. Doch bis auf einige Buh-Rufe passiert an dieser Stelle nichts. Die Ordner der Demonstration, zu denen auch Harun gehört, achten sehr genau darauf, „dass sich niemand daneben benimmt“. „Wir können es nicht gebrauchen, wenn von Krawallen auf unseren Veranstaltungen berichtet wird.“, erklärt Harun.

IMG_20141007_132225Am Landtag angekommen stehen die mit Sicherheit 1000 Demonstranten ganz brav außerhalb der mit Absperrband markierten Bannmeile. Verantwortliche aus der Landesregierung sind nicht zu sprechen, es ist sitzungsfreie Zeit. Lediglich die Piratenabgeordneten Simone Brand und Frank Hermann kommen aus dem Landtag und sprechen mit den Protestierenden. Doch auch ihre Versuche, zumindest die Landtagspräsidentin oder ihre Stellvertreter zu erreichen, scheitern. Harun und seine Dortmunder Freunde Azad und Dilar stehen etwas abseits und unterhalten sich. Azad ist etwa so alt wie Harun und war erst vor wenigen Wochen mit einer Delegation in den kurdischen Gebieten. Dilar ist eine junge Frau Anfang Zwanzig, sie trägt eine gelbe Fahne mit dem Portrait Abdullah Öcalans. Die drei witzeln miteinander, als es Dilar zu bunt wird, schlägt sie im Spaß mit ihrer Fahne auf Azad ein. Ihr Kommentar dazu: „Du kriegst Schläge von Öcalan!“ Die Demonstranten halten gemeinsam noch eine Schweigeminute und singen ein kurdisches Partisanenlied, dann ist die Veranstaltung am Landtag beendet.

Harun, Azad, Dilar und zwei weitere Kurden machen sich gemeinsam auf den Weg zurück nach Dortmund. In einem Imbiss am Düsseldorfer Hauptbahnhof legen sie einen Zwischenstopp ein. Die fünf jungen Aktivisten scherzen und lachen. Als Dilar etwas Freches sagt, erklärt Harun, dass er sobald Kurdistan frei ist, gegen Öcalan sei, da der den Frauen zu viele Rechte gewährt habe und dies nicht den Traditionen entspreche. Alle lachen daraufhin. Der Führerkult, der PKK-nahen Kurden immer wieder vorgeworfen wird, scheint von den jungen Kurden mit einiger Ironie betrachtet zu werden.

IMG_20141007_184125In Dortmund zurück geht es in den Deutsch-Kurdischen Kulturverein. Dort herrscht eine gespenstische Atmosphäre. In Varto, einer überwiegend von Kurden bewohnten Stadt in der türkischen Provinz Muş, ist bei einer Demonstration ein junger Mann erschossen worden. Der erschossene Hakan Buksur hatte Verwandtschaft in Dortmund. Onkel, Tante, Cousins und eine Schwester leben in der Westfalenmetropole. Jeder, der in den großen Versammlungsraum kommt, kondoliert erst einmal den Angehörigen des Toten. Viele der Männer im Raum kämpfen mit den Tränen. Aus dem Raum der Frauen, ein Stockwerk höher, dringt das Partisanenlied, doch jetzt hat es einen ganz anderen, tief verzweifelten Klang. Die Dortmunder Kurden kannten Hakan Buksur von gegenseitigen Besuchen. Trotz aller Trauer, oder vielleicht auch gerade deswegen, gehen die kurdischen Aktivisten am Abend wieder auf die Straße, 700 sind gekommen.(Video) Am Ende ist Harun erschöpft, „Das war ein langer Tag, aber wir müssen weiter auf Kobane aufmerksam machen.“

In Hamburg kommt es in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch zu Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Islamisten. Harun befürchtet, dass so etwas auch in Dortmund passieren kann. „Wenn sich die Lage in Kobane zuspitzt, und hier Salafisten provozieren, dann können wir unsere Leute irgendwann nicht mehr zurück halten.“ Erstmal bleiben die Kurden aber bei anderen Aktionen. Am Mittwochabend besetzen rund 70 von ihnen ein Gleis auf dem Dortmunder Hauptbahnhof. Die Polizei duldet die Aktion für knapp eine Stunde, dann verlassen die Kurden das Gleis. Harun zeigt sich zufrieden, „Wir gehen bis an die Grenze. Nur wenn wir spektakuläre Aktionen machen, erreichen wir die deutsche Öffentlichkeit mit unserem Anliegen.“

Harun war jetzt tagelang für Kobane auf der Straße, hat Erklärungen geschrieben und Aktionen organisiert. Und die Arbeit? „Mein Chef hat mir frei gegeben, der weiß, dass ich mich im Moment nicht konzentrieren könnte.“ Auch in den nächsten Tagen steht für Harun und seine Freunde noch einiges an. Heute werden sie gemeinsam mit zehntausende Kurden eine Großdemonstration in Düsseldorf veranstalten.

Teile der Reportage erschienen am Freitag auf der Seite 3 des Tagesspiegel.

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